PROZESSE / SCHADENERSATZ Letzte Instanz
Hans Heinz Verweegen sah, wie er sagte, "Mündungsfeuer", spürte "einen harten Schlag und "fiel langsam zusammen. Mit zwei Fingern verstopfte der Angeschossene die blutende Wunde in seiner Brust und blieb bei vier Grad unter Null auf der Kölner Innenstadtstraße "Eigelstein" liegen.
Die Kugel hatte einen Schußkanal vom Durchmesser eines Zehnpfennigstücks gezogen, die fünfte rechte Rippe abgetrennt und war im Rückenmuskel neben der Wirbelsäule steckengeblieben.
Drei Wochen später wurde das Geschoß entfernt, seine Herkunft waffentechnisch bestimmt: Es war aus der Dienstpistole des Kölner Polizeihauptwachtmeisters Adalbert Schaffner abgefeuert worden.
Der Beamte hatte auf die Reifen eines davonrasenden, gestohlenen Personenwagens geschossen, der unbeteiligte Passant Verweegen war von einem Querschläger getroffen worden.
Das geschah am 24. November 1956. Damals wurde der bis dahin stets gesunde neununddreißigjährige Verweegen Invalide. Trotz zahlreicher Operationen in verschiedenen Kliniken verlor er weitgehend seine Sehkraft, wurde nahezu taub, Leber, Galle und auch die Hirnhaut entzündeten sich, das Gedächtnis ließ nach. Schwindelanfälle sowie zeitweilige Bewußtlosigkeit traten auf. Eine fortschreitende Lähmung machte ihn schließlich bewegungsunfähig.
Der physische Verfall bedeutete zugleich wirtschaftlichen Ruin. Der Ingenieur hatte gerade nach vierjähriger Vorbereitung eine eigene Firma gegründet, in der er einen selbstentwickelten Gebläse-Ölvergaserbrenner produzieren wollte. Das Unternehmen wurde versteigert, sein Inhaber zum Kostgänger des Sozialamtes .- weil das Land Nordrhein-Westfalen keinen Zusammenhang sehen wollte zwischen Schuß und Siechtum. Es verweigerte sowohl eine angemessene Entschädigung als "auch eine Rente für Verweegens vielköpfige Familie, und mit einem Ausgleich von 3100 Mark hielten die Behörden den Fall für bereinigt. Zu weiteren Leistungen mußte das Land gerichtlich gezwungen werden.
Für Hans Heinz Verweegen begann damit ein zweiter Leidensweg, der fast anderthalb Jahrzehnte lang durch bürokratische, medizinische und juristische Instanzen führte und der exemplarisch erscheint für das stets ungleiche Duell zwischen dem reichlich mit Zeit wie Geld versehenen Staat und dem Recht suchenden Bürger.
Das Kölner Landgericht hielt 1957 einen "Aufopferungsanspruch" Verweegens in Höhe von 6100 Mark für "gerechtfertigt". Nordrhein-Westfalen aber zahlte erst, als auch das Oberlandesgericht und 1959 in letzter Instanz der Bundesgerichtshof das Urteil bestätigten.
Während der gerichtlichen Auseinandersetzungen um den Zusammenhang zwischen Schußverletzung und Folgekrankheiten verschlechterte sich Verweegens Zustand. Sein Schädel mußte aufgemeißelt werden. Er erlitt einen Herzkollaps. Muskelschwund stellte sich ein. Eine Polyneuritis wurde diagnostiziert. An der Arbeitsunfähigkeit seines Opfers konnte nun auch der Staat nicht mehr zweifeln.
Doch zu einer -- befristeten -- Rente von monatlich 300 Mark mußte er abermals durch einstweilige Verfügung gerichtlich angehalten werden. Den Richtern hatte Verweegen "hinreichend glaubhaft gemacht, daß seine Erkrankung durch die Pistolenverletzung ... ursächlich bedingt ist".
Bis zur Entscheidung in der Hauptsache -- drei Jahre später -- ging es dem Kranken nach eigener Schilderung so: "Ich kann den Oberkörper nicht mehr aufrichten ... bekam 15 Zähne gezogen ... und kann meine Notdurft ohne Hilfe nicht verrichten."
1963 verurteilte das Landgericht Köln das Land Nordrhein-Westfalen zur Zahlung von 52 644,60 Mark sowie einer Rente von 800 Mark. Denn für die 5. Zivilkammer war nun endgültig erwiesen, "daß die Arbeitsunfähigkeit des Klägers eine Folge der Schußverletzung vom 24. November 1956 ist".
"Insbesondere Ist die Kammer davon überzeugt", so die Urteilsbegründung, "daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Schußverletzung und der Gehörerkrankung ... besteht." Die Regierung aber fand sich damit nicht ab und bestellte einen neuen Gutachter, der eben diesen Kausalzusammenhang ausschloß.
Dr. Rolf Maurer, Professor für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden an der Bonner Universität, teilte dem Oberlandesgericht Köln als nächster Instanz mit: Es sei "anzunehmen, daß bereits 1956 eine chronische Mittelohrentzündung bestanden habe, wenn auch vielleicht im Stadium der Latenz". Und dieser Zustand reiche "möglicherweise bis in die Kindheit zurück".
Verweegen stellte Strafantrag gegen den Gutachter Maurer, weil dieser ihn zwar früher einmal behandelt, für das Gutachten aber nicht erneut untersucht und die Krankheitsberichte anderer Ärzte ignoriert habe. Maurer sei folglich von einem unrichtigen Krankheitsverlauf ausgegangen und habe daher ein falsches Gutachten erstellt. Das Ermittlungsverfahren gegen Maurer wurde jedoch eingestellt.
Im Zivilverfahren gingen die Beweiserhebungen weiter -- derweil Verweegen von ehemals 95 auf 55 Kilo Körpergewicht abmagerte und ohne Schmerz- und Schlaftabletten nicht mehr auskam. Der Godesberger Regierungsmedizinaldirektor Dr. Wolfgang Nusche hielt wiederum eine Entschädigung für "begründet". Und auch Professor Dr. Friedrich Pampus, heute Klinikchef in Stuttgart, neigte zu der Auffassung, daß Polizeikugel und Krankheit in ursächlicher Verbindung ständen. Er riet den Richtern, von einem "versierten Fachmann, der nicht der HNO-Klinik Bonn angehört", ein neues Gutachten anzufordern, "um Befangenheit auszuschließen".
Als das Gericht 1968 der Anregung folgte, schöpfte der Ingenieur neue Hoffnung. Doch nach weiteren zwei Jahren hatte der neue Gutachter, der Frankfurter Professor Dr. Karl-Heinz Vosteen, sich noch immer nicht geäußert. Verweegen-Anwalt Karl Leverenz mahnte. Die Oberlandesrichter berichteten ihm am 1. Juni dieses Jahres: "Der Sachverständige ... hat ... mitgeteilt ... daß die Akten nicht mehr aufzufinden seien." Selbst eine "systematische Durchsuchung aller Räume und Schränke der Klinik habe zu keinem Ergebnis geführt".
Vorsorglich hatte Verweegen von fast allen Unterlagen Duplikate angefertigt -- Belege vierzehnjähriger Auseinandersetzung eines dahinsiechenden Individuums mit einer für individuelle Notstände nicht empfänglichen Staatsapparatur.
Doch die Papiere nutzen allenfalls noch seiner Witwe Gertrud: Hans Heinz Verweegen starb im September. Nun soll durch eine Obduktion festgestellt werden, ob der polizeiliche Schuß vor anderthalb Jahrzehnten letzten Endes tödlich war.