DDR / KP-KRITIK So auch
SED-Chef Walter Ulbricht, 77, Förderer des sozialistischen Lagers und bislang Bewunderer der sowjetischen Bruderpartei, zweifelt an seinen Freunden.
Er sorgt sich, wie es scheint, nicht nur um die ideologische Geschlossenheit der kommunistischen Staatengemeinschaft. Er argwöhnt zudem, die Sowjet-KP könne mangels verbindlicher Leitlinien für alle künftig Strategie und Taktik des internationalen Kommunismus allein bestimmen.
Und weil der Leipziger Berufs-Revolutionär offenbar befürchtet, daß die Entwicklung angesichts der auf Entspannung gerichteten sowjetischen West-Politik vor allem zu lasten seiner DDR gehen würde, machte der Staatsratsvorsitzende am Freitag, dem 13. November, seinem Herzen Luft: Walter Ulbricht, jahrzehntelang Monument kommunistischer Disziplin, kritisierte zum erstenmal öffentlich den "Vortrupp der Menschheit" (SED-Programm), die Sowjet-Union, und dessen osteuropäische Verbündete.
Vor den Vertretern von 40 kommunistischen Parteien, die sich anläßlich des 150. Engels-Geburtstages in Ost-Berlin zu einer Ideologen-Tagung eingefunden hatten, beklagte Ulbricht die Kommunikationsmängel der kommunistischen Weltbewegung. Er forderte eine "planmäßige theoretische Zusammenarbeit der Bruderparteien".
Der DDR-Chef an die Adresse der Sowjet-Union: "Wir sind der Meinung", daß von den "Möglichkeiten der gemeinsamen Beratung theoretischer Probleme oder zumindest der Konsultation über bestimmte theoretische Grundfragen nicht genügend Gebrauch gemacht wird".
Diese Grundfragen aber sind Fragen nach dem Gewicht der DDR im sozialistischen Lager. Sie betreffen die ge-
* Auf dem Empfang für KP-Delegierte anläßlich des 150. Engels-Geburtstages In Ost-Berlin.
meinsame Wirtschafts- wie Westpolitik -- Probleme, die Ost-Berlins Parteiführung von ihren Genossen im Osten vernachlässigt wähnt. Ulbricht zählte sie auf:
* "Neuerscheinungen im Imperialismus, insbesondere ... jene imperialistischen Ideologien, die im Laufe der letzten zwei Jahre noch verfeinert und präzisiert worden sind" -- kurz: die westdeutsche Sozialdemokratie und deren Ost-Politik.
* "Fragen der Einigung der Arbeiterklasse, Fragen der Einheitsfront (in kapitalistischen Ländern)" -- kurz: die Frage, ob Kommunisten mit Sozialdemokraten paktieren sollen.
* "Die Frage der theoretischen Begründung der sozialistischen Integration" und "der Kooperation auf wissenschaftlich-technischem und ökonomischen Gebiet" -- kurz: eine Reform des bislang von den Sowjets majorisierten Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon).
* Die "komplexe Ausarbeitung des entwickelten sozialistischen Gesellschaftssystems" in der DDR und deren Bedeutung "für die Erreichung optimaler Lösungen bei der Durchführung der wissenschaftlich-technischen Revolution" -- kurz: das ökonomische System der DDR als Modell für alle.
Vor allem zu diesem Punkt, das machte Wegweiser Ulbricht dem internationalen Kommunisten-Auditorium klar, verfügt die SED über dezidierte Vorstellungen.
Der Partei-Chef pries Vorzüge wie Erfolge des ostdeutschen Wegs zum Sozialismus. Er lobte die kluge Strukturpolitik seiner Partei, die auf radikale Gleichmacherei verzichte, statt dessen die "halbstaatlichen Unternehmer, die Mitglieder der Produktionsgenossenschaften des Handwerks und andere Gewerbetreibende in das ökonomische System des Sozialismus" integriert habe -- und damit zweifellos der DDR-Wirtschaft die höchste Effektivität im Ostblock bescherte.
Schließlich tat Walter Ulbricht, was kommunistische Partei-Chefs zumindest in der Öffentlichkeit bislang stets unterlassen haben: Er rügte so barsch wie unverschleiert die Politik der osteuropäischen Partnerparteien. Der Vorsitzende zu den Engels-Experten: "Vielleicht wird mancher sagen: Das haben wir verwaltungsmäßig durchgeführt. -- So kann man es auch machen, aber das Resultat ist entsprechend."
Die offene Attacke des Gastgebers war in der eigenen Parteiführung nicht unumstritten. SED-Spitzen beschworen den Chef nach dem Auftritt, derart rüde Sentenzen, wenn sie schon sein mußten, wenigstens nicht publik zu machen. Vor allem die Agitations-Experten des Zentralkomitees um den Genossen Werner Lamberz fürchteten, Ulbrichts Kraftsprüche könnten das sorgsam präparierte Bild kommunistischer Eintracht zerstören. Und sie sorgten dafür, daß im "Neuen Deutschland" am 14. November statt des Wortlauts lediglich ein von allen Angriffen gereinigtes Protokoll der Ulbricht-Rede abgedruckt wurde.
Der erste SED-Sekretär aber mochte keine Rücksicht nehmen. Er veranlaßte den Partei-Anzeiger, tags darauf doch noch den kompletten Text bekanntzumachen -- samt Echo. "Neues Deutschland" registrierte es: "Starker Beifall".