„WER EINMAL DRIN WAR, IST DRAUSSEN GESTORBEN“
Der katholische Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen, verhieß ihnen göttliche Gnade: "Der Herrgott gibt einem jeden Menschen immer wieder die Chance eines neuen Anfangs."
Der niedersächsische Ministerpräsident Alfred Kubel (SPD) versprach ihnen staatlichen Beistand: Hilfe, damit sie "als vollwertige Mitglieder in unsere Gesellschaft zurückkehren" können.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sicherte ihnen "grundsätzlich Schutz gegen erneute Verfolgung" zu.
Das Bischofswort half dem Buchbinder Alfons Knötzele*, 26, gar nichts. Nachdem er 24 Monate Haft in der hessischen Strafanstalt Butzbach verbüßt und sein neuer Arbeitgeber, eine graphische Anstalt in Stuttgart, kurze Zeit später von seiner Vorstrafe erfahren hatte, war die Chance eines neuen Anfangs dahin. Knötzele: "Da konnte ich gleich meine Papiere holen."
Staatlichen Beistand suchte der Elektriker Walter Heimann, 43, vergebens. Nachdem sich für ihn an einem Sonntagmorgen, nach achtwöchiger Haft, die Stahltür der niedersächsischen Strafanstalt Celle geöffnet hatte, verhielten sich die Behörden seines Heimatdorfes so: "Man wies mir und meiner Familie eine Baracke mitten im Wald zu; ohne Licht, ohne Heizung.
* Namen von Vorbestraften in diesem Report wurden von der Redaktion geändert.
Das Wasser mußte ich mir aus einem Forellenteich holen."
Höchstrichterliche Garantien schützten den Maschinenschlosser Erwin Wohlers, 31, nicht vor gesellschaftlichen Verfolgungen. Nachdem er im vergangenen Monat nach vierjähriger Haft aus der nordrhein-westfälischen Strafanstalt Werl entlassen worden war, erklärte ihm ein Sachbearbeiter des Arbeitsamtes: "Bei Adolf hätte man dich an die Wand gestellt."
Der Maschinenschlosser Wohlers ist, noch, draußen. Der Elektriker Heimann und der Buchbinder Knötzele sind längst wieder dort, woher sie kamen: im Gefängnis. Heimann hat ein Portemonnaie gestohlen ("Weil ich bei dem ganzen Schlamassel doch meine Familie ernähren mußte"), Knötzele einen Scheck gefälscht ("Weil ich doch irgendwie meine Miete bezahlen mußte"). Beide beteuern: "Bei einer echten Chance wäre das nicht passiert."
Es passiert -- trotz Bischofswort' trotz Politikerspruch, trotz Richterpostulat -- immer wieder; denn Chancen gibt es für solche Vorbestraften selten in der Bundesrepublik. Daß laut Grundgesetz niemand wegen derselben Tat "mehrmals bestraft" werden darf, schützt den Vorbestraften vor erneutem juristischen Zugriff in derselben Sache. Doch die drakonischen Nebenfolgen des Freiheitsentzugs' die im rechtstechnischen Sinne nicht als Bestrafung gelten, sind häufig schlimmer als Gefängnis. Das Ende der strafrechtlichen ist der Anfang der sozialen Bestrafung.
Von keinem Außenseiter meint die Bürgerschaft besser zu wissen, was von ihm zu halten sei, als vom Vorbestraften: Sein Fehlverhalten ist gerichtsnotorisch' das Maß seiner Schuld läßt sich ablesen an der Höhe der Geldstrafe, die er zahlen, an den Monaten und Jahren, die er hinter Gittern verbringen mußte.
Die Gesellschaft hängt, wie der Mainzer Kriminologe Armand Mergen diagnostizierte, "an der Strafe wie der Neurotiker an der Krankheit", weil die Verdammung "noch immer eine Möglichkeit des Abreagierens darstellt". Und Hans Magnus Enzensberger schreibt: "Für den einzelnen ist jede Verurteilung eines anderen, und der Verbrecher wird stets als der schlechthin andere betrachtet, ein Freispruch" -- nach .der simplen Logik: Wer schuldig ist, wird bestraft; also ist unschuldig, wer nicht bestraft worden ist.
So gerechnet, hat bereits jeder siebte erwachsene Bundesbürger seine Unschuld verloren: In den staatsanwaltschaftlichen Registern sind gegenwärtig sechs Millionen Vorbestrafte (einschließlich gerichtlich abgeurteilter Straßenverkehrstäter) verzeichnet. Jahr für Jahr werden, laut Kriminalstatistik, rund 2,2 Millionen Straftaten (ohne Straßenverkehrsdelikte) bekannt und knapp eine Million Täter ermittelt.
Mehr als ein Fünftel der strafmündigen Bevölkerung wird, so errechnete der Kieler Rechtsprofessor Joachim Hellmer, innerhalb eines Jahrzehnts straffällig. Zwar enthält diese Rechnung auch die Wiederholungstäter, doch wird das durch eine astronomische Dunkelziffer aufgewogen. Hellmers Kalkulation: Von 1000 Straftaten erfaßt die Kripo "schätzungsweise 200", davon werden 100 aufgeklärt und in nur 25 Prozent der Fälle die Täter verurteilt -- rund eine halbe Million erwachsener Bürger pro Jahr; mehr als 300 000 zu Geldstrafen und etwa 200 000 zu Freiheitsentzug.
Davon dürfen sich 65 000 Verurteilte noch einmal in Freiheit bewähren. Die anderen 135 000 schließlich werden von Staatswegen verwahrt: in den 300 bundesdeutschen Strafanstalten -- ehemaligen "Toll- und Werkhäusern", erbaut 1710 wie in Celle, oder klimatisierten Betonblocks, erbaut 1962 wie in Hannover. "Wer einmal in so "ne Kiste drin war", sagt der Celler Häftling Georg Petermann, viermal vorbestraft wegen Einbruchs, "ist draußen gestorben."
Vor allem aus dieser Gruppe der am Gesetz Gestrauchelten sucht sich die Gesellschaft ihre Sündenböcke heraus -als ein, so der Sozialpsychologe Professor Alexander Mitscherlich, "für die innere Ökonomie der Mehrheit außerordentlich wichtiges Haßobjekt".
Um guten Gewissens hassen zu können, mißt die Mehrheit mit zweierlei Maß: Was vielen jederzeit selber passieren könnte (ein Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluß), was viele jederzeit selber gern täten (den Zoll oder das Finanzamt beschubsen), gilt als Kavaliersdelikt -- auch wenn es beim Unfall Tote gab und beim Steuer-Betrug der Fiskus um Millionen geprellt wurde.
Wer allerdings gegen das Siebte Gebot der Bibel ("Du sollst nicht stehlen") verstößt und trotz Warnung des Doctor Martinus Luther seines "Nächsten Geld oder Gut" nimmt oder es "mit falscher Ware oder Handel" an sich bringt, der ist auch heute noch "ziemlich am Arsch der Gesellschaft" -- so der fünfmal wegen Eigentumsdelikten vorbestrafte Maurer Emil Eggers, 42, aus Duisburg: "Ich hab' eben hier und da mal lange Finger gemacht,"
Für den Staat freilich sind sie nach Abstrafung alle gleich: der trunkene Autofahrer ebenso wie der Langfinger, der Schnaps-Schmuggler ebenso wie der Scheckfälscher' der Betrugs-Bankrotteur ebenso wie der Bankräuber. Deutschlands Rechtsordnung, der eigenen Straftheorie nicht eben sicher, hält sie alle im Netz der Strafregister weiter gefangen und brandmarkt sie -- von Schreibern der Staatsanwaltschaften säuberlich in Karteien katalogisiert -- als Vorbestrafte.
Für sie alle gilt, was deutschen Kindern von deutschen Vätern eingebleut wird: daß man dem nicht glaubt, der einmal gelogen, und dem nicht traut, der einmal betrogen hat. Der Staat macht mit seinem Mißtrauen gegenüber vorbestraften Bürgern kei-
* Oben: der Nürnberger Großkaufmann Hannsheinz Porst bei seiner Entlassung aus der Strafanstalt Landsberg am 31. Oktober; unten: Übernachtungsasyl der Inneren Mission.
ne Ausnahme. In einer langen Liste hält er zahlreiche Diskriminierungen für diejenigen parat, die Schuld durch Strafe bereits gesühnt wähnten: > Drei, fünf oder zehn Jahre lang erscheint die Vorstrafe im polizeilichen Führungszeugnis und wird damit jedem zugänglich, der aus einer Machtposition heraus die Vorlage dieses Dokuments verlangen kann: Arbeitgeber bei der Einstellung, Hochschulen vor der Immatrikulation, Handwerkskammern vor Meisterprüfungen und Konsulate vor der Auswanderung.
* Gewerbe-Genehmigungen dürfen wegen etwaiger Vorstrafen versagt werden -- so bei der Aufstellung von Spielautomaten, beim Betrieb einer Pfandleihe, im Bewachungs- und Versteigerungsgewerbe oder bei der Ausstellung einer Reisegewerbekarte.
* Führerscheine können von den Straßenverkehrsämtern nach einem Blick Ins Strafregister verweigert werden mit der Begründung, der Antragsteller sei "charakterlich ungeeignet, ein Kfz im Straßenverkehr zu führen".
* Beamten-Ernennungen können zurückgenommen oder versagt werden, wenn der Aspirant "ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das ihn der Berufung in das Beamtenverhältnis unwürdig erscheinen läßt". Wird ein aktiver Beamter "zu Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr" oder wegen politischer Delikte "zu Freiheitsstrafe von mindestens sechs Moneten" verurteilt, muß er sofort aus dem Dienst scheiden. Ein Pensionär verliert bei Strafen von mindestens zwei Jahren seine Versorgungsrechte.
* Die Erteilung eines Jagd- oder Angeischeines kann bei etwaigen Vorstrafen des Antragstellers verweigert werden.
Die formale Gleichheit aller Vorbestraften, die dieser Katalog staatlichen Boykotts und gesellschaftlicher Diskriminierung suggerieren könnte, erweist sich aus kritischem Blickwinkel freilich als ebenso fragwürdige These wie die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Hier wie dort gilt, daß der ökonomisch Abgesicherte allemal im Vorteil ist gegenüber dem sozial Schwachen: Kann sich jener einen renommierten Anwalt halten und gegebenenfalls Gutachter besolden, ist der Schwache meist auf einen Pflichtverteidiger angewiesen; kehrt jener nach der Haft in sein Eigenheim zurück, so findet der Schwache seine Familie nicht selten im Obdachlosen-Asyl wieder.
Für den wirtschaftlich Abgesicherten muß die Haftstrafe, so beklemmend er den Sturz vom Podest bürgerlicher Wohlanständigkeit empfinden mag, nicht zwangsläufig zu sozialem Prestigeverlust auf Dauer führen. Er kann auf die Bereitschaft der Gesellschaft rechnen, seine Tat als einmaligen Patzer zu entschuldigen -- oder einfach zu vergessen.
Für den Schwachen hingegen, für denjenigen, der eh kaum tiefer fallen kann, sind Verurteilung, Gefängnis, Entlassung existenzkritische Größen. Er, von dem kaum anderes erwartet wird, kann von der Umwelt kaum Nachsicht erwarten. Seine Tat bestätigt die bessere Gesellschaft in ihrem selbstgerechten Sozialdarwinismus, daß Kriminelles angeboren und soziale Schwäche ein Indiz für Charakterschwäche sei.
Und so sind es vor allem die Unterprivilegierten, die, von der Sozietät pauschal als minderwertig denunziert und isoliert, in bundesdeutschen Strafanstalten einsitzen. 60 bis 70 Prozent aller Häftlinge haben ihre Jugend in Fürsorge- und Erziehungsheimen verbracht. Sie stammen aus nichtintakten Familien, wuchsen auf in den Slums und Elendsquartieren der großen Städte. In den Schulen saßen sie zumeist dort, wo der vor Tierliebe strotzende deutsche Sprachschatz "Eselsbänke" birgt.
Rund die Hälfte der Insassen etwa im Strafgefängnis Hannover hatte -- so das Ergebnis einer anstaltsinternen Umfrage -- weder Volksschule noch Lehre abgeschlossen. Daß die Kriminalität "bei den ungelernten Jugendlichen fünfmal größer ist als bei den Lehrlingen", wie der Wiesbadener Kriminalpsychologe Dr. Gustav Nass schreibt, kümmert freilich eine auf den Markt eingeschworene Gesellschaft wenig, die schon bei Kindern Konsumentenbewußtsein züchtet und den Heranwachsenden mit dem Widerspruch zwischen eigener Leistungsfähigkeit und eingetrichterten Bedürfnissen belastet.
Selbst Einsicht in soziale und psychische Ursachen der Kriminalität vermag abweisendes Verhalten gegenüber einem Vorbestraften häufig nicht abzubauen. Das Rechtfertigungsargument lautet, daß man sich vor "diesen Menschen", den kriminell Gewordenen, nun einmal schützen müsse.
Nur: Der in der Tat erforderliche Schutz der Gesellschaft schließt Hilfe für den Täter nicht aus. Von einer défense sociale, die beide Komponenten einschließt, ist die Bundesrepublik, die ihre ehemaligen Sträflinge in der Asozialität ansiedelt, freilich weit entfernt.
Die Täter haben nicht nur kaum eine Chance, resozialisiert zu werden; sie laufen -- schlimmer -- fast stets das Risiko, wieder straffällig zu werden. Zumindest den Unterprivilegierten gelingt es kaum, dem Kreislauf von Haft, Straftat und erneuter Verurteilung zu entrinnen. Denn der herkömmliche Strafvollzug in Deutschland, so erkannte der Göttinger Strafrechtler Horst Schüler-Springorum, schafft "die Minderung ohnehin schon geminderter Persönlichkeiten" und wirkt damit "dem Vollzugsziel im Zweifel genau entgegen".
Als "doppelt fatal" empfindet der Professor, daß sich auch auf diese Weise das herkömmliche Verständnis "vom Gefängnis als Schule des Verbrechens" bewahrheitet: Der Gefangene "lebt nicht, er wird gelebt", Minuten und Stunden sind "uninteressant geworden; allenfalls Tage zählen noch, Monate oder Jahre", die Sprache "rostet ein", was "an Verstand da war, läuft leer, was an Gefühl da war, pervertiert".
Jürgen Rambert, 42, dreimal wegen Betrugs und Diebstahls vorbestraft, mittlerweile in Sicherungsverwahrung (Celle), formuliert das so: "Hier wird man systematisch zur Untüchtigkeit erzogen. Man fühlt sich ständig erniedrigt. Das ist wie bei einem Dampfkessel. Wenn man rauskommt, platzt einem der Kragen. Und seelisch kommt hier keiner mehr so raus, wie er reinkommt. Und wenn man doch rauskommt, sind die meisten so weit entmündigt worden, daß sie bei Rot über die Kreuzung laufen. Und für das hektische Wirtschaftsleben ist man völlig untauglich."
Haft bedeutet, wie der Verwaltungsoberrat Paul Wollek vom Landesarbeitsamt Düsseldorf bestätigt, "Stillstand der beruflichen Entwicklung, Lahmlegen der berufsspezifischen körperlichen Gewandtheit, der Handgeschicklichkeit' der Fingerfertigkeit' des berufsbezogenen Denkens und Wissens".
Gleichwohl erwartet der Staat von den Delinquenten immer noch, daß sie mit ein paar Mark in der Tasche, ohne Arbeitsplatz und Unterkunft am Entlassungstag, verfemt von der Umwelt und oft auch von der eigenen Familie, impotent (nicht nur in sexueller Hinsicht), allein den Weg ins sogenannte ordentliche Leben zurückfinden.
Vom Entlassungsgeld kann sich der Vorbestrafte meist noch nicht mal ein Zimmer mieten. Denn der Tageslohn in Deutschlands Strafanstalten bewegt sich von 60 Pfennig Anfangstarif bis zum Spitzenverdienst von zwei Mark. Wer eine Hausordnungsstrafe erhält, wird zurückgestuft. Folglich sind Entlassungsbeträge von weniger als 50 Mark keine Seltenheit.
In der "Gefangenen-Zeitung", die im September erstmals erschien, macht die Schilderung eines Haftentlassenen deutlich, wie die soziale Deklassierung auf diese Weise verfestigt wird. Nach sechsmonatiger Untersuchungshaft wurde er an einem Freitag mit 23 Mark Arbeitslohn entlassen. Bei der polizeilichen Anmeldung hieß es: "Anmelden können Sie sich nur, wenn Sie eine Wohnung haben", beim Sozialamt: "Unterstützung können Sie nur bekommen, wenn Sie angemeldet sind!"
Mit 23 Mark ging er auf Wohnungssuche. Nach einer Nacht bei Privatleuten und einem Wochenende auf der Parkbank mietete er montags ein Zimmer. Da er nicht zahlen konnte, wurde er wegen Einmietebetruges erneut verhaftet. Nach drei Tagen wieder frei, stand er -- diesmal mit zehn Mark -- auf der Straße.
"Mit dem Tag der Entlassung", resümierte der ehemalige Berliner Gefängnis-Oberfürsorger Heinz Kraschutzki nach jahrzehntelangem Umgang mit Häftlingen, "beginnt der schlimmste Teil der Strafe." Georg Gauger, 36, aus Dortmund, viermal wegen Diebstahls vorbestraft, seit 1968 Häftling in der hessischen Strafanstalt Butzbach, präzisiert aus eigener Erfahrung: "Kaum bist du raus hier, da bekommst du auch schon wieder was vor die Fresse."
Bei dem Maschinenschlosser Erwin Wohlers ging es nach der Entlassung aus der Strafanstalt Werl Schlag auf Schlag. Der Mann vom Arbeitsamt, der dem Vorbestraften gleich mit Adolf kam, war der erste: "Was haste denn gemacht? Ich kenne viele von euch Ganoven aus Werl."
Ein Zimmer hatte Anstaltsfürsorger Manfred Spital nicht besorgen können, "das ist für unsere Leute eben besonders schwer". Also zog Wohlers erst mal in eine Pension. Weil er somit keinen festen Wohnsitz nachweisen konnte, verweigerte ihm das Arbeitsamt zunächst eine Überbrückungshilfe und schickte ihn zum Sozialamt.
Die Fürsorge wiederum erklärte sich für nicht zuständig, weil Wohlers -- auf Vermittlung der Anstalt -- bereits Arbeit hatte. Aber auch die hatte er nicht lange.
Wohlers war kaum im Dienst und hatte gerade seinen Einstand gegeben, als ein Sachbearbeiter des Landgerichts, das ihn einst verurteilt und jetzt auf Bewährung entlassen hatte, "durch die ganze Firma telephonierte, um den Namen des für Wohlers zuständigen Bewährungshelfers zu erfahrene' (Spital).
War bis zu diesem Zeitpunkt nur der Firmenchef über die Vorstrafe informiert, so wußte es nun bald jeder im Betrieb. Wohlers zu seinem Fürsorger: "Alle standen in Gruppen herum, zeigten auf mich, tuschelten, und ich hörte das Wort "Zuchthäusler'. Da bin ich abgehauen."
Anstaltsfürsorger Spital: "Der Mann hat sich dann erst mal besoffen, um über den Schock hinwegzukommen. Heute ist er woanders beschäftigt, aber wer weiß, wie lange das gutgeht."
Meistens geht es nicht lange gut. "Es hat keinen Zweck", erkannte das Arbeitsamt in Pirmasens, "jemanden mit zehn Mark in der Tasche zu entlassen und sich dann zu wundern, wenn er wieder straffällig wird." Und rückfällig werden viele: Von 48 501 bundesrepublikanischen Häftlingen (Stichtag: 31. März 1968) hatten 36 002 -- rund 74 Prozent -- schon Erfahrungen mit dem Leben hinter Gittern. Als vorbestraft galten 39 515 Häftlinge -- 81,5 Prozent.
Auch die alte Erfahrung, "daß, je öfter ein Mensch durch den Freiheitsentzug hindurchgegangen war, sein Wiedererscheinen vor dem Strafrichter um so wahrscheinlicher sei", so der Strafrechtler Eberhard Schmidt, läßt sich mit Zahlen belegen: Von den Vorbestraften, die am 31. März 1968 hinter Gittern saßen, hatten vor ihrer letzten Verurteilung knapp 39 Prozent zwei- bis viermal und gut 41 Prozent fünfmal und öfter vor dem Strafrichter gestanden.
Obwohl deutsche Spruchweisheiten einräumen, daß Gelegenheit Diebe mache, und ermuntern, daß ein Weg sei, wo wenigstens ein Wille ist, laufen deutsche Vorbestrafte, trotz bestem Willen, häufig in soziale Sackgassen: bei der Arbeitssuche wie am Arbeitsplatz, auf dem Wohnungsmarkt wie in Amtsstuben -- im gesamten öffentlichen wie im privaten Bereich.
Mit der Suche nach Arbeit beginnt für den Vorbestraften in der Regel der erste Tag nach der Entlassung. Manchmal hilft die Anstalt, manchmal das Arbeitsamt, manchmal der Bewährungshelfer. Doch nach der Vermittlung hilft meist niemand mehr, und so werden immer wieder Haftentlassene abgelehnt, gekündigt oder zur Kündigung genötigt,
* weil sie ihre Vorstrafen verschwiegen hatten -- wie Jochen Bulcke, 31, sechsmal wegen Diebstahls und Betrugs vorbestraft, den ein Einrichtungshaus in Saarbrücken aus seiner Position als Kundenberater entließ, nachdem ihn Kunden erkannt und denunziert hatten (Bulcke: "Dummerweise mußte ich ausgerechnet In meiner Heimatgegend verkaufen");
* weil sie ihre Vorstrafen gleich angegeben hatten -- wie Fritz Bosse, 48, zweimal wegen Diebstahls vorbestraft, der bei den Eisenwerken im niedersächsischen Alfeld als Schweißer anfangen sollte (Bosse: "Aber als die hörten, wo ich herkam, konnte ich gleich umkehren");
* weil sie von ihren Kollegen nicht akzeptiert wurden -- wie Hermann Zullinger, 40, viermal wegen Betrugs vorbestraft, der, als Industrieanstreicher in Bochum untergekommen, von seinem Vorarbeiter ("Na, woll inne Kiste gewesen?") entlarvt wurde (Zullinger: "Von da an merkte ich die Blicke und mußte die dreckigsten Arbeiten machen -- bis ich von selbst kündigte'):
* weil sie selbst Betriebsräten suspekt waren -- wie Eberhard Brück, 44, dreimal wegen Diebstahls vorbestraft, der als Lehrschweißer "eine ganz tolle Position" bei Opel in Bochum hatte, "bis mich ein Bekannter anschwärzte" ("Mein Chef wollte mich behalten, aber der Betriebsrat legte sich quer");
* weil sie der Arbeitsbelastung nicht gewachsen waren -- wie Ernst Melitz, 41, neunmal wegen Eigentumsdelikten vorbestraft, der sich als Säckeschlepper in einer badischen Mühle verdingte (Melitz: "Als ich sah, daß ich mich dabei kaputtmache, habe ich den Bettel hingeschmissen").
"Unsereiner", so Melitz über seinen damaligen Entschluß, "möchte draußen ja auch zufrieden sein mit seiner Arbeit und nicht jeden Dreck machen müssen." Der Uelzener Bewährungshelfer Arnold Tornow sieht es ähnlich: "Für die Dreckarbeit kriegen die Unternehmer ja kaum noch wen anders, aber bei der nächsten Rezession liegen meine Probanden als erste auf der Straße."
In der Hochkonjunktur freilich sind deutsche Unternehmer ohne Umschweife bereit, trotz Zimmermanns "XY"-Panikmache und Boenischs "Bild"-Verbrecherjagden jene vor Schraubstöcke zu stellen und hinter Schreibtische zu setzen, die landläufig als Spitzbuben und Schlagetots, Unholde und Ungeheuer, Schurken und Schulte verteufelt werden.
Und so werben manche Unternehmer direkt vor Ort: in den Anzeigenspalten der Gefängniszeitungen. In einer einzigen Ausgabe des hannoverschen Häftlingsblattes "Der Weg" suchten 22 Firmen, darunter Coca-Cola, das Salzgitter Hüttenwerk und Brown Bovert, Schweißer und Schlosser, Zimmerer und Maurer, Bodenleger und Hilfsarbeiter frisch aus der Haft.
In Landsbergs Gefangenen-Postille "Wir' bot "eine Firma im nordbayrischen Raum" Posten für Verkäufer, versprach die Nürnberger Druckerei Maul + Co. (Mitinhaber: der Landsberger Ex-Häftling Hannsheinz Porst) Entlassenen einen Vorschuß von 400 Mark. In pfälzischen Tageszeitungen inserierte Entlassenen-Helfer Karl Schüler "unter offener Flagge" ("Wer beschäftigt Vorbestrafte?") und registrierte: "Das Echo bei der Industrie war gut."
Weniger gut ist das Echo beim Arbeitgeber Staat. Während private Arbeitgeber, durch Auftragsdruck und Arbeitskräftemangel ständig in Terminnöten, Vorurteile -- zumindest vorübergehend -- hintanstellen, gibt sich der nicht minder unter Personaldefizit leidende öffentliche Dienst "nach wie vor besonders elitär" (so Ministerialrat Hubert Dietl, stellvertretender Leiter des Strafvollzugs in Bayern).
Der Freistaat Bayern reicht Vorbestraften in der Tat nur selten die öffentliche Hand. Zwar will der Personalrat etwa der Stadt München "den Vorbestraften eine Chance geben' (Pressesprecherin Hannelore Fiedler), mag jedoch auf "ein gewisses Maß an Vertrauenswürdigkeit" nicht verzichten. Als vertrauenswürdig, so eruierte Dietl, empfand das Land Bayern bisher aber nur drei Vorbestrafte, die bei öffentlichen Einrichtungen als Gärtner, Kraftfahrer und Redaktionsvolontär tätig sein dürfen.
Auch in anderen Bundesländern wird Vorbestraften kaum mehr als der kleine Finger gereicht: In Nordrhein-Westfalen rügte Justizminister Dr. Josef Neuberger als "grauenhaft", daß etwa Kommunen selbst "bei der Einstellung zur Müllabfuhr" per Fragebogen Vorstrafen ermitteln. Im niedersächsischen Lüneburg, so der örtliche Bewährungshelfer Horst Böhm. "kriege ich meine Probanden bestenfalls als Graszupfer in städtischen Parkanlagen unter". Im Nachbarkreis Uelzen durfte der einmal vorbestrafte Hilfsarbeiter Hermann Heyn, 22, nicht einmal als Wegewärter die Landstraßen hegen.
Auch In Hannover trat Bewährungshelfer Friedrich-Wilhelm Müller vergebens gegen eine Behörde an. Sein Proband Dietrich Mundlach war wegen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einem Jahr Jugendstrafe mit Bewährung verurteilt worden und hatte, nach Ableistung seines Wehrdienstes, eine Stelle als Betriebsschlosser bei den hannoverschen Stadtwerken bekommen. Als Mundlach, inzwischen volljährig, sechs Wochen Haft für ein Verkehrsdelikt erhielt und um unbezahlten Urlaub bat, ließ sich der städtische Arbeitgeber die Gerichtsakten vorlegen, bemerkte die alte Vorstrafe und feuerte den Schlosser.
Ähnlich rigoros verfuhr die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, zu deren Aufgaben die sozialadäquate Eingliederung von Arbeitskräften gehört, mit einem 27jährigen Angestellten, den sie in Kenntnis geringer Vorstrafen selbst umgeschult und danach eingestellt hatte. Gleichwohl erhielt er die Kündigung, weil er in der Rubrik "Vorstrafen" den Fragebogen "wissentlich falsch" beantwortet habe und "diese grobe Verletzung von Treu und Glauben" sogar eine fristlose Entlassung gerechtfertigt hätte.
Der gekündigte Angestellte rief die Arbeitsgerichte an und bekam -- in letzter Instanz -- von den Bundesarbeitsrichtern in Kassel recht: Es sei durchaus denkbar, daß der Vorbestrafte geglaubt habe, er werde über die "bereits bekannten und aktenkundigen zwei Vorstrafen" hinaus nach weiteren Straftaten gefragt (die er nicht begangen und mithin auch nicht angegeben hatte). "Organisationsfehler" aber gingen "zu Lasten der Behörde", die sich den Inhalt ihrer eigenen Akten "als bekannt anrechnen lassen" müsse.
Aber selbst im Falle unwahrer Angaben auf dem Fragebogen, so das Urteil, wäre eine Kündigung "nicht sozial gerechtfertigt" gewesen, denn die Vorstrafen könnten "im Hinblick auf die Art seiner Beschäftigung nicht einschlägig" genannt werden. Und: "Nicht jede falsche Angabe in einem dem Arbeitnehmer bei der Einstellung vorgelegten Fragebogen stellt eine arglistige Täuschung ... dar, sondern nur eine falsche Antwort auf eine zulässigerweise gestellte Frage."
Welche Fragen zulässig sind, präzisierten die Richter in den Urteilsgründen: "Um die Resozialisierung der Gestrauchelten nicht unnötig zu erschweren", dürfe die Offenlegung von Vorstrafen "nicht einschränkungslos" gefordert werden, denn nicht für jede Tätigkeit sei die frühere Verurteilung "ein beachtliches Hindernis
Ihre genauen Vorstellungen über erlaubte und unerlaubte Fragen erläuterten die Bundesrichter an Beispielen: Sie zeigten einerseits Verständnis, daß Arbeitgeber nicht gerade einen "mehrfach wegen Unterschlagung" Vorbestraften als "Bankkassierer", einen "aus Paragraph 175 StGB Bestraften" als "Jugendpfleger" oder einen "wegen Trunkenheit am Steuer Bestraften" als "Chauffeur" einstellen möchten, forderten jedoch andererseits: "Es darf jedenfalls nicht schlechthin ohne sinnvolle Beschränkung auf das für den zu besetzenden Arbeitsplatz wichtige Strafrechtsgebiet gefragt werden."
Diese höchstrichterliche Entscheidung erhellt Pressionen, denen Vorbestrafte durch die stärkeren Sozialpartner ausgesetzt sind, zugleich aber hat sie Seltenheitswert, weil sich viele Arbeitgeber ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen lassen und das Problem -- durch Ablehnung des Bewerbers -- bereits im vorprozessualen Stadium lösen.
Freilich, oft genug scheitert der Vorbestrafte nicht am Arbeitgeber -- wie in diesem Musterfall -, sondern an den Kollegen. Zwar werden alle Strafentlassenen, so Bewährungshelfer Leo Larisch (Düsseldorf), eindringlich davor gewarnt, am Arbeitsplatz über ihre Vorstrafen zu reden. Doch "da kämpfen wir gegen Windmühlenflügel" (Larisch), und am Ende steht nicht selten die Kündigung.
·Die Gründe, die den Bescholtenen von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle weitertreiben, sind vielfältig. Angst vor Ächtung gehört ebenso zu den Motiven wie das Gefühl vermeintlicher Minderwertigkeit. So berichtet die Berliner Bewährungshelferin Gudrun Ziegler von einem vorbestraften Arbeiter, der innerhalb seines Betriebes zum Putzdienst eingeteilt worden war. Der Mann weigerte sich mit der Begründung: "Wenn etwas wegkommt, werde ich sofort verdächtigt."
Seine Sorge war nicht unbegründet. Frau Zieglers Kollege Helmut Schulenberger erinnert sich an den "tragischen Fall" eines Probanden, dessen "unbescholtener" Kollege Diebstähle
* Alfred Lecki, der in Bottrop einen Polizisten tötete.
beging -- in der Erwartung, sie auf den Vorbestraften abwälzen zu können.
Einem Vorbestraften die Schuld in die Schuhe zu schieben, auch wenn man selber schuldig ist -- das entspricht exakt dem Usus der gesellschaftlichen Mehrheit, einer Minderheit die Sündenbock-Funktion zuzuweisen. Gleichsam stellvertretend büßt die vorbestrafte Minorität für Versagen der Masse und bewirkt damit, so Strafvollzugsexperte Heinz Müller-Dietz, deren "psychische Entlastung".
Dieser sozialpsychologische Lastenausgleich fügt sich In die sogenannte soziale Marktwirtschaft, wo das Prinzip von Angebot und Nachfrage sogar das Prinzip von Schuld und Sühne zeitweilig außer Kraft setzt: Wo Arbeitskräftemangel herrscht, ist der Vorbestrafte noch willkommen, wo Wohnungen knapp sind, bleibt er draußen vor der Tür.
Der hessische Gefangenen-Fürsorger Horst Vogel versuchte im vergangenen Jahr, entlassenen Häftlingen Wohnungen zu beschaffen, und wandte sich an diverse Makler. "Die meisten", so berichtet er, "haben nie geantwortet." Einer, erinnert er sich, "entrüstete sich sogar: "Jetzt sollen wir auch noch an Spitzbuben vermitteln.'"
Die hessischen Makler verhielten sich nicht viel anders als eine städtische Siedlungsgesellschaft in Berlin. Sie teilte der Mutter von Wilhelm Raffauf, 21, Photograph, der gerade eine Jugendstrafe verbüßte, vor der Entlassung mit: "Wenn Sie Ihren vorbestraften Sohn in Ihrer Wohnung aufnehmen sollten, wird Ihnen der Vertrag sofort gekündigt. Die Aufnahme eines Vorbestraften widerspricht dem Wohlverhalten, zu dem sich alle Siedler verpflichtet haben."
Jörg Metzger, 26, der im Zuchthaus zur Schriftstellerei fand und heute die "Gefangenen-Zeitung" redigiert, verlor sein Zimmer über Nacht, nachdem er in Karlsruhe ein Podiumsgespräch über Resozialisierung geleitet und seine Wirtin am nächsten Morgen in den "Badischen Neuesten Nachrichten" ein Interview mit ihm entdeckt hatte.
Ebenso wie die Wirtin hatten auch schon frühere Arbeitgeber Metzgers reagiert, die zwar seine Vorstrafe gerade noch hinnehmen mochten, nicht aber ein soziales Engagement, das ein Bekenntnis zur eigenen Vergangenheit einschließt.
Solche Ehrlichkeit empfindet die Umwelt als Unverfrorenheit. Sie stempelt den Häftling, der -- statt Reue zu üben -- über den Sinn des Strafvollzugs debattiert, zum Außenseiter unter den Außenseitern, ist aber andererseits auch nicht gewillt, Zerknirschung zu honorieren. Und das gilt nicht nur für das Volk, in dessen Namen sie verurteilt worden sind, sondern auch für den Staat, der sie in Gewahrsam nimmt.
Eben dieser Staat, der sich mit seinem Strafanspruch den denkbar folgenschwersten Eingriff in das Leben eines Bürgers anmaßt, hat die Bewältigung der Folgen dem verlorenen Sohn oder privaten Hilfsorganisationen aufgebürdet.
Je weniger der Staat tat, desto mehr mußten private Vereine helfen. Ihre Zahl ist Legion. Im Bonner Dachverband für Straffälligenhilfe sind elf Landesorganisationen, die sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, elf Fachorganisationen und sechs Personenvereinigungen auf Bundesebene (zum Beispiel das Schwarze Kreuz, der Verein Bewährungshilfe und die Konferenzen der Strafanstaltspfarrer) vereinigt.
Insgesamt gibt es im Bundesgebiet und in West-Berlin mehr als 2700 Betreuungsstellen: vom Gefängnisverein in Aachen über das Auffangheim in Emmerich, die Bewährungshilfestelle in Moers bis hin zum Pfälzischen Verein für Straffälligenhilfe in Zweibrücken. Doch Zahl und Wirksamkeit stehen in keinem sinnvollen Verhältnis zueinander.
Als Surrogat für die eigenen vier Wände, die dem Entlassenen häufig vorenthalten werden, halten mildtätige Gruppen und Sozialbehörden Heime bereit, die freilich oft genug Ausgangspunkt neuer Straftaten sind. Denn Mitbewohner, die ebenfalls aus der Bahn geworfen sind, Heimpersonal, das häufig nur mit gutem Willen die fehlende Fachbildung ersetzt, und Hausordnungen, die allzusehr an das Reglement in der Strafanstalt gemahnen, schaffen ein Klima, das der Resozialisierung eher abträglich ist. "Viele dieser Heime", so findet denn auch Richter Gerd Siekmann, Vorsitzender des Hamburger Fürsorgevereins, "sind doch die Fortsetzung des Strafvollzugs -- nur ohne Gitter."
Mehr schlecht als recht müht sich die private Straffälligenhilfe, kaum vom Staat unterstützt, Hilfe suchenden Strafentlassenen minimale Startbedingungen zu verschaffen: durch Hilfe bei der Arbeits- und Zimmersuche, mit Ratschlägen für den Behörden-Dschungel, mit Kleidung ·und einem Notgroschen für die ersten Tage.
Entgegen landläufiger Meinung, daß dem Vorbestraften nicht zu trauen sei, werden durchaus gute Erfahrungen gemacht. Von 617 Strafentlassenen zum Beispiel, denen der Hamburger Fürsorgeverein 1968 ein Zimmer vermittelte und zugleich die erste Miete lieh, brannten nur drei mit dem Vorschuß durch. Auch von den Entlassenen, für die der Fürsorgeverein ein Entschuldungsverfahren organisiert hat, stellt, so Vorsitzender Siekmann, "nur ein minimaler Prozentsatz die Zahlungen ein".
Eine nachhaltige Hilfe für Strafentlassene, laut Siekmann der "beste Rückfallschutz", ist indes nur wenigen Hilfsorganisationen möglich -- dafür fehlt das Geld, und mit dem Geld fehlen die hauptamtlichen Fürsorger. "Unsere Arbeit ist wahnsinnig schwer zu finanzieren, weil der Spenderkreis klein und nur schwer zu erweitern ist", sagt Siekmann, der dem immerhin potentesten Verein dieser Art in der Bundesrepublik vorsteht. Er berichtet von einem hanseatischen Bankdirektor, der über die Schwierigkeit klagte, seinen Aufsichtsrat für eine "so wenig werbewirksame Spende" an den Fürsorgeverein zu gewinnen.
Neuerdings fürchten die Straffälligenhilfsvereine gar um ihre Haupteinnahmequelle: die gerichtlich verordneten Geldbußen, die bislang zwischen 65 Prozent (Hamburg) und 90 Prozent (Pfalz) des Verbands-Etats ausmachen. Bisher wurden -- kriminalpolitisch unsinnige -- kurze Freiheitsstrafen verhängt, zur Bewährung ausgesetzt und mit Geldbußen verbunden, die sich auf den Bankkonten der gemeinnützigen Vereine ansammelten. Seit die Strafrechtsreform die kurzen Freiheitsstrafen weitgehend abschaffte, haben Geldstrafen Vorrang, die in die Kassen des Staates fließen -- und der leistet sich außer (zu wenigen) Gefängnisfürsorgern und (zu vielen) guten Worten keine nennenswerten Resozialisierungsanstrengungen.
Zu mehr als dem Alibi, es würde ja immerhin etwas getan, reicht jedenfalls die bisherige Entlassenenhilfe des Staates nicht aus. Das fand auch der Berliner Senatsdirektor Dr. Otto Uhlitz, 47, der die soziale Integration der Straftäter nur dann sichergestellt sieht, "wenn die Spannungen und Schwierigkeiten überwunden werden, die der Übergang in die Freiheit mit sich bringt".
Diese Schwierigkeiten vor Augen, hat Uhlitz ein Konzept entworfen, das modellhaft sein könnte für eine bundesweite staatliche Entlassenenhilfe. Danach müßten eingerichtet werden:
* Entlassungsfürsorgestellen in allen Strafanstalten: Sie sollen gewährleisten, daß jeder Gefangene am Tag seiner Entlassung Arbeitspapiere bekommt, Unterkunft hat, eines Arbeitsplatzes oder eines geregelten Einkommens -- notfalls Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe -- sicher ist;
* Zentralstellen für Strafentlassenenhilfe in allen größeren Städten: Sie sollen in Zusammenarbeit mit Anstaltsfürsorgern, Verbänden und Wohlfahrtseinrichtungen allen Entlassenen weiterhelfen;
* "Freigängereinrichtungen" in den Strafanstalten: In ihnen sollen Strafentlassene, die trotz der Unterstützung mit der neugewonnenen Freiheit nicht fertig werden, auf eigenen Wunsch vorübergehend Unterkunft finden können -- Rückkehr ins Gefängnis, aber nicht hinter Gitter, sondern zur eigenen Sicherheit.
Reformer Uhlitz möchte damit den Staat stärker in die Pflicht nehmen -- wie schon 1925 der Strafrechtler Berthold Freudenthal, der das Problem mit einer beklemmenden Analogie deutlich machte: "Der Staat, der für seine entlassenen Strafgefangenen nicht sorgt, gleicht dem Chirurgen, der die von ihm geöffnete Bauchhöhle offenläßt, statt die Wunde zu heilen."
Noch wird verdammt und nicht zugenäht. Der Staat entlohnt seine "Staatssklaven" (so die Gefängniszeitung der West-Berliner Strafanstalt Tegel, "Der Lichtblick") derart gering, daß es im Gefängnis gerade zu Tabak und Rasierseife reicht und nach der Entlassung kaum zur Zimmermiete -- geschweige denn zur Tilgung von Forderungen aus der Zeit vor der Haft. Solange Gefangenenarbeit nicht angemessen entlohnt werde, fordert Senatsdirektor Uhlitz denn auch, müsse dem Strafentlassenen mindestens ein Jahr Pfändungsschutz garantiert werden.
Noch immer legt der Staat dem Verurteilten mit Strafregister und Führungszeugnis unsichtbare Handschellen an. Die Strafregisterstellen haben nach einem komplizierten System -- je nach Delikt, je nachdem, welche Zeit seit der Verurteilung verstrichen ist -- unbeschränkt oder auch beschränkt nicht weniger als 63 vom Bundesjustizminister ermächtigten Institutionen Auskunft zu erteilen: Gerichten und Finanzämtern, Nachrichtendiensten und dem Grenzschutz, den erzbischöflichen Ordinariaten wie dem Bundesluftschutzverband, dem Verwaltungsrat der Seemännischen Heuerstellen wie den Apothekerkammern.
Immerhin, zum ersten Male seit 1927, als der Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes die Verantwortung des Staates für die Gefangenen und die Entlassenenfürsorge entdeckte, scheint Besserung in Sicht -- seit die Große Strafrechtsreform zumindest in Ansätzen Resozialisierungsgedanken zu verwirklichen sucht und seit Sozialdemokraten im Bonner Justizministerium das Recht pflegen.
* Nach dem Willen der Experten-Kommission, die eine Reform des Strafvollzugs vorbereitet, sollen die staatlichen und kommunalen Behörden ausdrücklich dazu verpflichtet werden, "jede ... für die Wiedereingliederung entlassener Gefangener mögliche Hilfe zu gewähren".
* Nach dem Entwurf eines Bundeszentralregistergesetzes -- in der Justizminister-Ära Heinemann vorbereitet, von Heinemann-Nachfolger Gerhard Jahn dem Bundestag vorgelegt -- soll "das Recht des Verurteilten, Bestrafungen zu verschweigen, im Interesse der Resozialisierung erweitert werden". Während die Strafvollzugsreformer noch keine Details präsentiert haben und beispielsweise noch offenlassen, inwieweit eine bundesweite Entlassenenhilfe à la Uhlitz institutionalisiert werden soll, ist die Novellierung des Strafregistergesetzes bis in Einzelheiten vorbereitet.
Danach sollen Vorstrafen früher aus dem Strafregister gestrichen werden als bisher, die polizeilichen Führungszeugnisse herkömmlicher Art wegfallen und Jugendstraftäter verstärkt vor bürokratischen Nachwirkungen geschützt werden (siehe Kasten Seite 84). "Die gesamte Strafrechtsreform mit ihrem Resozialisierungseffekt wäre sinnlos", so erläuterte der SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Parlamentssonderausschusses für die Strafrechtsreform, Dr. Adolf Müller-Emmert, das Vorhaben, "wenn Millionen von Tätern nach Verbüßung ihrer Strafe noch jahrzehntelang als Vorbestrafte herumliefen."
Als Vorbestrafte herumzulaufen brauchten Vorbestrafte nun nicht mehr ganz so lange, mitunter freilich noch anderthalb Jahrzehnte -- erspart würde ihnen die staatliche Buchhaltung über die Verfehlungen nicht. Es bliebe im Kern dabei, was schon zu Kaisers Zeiten, im Jahre 1882, dekretiert wurde: "Über die rechtskräftigen Verurtheilungen in Strafsachen werden Register geführt." Es bliebe dabei: Sühne der Schuld und Tilgung der Strafe sind nicht identisch.
Es bliebe letztlich bei dem überkommenen Rechtsdenken, das sich im "Rechtswörterbuch" des Dr. Carl Creifelds so artikuliert: "Strafe ist Sühne für Schuld." Und diese Strafrechtstheorie stimmt mit dem vermeintlich gesunden Volksempfinden überein: 56 Prozent der Bevölkerung betrachten, wie Anfang 1969 das Godesberger Institut für angewandte Sozialwissenschaft "Infas" ermittelte, die Haftisolierung als "Sühne für das begangene Verbrechen" oder als Maßnahme zur "Abschreckung vor weiteren Straftaten".
So fragwürdig die Straf-Fiktion, die Willensfreiheit und Schuldfähigkeit beim Menschen voraussetzt, immer sein mag -- sie ist noch nicht einmal konsequent. Denn der Rechtsbrecher. der tatsächlich glaubt, seine Schuld sei durch Verbüßung der Strafe gesühnt. sieht sich nach der Haft getäuscht: Die schwache und widerspruchsvolle Theorie kann gar nicht halten, was sie verspricht. Für den betrogenen Sünder beginnt der Sühnegang, den er beendel glaubte, in Wirklichkeit erst.
Wirklichen Wandel können Reformgesetze -- so sie diesen Namen verdienen -- nur dann bewirken, wenn auch die Gesellschaft ihre Einstellung zu Recht und Unrecht, Tat und Täter, Schuld und Sühne ändert. Die Gesellschaft aber, die Mehrheit der Bürger also, nährt die Fiktion, daß ein -- aus welchen Gründen auch immer -- kriminell Gewordener der drakonischen Bestrafung bedürfe, um wieder zum "vollwertigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft" avancieren zu können (obwohl diese Gesellschaft genau dieses Avancement beständig hintertreibt).
Solcher Anmaßung hält der Sozialkritiker Arno Plack als notwendiges Korrektiv entgegen, daß "doch eher umgekehrt die Gesellschaft der Guten und Gerechten einer "Behandlung' bedürfte, um den an ihrer falschen Moral und Rechtsordnung Gescheiterten ohne Vorbehalt wiederaufzunehmen (sofern er nicht gerade unberechenbarer Gewaltakte fähig erscheint)".
Utopie? Die Konsequenzen eines allein auf Selbstgerechtigkeit basierenden Strafvollzuges hat schon vor 68 Jahren der Strafrechtsreformer Franz von Liszt gesehen: "Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen begeht, und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen."
Das Liszt-Wort, auf den Strafvollzug gemünzt, ist heute so aktuell wie damals -- auch und gerade für die Strafe, die erst mit der Entlassung beginnt. "Denn draußen", schrieb jüngst der Vorbestrafte Wolfgang Gabel, 27, aus Stuttgarter Untersuchungshaft, "bedeutet es nicht viel, daß ich im Gefängnis lernte, im Chor zu spielen. Kein Chor wird mich aufnehmen, wenn ich rauskomme. Und die Geigen werden zu teuer sein."