„MIT VORZÜGLICHEM BEDAUERN“
Ein Chirurg, den nach erfolgreichem Eingriff, etwa nach der Entnahme eines mäßig gereizten Blinddarms, die Unlust am Abschluß dieser ärztlichen Aktion befiele, am Versorgen und Schließen der Wunde also, würde sich beachtlichen Widrigkeiten aussetzen. Daß er die Wunde über Stunden, Tage, Wochen, Monate und gar Jahre unversorgt und offen lassen könnte, ist ziemlich unwahrscheinlich.
Man muß sich das einmal vorstellen: auf dem Operationstisch der im Lauf der Jahre denn doch aus der Narkose erwachte Patient; an der Tür zum Operationssaal, von Spinnweben garniert, ein "Komme gleich wieder -- Schild. Unvorstellbar.
Der Chirurg, den die Unlust am Versorgen und Schließen der Operationswunde befällt, ist nur ein Beispiel für unvorstellbares Verhalten. Jedermann zieht sich beachtliche Widrigkeiten zu, so er seine Berufstätigkeit mitten in ihrem Ablauf unterbricht, um sie zu einer anderen, seiner Stimmung gemäßeren Stunde fortzusetzen.
Unvorstellbar ein Redakteur, der die Arbeit an der Zeitung für den nächsten Tag auf den nächsten Tag verschiebt. Unvorstellbar ein Lehrer, der nicht lehren mag, solange seine Schüler nicht gelehrt sind. Und ein Strafrichter, der seiner mündlichen Urteilsbegründung nicht unverzüglich die schriftliche Ausfertigung seines Urteils folgen läßt -- der allerdings, ·Verzeihung, ist vorstellbar.
Den muß man sich nicht erst vorstellen, denn den gibt es. Der ist eben nicht Jedermann, sondern unabhängig und unabsetzbar. Der hat sich nicht an Fristen zu halten. Der ist allein dem Gesetz und seinem Gewissen unterworfen -- und darum macht er die Fristen.
Erst die schriftliche Ausfertigung eines Strafurteils macht es möglich, daß Rechtsmittel gegen dieses Strafurteil betrieben werden. Doch der Richter -- kann die Operationswunde unversorgt und offen lassen über Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre. Er kann die schriftliche Urteilsausfertigung abschießen, wann immer es ihm beliebt. Irgendwelche Widrigkeiten beachtlicher Natur hat er nicht zu erwarten. Er überschreitet keine Frist. Er macht die Fristen.
Paragraph 275 Abs. 1 der Strafprozeßordnung (StPO): "Das Urteil mit den Gründen ist binnen einer Woche nach der Verkündung zu den Akten zu bringen, falls es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden ist." Denkste
Es gibt die Strafprozeßordnung, doch es gibt auch die Rechtsprechung; eine Rechtsprechung, die man beispielsweise in Band 21 der "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs" (BGH) auf den Seiten 4 bis 10 nachlesen kann.
"Daß das Urteil erst nach Ablauf der Frist des § 275 Abs. 1 StPO zu den Akten gebracht wird, begründet für sich allein die Revision auch dann nicht, wenn die Frist erheblich überschritten ist (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung)."
So befand der 1. Strafsenat des BGH am 4. Januar 1966, und er bestätigte damit wahrlich die "bisherige Rechtsprechung". Die hatte seit den Zeiten des Reichsgerichts darauf bestanden, so etwa der renommierte Kommentar von Löwe-Rosenberg in der Auflage des Jahres 1963, Abs. 1 des § 275 StPO enthalte "eine Sollvorschrift" die verhüten will, daß ein längeres Hinausschieben der Abfassung die Zuverlässigkeit der Erinnerung des Urteilsfassers beeinträchtigt und zur Aufnahme von Ausführungen führe, die nicht der Ansicht der Mehrheit (des Gerichts) entsprechen".
Und in Theodor Kleinknechts gleichfalls renommiertem Kommentar zur Strafprozeßordnung, 29. Auflage, 1970, heißt es: "Es handelt sich (bei § 275 StPO Abs. 1) um eine Ordnungsvorschrift ... mit der erreicht werden soll, daß die Frist eingehalten und, wo das nicht möglich ist, möglichst wenig überschritten wird."
Mord ist also verboten. Wo Mord unumgänglich ist, soll sowenig wie möglich gemordet werden. Das Verbot des Mordes hat überdies nur als eine Vorschrift zu gelten, deren Mißachtung "für sich allein" keine unbedingten Folgen hat.
Und so wird denn fleißig gemordet. Wie soll man die Deutung des § 275 StPO (vom Reichsgericht bis zum BGH) anders verstehen als eine grundsätzliche Duldung von Fristen, die dazu anstiftet' kapitale Fristen nach Stimmung und Belieben zn machen? Die menschliche Natur, und sogar Richter erinnern gelegentlich daran, daß auch sie "nur" Menschen sind, reagiert allenfalls auf das absolute Oberholverbot. Das Überholen eines Verkehrsteilnehmers, der sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält -- ist eine Selbstverständlichkeit. Hinsichtlich des § 275 StPO sitzt die Justiz am Steuer eines "Sportwagens für die Familie". Nur ein unmißverständliches Gebot würde die Strafjustiz zur Einhaltung erträglicher Fristen zwingen. Doch es wird lediglich die Geschwindigkeit begrenzt.
Die unabhängigen und unabsetzbaren, die nur ihrem Gewissen und dem Gesetz unterworfenen Richter sind eben keine Menschen. Es darf nicht angenommen werden, daß auch sie der Strafprozeßordnung nur dort gehorchen, wo ihnen diese für den Fall des Ungehorsams -- einen absoluten Revisionsgrund androht.
Am 27. Januar 1967 wurde der Fleischermeister Erwin Schneider von einem Schöffengericht in Frankfurt zu acht Monaten Gefängnis und 15 000 Mark Geldstrafe verurteilt. Das Gericht befand Herrn Schneider für schuldig der Kuppelei, und es ist hinsichtlich dieses Vorwurfs einiges anzumerken: denn der Fleischermeister Schneider, mit Fleisch nicht nur befaßt, soweit es verzehrbar ist, sondern auch als Vermieter von "Appartements", von Wohnungseinheiten also, die sich in einigen Stadtteilen Frankfurts kaum unakzentuiert erwähnen lassen, war an jenen Gesetzesdistrikt geraten, in dem Stadt und Staat belieben, Steuern zu erheben; in dem sie andererseits aber auch, eine Division flammender Savonarolas, die Moral verteidigen, wann immer der Steuergriff mal wieder ein bißchen peinlich wird.
"Kümmere ich mich um nichts, macht die Polizei den Laden zu", beklagte der Meister des Fleisches und Vermieter Schneider in erster Instanz. Immerhin war ihm empfohlen worden, sein Appartement-Haus als Dirnenwohnheim anzumelden: "Dann sind Sie jeglichen Ärger los." Schneider hatte den Rat befolgt, doch nun, in erster Instanz, mußte er kummervoll feststellen: "Sorge ich aber für Ordnung, kommt der Vorwurf eines bordellartigen Betriebs." Herr Schneider war mit seiner Verurteilung nicht einverstanden und ging in die Berufung, die im Dezember 1967 vor einer Großen Strafkammer in Frankfurt verhandelt wurde. Ergebnis: Fünf Monate Gefängnis, 5000 Mark Geldstrafe, 15 000 Mark Buße.
Kleben wir nicht an diesem Resultat. Legen wir uns den schmerzlichen Verzicht auf, die Kokoschka-bunte Gestalt des Herrn Schneider nicht darzustellen (er fährt ohne Chauffeur einen MB 600 mit Telephon, in dem er gelegentlich auch Geschlachtetes zu befördern pflegt, wenn der Geschäftsgang das erfordert, denn der Herr Schneider hat Fristen einzuhalten, obwohl es für ihn nur um Lieferfristen geht).
Es geht nämlich weder um das Gewicht des Vorwurfs, den die Justiz Herrn Schneider macht, noch darum, was wir von Herrn Schneider halten.
Es geht allein darum, daß die schriftliche Begründung jenes Urteils bis heute nicht vorliegt, das eine Große Strafkammer in Frankfurt unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Hummerich am 29. Dezember 1967 gegen Herrn Schneider verkündet hat. Fristgerecht legte Herr Schneider damals das Rechtsmittel der Revision ein, doch diese durch einen Anwalt begründen zu lassen, hatte er bis heute in Ermangelung des schriftlichen Urteils keine Gelegenheit.
Herrn Schneiders Strafsache ruht, inzwischen ruht sie allerdings nicht mehr still. Denn als sich in Hessen unlängst der Wahltag näherte, schrieb Herr Schneider dem hessischen Justizminister Hemfler einen Brief, dem er seinen Stimmzettel für die Landtagswahl beifügte. Der Verzicht auf sein Stimmrecht falle ihm schwer, ließ Herr Schneider den Minister wissen. Doch warte er nun seit Jahren auf sein Recht, das die Justiz bekanntlich "im Namen des Volkes" verkünde. Und da habe er nun plötzlich "das Wahlrecht als sinnlosen Akt der Gewohnheit" empfunden.,, Arroganz in schwarzer Robe" schien dem Fleischermeister nach fast drei Jahren des Wartens auf sein schriftliches Urteil "bedenklicher als Prostitution, über die sich Herr Hummerich in meinem Fall damals so sehr entrüstete".
Minister Hemfler mochte den Stimmzettel nicht als ein "Symbol der Trauer" für den Verlust des Vertrauens zur Justiz entgegennehmen, als den er ihn -- "Mit vorzüglichem Bedauern Ihr Erwin Schneider" -- erhalten hatte. Er schickte ihn zurück. "Daß Sie so lange auf den Ausgang Ihres Verfahrens warten mußten, bedauere ich sehr", antwortete der Minister, wobei er die Tatsache ein wenig verfehlte, daß Herr Schneider nach wie vor nicht auf den Ausgang, sondern auf den Fortgang seines Verfahrens warten muß. Zu einer weitergehenden Stellungnahme sah sich der Minister außerstande, da jede Stellungnahme "amen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit darstellen" würde.
Die allgemeine "richterliche Unabhängigkeit", die Minister Hemfler derart beschwor, ist nun freilich die besondere richterliche Unabhängigkeit des Vorsitzenden Hummerich, und das macht diese Beschwörung heikel. Denn bereits im November 1968 war Richter Hummerich in seiner Unabhängigkeit an den 1. Strafsenat des Frankfurter Oberlandesgerichts geraten. Dieser entließ damals einen unter Herrn Hummerichs Vorsitz zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilten und vom Vorsitzenden Hummerich -- mündlich -- als "gefährlicher Gewohnheitsverbrecher" qualifizierten Delinquenten aus der Untersuchungshaft -- weil zehn Monate nach der Urteilsverkündung
* Als vorsitzender im Hunsche-Krumey-Prozeß mit dem Zeugen Generaloberst a. D. Hans Friesen er.
das schriftliche Urteil noch immer nicht vorlag.
Ist die richterliche Unabhängigkeit vor allem anderen dadurch charakterisiert, daß sie hartnäckig ist? Im November 1968 erfuhr Richter Hummerich durch das Oberlandesgericht Frankfurt, daß die strafrichterliche Unabhängigkeit hinsichtlich von Fristen auch zu einer "schwerwiegenden Verzögerung" des Strafverfahrens führen kann. Doch als er das erfuhr, da wartete auch der Herr Schneider schon fast ein Jahr auf sein schriftliches Urteil zur Urteilsverkündung vom Dezember 1967. Und heute wartet Herr Schneider noch immer.
Angesichts derart hartnäckiger Unabhängigkeit eines Richters wird der Richter Hummerich zum Exempel; zum Beleg für die Torheit der Feststellung, mit welcher der 1. Strafsenat des BGH 1966 seine -- oben zitierte -- "Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung" zum § 275 Abs. 1 schloß. Der Senat war nämlich der Meinung, daß allzu gravierenden "Fristüberschreitungen durch Maßnahmen der Dienstaufsicht oder der Geschäftsverteilung vorgebeugt werden könnte". Dem Vorsitzenden Hummerich ist keineswegs vorgebeugt worden.
Das Thema "Verspätete Absetzung von Strafurteilen" hat einige Juristen durchaus beschwert. Der Strafrechtler Professor Peters etwa erörterte es wiederholt, und Professor Sarstedt, ·der Präsident des 5. BGH-Strafsenats, behandelte es 1965 derart erhellend, daß eine bestimmtere Deutung oder Fassung des § 275 Abs. 1 der StPO durch Rechtsprechung oder Gesetzgeber in der Luft zu liegen schien. Doch dann bestätigte der 1. Strafsenat des BGH die bisherige Rechtsprechung, und das Thema wurde bis heute nicht mehr diskutiert, obwohl inzwischen die den Angeklagten strapazierende Fristüberschreitung die Regel ist, wo Professor Sarstedt noch 1965 sagen durfte, das Übel bestehe "weniger in den vereinzelten exorbitanten Verzögerungen, als in den vielen mäßigen aber unnötigen".
Derzeit ist der § 275 Abs. 1 das Rumpelstilzchen der StPO "Heißest du Kunz?" kann man ihn fragen und "Heißest du Heinz?" Immer wird die Antwort "Nein" lauten. Der Paragraph setzt eine Frist, und er setzt keine Frist. Er ist ein Übelstand, weil er nichts ist, und weil er nichts ist, ist er auch kein Übelstand. Vielleicht sollte man den Paragraphen einmal nicht fragen, wie er heißt, sondern danach, was er gegenwärtig ist.
Da gibt es zum Beispiel das Wort Schweinerei, das nur leider ein unjuristisches Wort ist. Doch vielleicht schreit ·der Paragraph dann endlich: "Das hat dir der Teufel .gesagt" -- und reißt sich selbst vor Zorn und Wut "mitten entzwei", statt daß er morgen der Justitia ihr Kind, das Vertrauen jener holt, die bereit sind, sich dem Recht, nicht aber einer institutionellen Gewalt zu unterwerfen.