ISRAEL / GAZA-STREIFEN Nirgendwo sicher
Jeden Morgen gegen fünf Uhr verläßt eine lange Kolonne grüngestrichener Autobusse den "Palestine Square" im israelisch besetzten Gaza. Die Fahrgäste sind Palästinenser, die täglich nach Israel fahren, um in Fabriken oder auf Baustellen Geld zu verdienen.
Sie haben einen gefährlichen Arbeitsweg: Häufig werden die Busse aus dem Hinterhalt beschossen, detonieren an den Haltestellen vor den Flüchtlingslagern von Gaza Handgranaten.
"Eine Saison der Handgranaten" hatten die palästinensischen Guerillas vor einem "Jahr den Israelis in Gaza versprochen. Sie hielten ihr Versprechen, Opfer des Terrors sind jedoch zumeist nicht israelische Soldaten, sondern Palästinenser, die sich bei den Israelis verdingen und in den Augen der fanatischen Guerillas die arabische Sache verraten.
In Jordanien erlitten die Fedajin beim Kampf gegen Husseins Beduinen-Truppen schwere Verluste, Israels massive Grenzsicherungen am Jordan können sie nur noch selten überwinden. Aber gegen ihre arbeitswilligen Landsleute im übervölkerten Gaza-Streifen operieren sie erfolgreich.
Nur vier Israelis, aber 62 Araber kamen in diesem Jahr bei Guerilla-Anschlägen im Gaza-Streifen um. 478 Fedajin-Opfer wurden in das "Nasser-Krankenhaus" von Gaza eingeliefert -- verstümmelt durch Handgranaten-Explosionen auf Gazas Marktplatz oder der Omar-el-Muchtar-Straße. "In Gaza haben sich die Dinge gut entwickelt", freute sich Georges Habasch, Chef der "Volksfront zur Befreiung Palästinas", schon Anfang des Jahres in einem Gespräch mit dem SPIEGEL.
Keines der im Juni-Krieg von 1967 eroberten arabischen Gebiete bereitet den israelischen Besatzern soviel Ungemach wie, der Gaza-Streifen, das wohl desolateste Elendsquartier der Welt.
Auf dem nur 30 Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Streifen, der zur Hälfte aus Dünen und Wüstensand besteht, drängen sich 400 000 Menschen; zwei Drittel von ihnen sind Palästina-Flüchtlinge, die in acht großen Lagern hausen. Damit gehört der Gaza-Streifen zu den am dichtest besiedelten Gebieten des Nahen Ostens -und zu den explosivsten.
Die meisten Gaza.-Palästinenser leben seit ihrer Flucht im Jahr 1948 in den Lagern. Sie fristen ihr Dasein mit Lebensmittelrationen von täglich 1500 Kalorien pro Kopf, die von der Uno-Hilfsorganisation UNRWA verteilt werden. Ein Uno-Beamter: "Das ist zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel."
In Nassers Ägypten, dem der Gaza-Streifen nach dem Krieg von 1948 zugefallen war, wurden die Gaza-Palästinenser wie Staatsfeinde behandelt. Sie besaßen keine ägyptische Staatsbürgerschaft, ihr Wohngebiet durften sie nur mit Sondererlaubnis verlassen.
Und anders als in Westjordanien, wo viele Flüchtlinge allmählich in das Wirtschaftsleben integriert wurden, blieb in Gaza mindestens die Hälfte der geflüchteten Palästinenser arbeitslos: Industrie-Investitionen erschienen Ägyptens Wirtschaftsplanern in dem Küstenstreifen nicht rentabel. denn Gaza ist durch 200 Kilometer Sinai-Wüste vom ägyptischen Kernland getrennt.
Willig arbeiteten daher die verbitterten Lager-Bewohner nach dem Ende des Junikriegs mit den Guerillas zusammen, die ihnen ein Ende des Lagerlebens und Rückkehr nach Palästina versprachen. "Je schlechter die Lage in den Lagern ist", meinte ein gefangener Guerilla, "desto größer sind unsere Erfolgsaussichten."
So können die Guerillas fast risikolos Hochspannungsleitungen in die Luft jagen oder Autos beschießen -- die Gefahr, gefaßt zu werden, ist minimal: Nach den Attentaten tauchen die Fedajin in den weitläufigen Lagern unter.
Selbst Araber, die den Terror verurteilen, würden nicht wagen, die Attentäter an die Israelis zu verraten -- aus Angst vor Vergeltung. "Wer schützt mich vor der nächtlichen Rache?" fragte ein Ladenbesitzer in Gaza.
Längst wagen sich kaum noch Israelis ohne Begleitschutz in den Gaza-Streifen: Ihre Personenwagen, an den orangefarbenen Nummernschildern leicht von den Autos der Araber zu unterscheiden, sind Zielscheiben der Guerilla-Heckenschützen.
Ausländern, die dennoch nach Gaza reisen, empfehlen arabische Freunde: "Nehmen Sie unbedingt an der Grenze ein arabisches Taxi, und steigen Sie auf keinen Fall aus! Man ist nirgendwo in Gaza sicher ..."
Den meisten ist das Risiko zu groß. Im einzigen geöffneten Hotel von Gaza, dem "Mama House", sind daher immer Zimmer frei. Nur einige Rotkreuz- und UNRWA-Funktionäre logieren in der Herberge mit der altenglischen Plüsch-Atmosphäre.
Wenn es Nacht wird in Gaza, wagen sich auch die Araber nicht mehr auf die Straßen. Nach Sonnenuntergang gleicht der einst geschäftige Umschlagplatz für Karawanen aus ganz Arabien einer Geisterstadt. "Gaza", so bemerkt ein israelischer Offizier, "ist wie ein Dampfkochtopf."
Um den Druck in dem Topf zu mindern, mühten sich die Israelis, den Flüchtlingen Arbeit zu beschaffen. Rund 10 000 Gaza-Bewohner pendeln heute jeden Tag zwischen ihrer Lager-Behausung und einer Arbeitsstätte in Israel -- aus Angst vor Racheakten der Guerillas freilich oft zu Fuß und auf Schleichwegen.
Die Israelis mußten jedoch einsehen, daß sie mit Arbeitsbeschaffung allein den überfüllten Küstenstreifen nicht befrieden können. Nur eine Radikal-Lösung, so fanden sie heraus, kann im Gaza-Streifen helfen: Auflösung der Flüchtlingslager und Umsiedlung der Palästinenser.
Als neue Heimat bietet sich vor allem das israelisch besetzte Westjordanien an. Viele der Flüchtlinge in Gaza haben Verwandte in Westjordanien. Landwirtschaft und Industrie lassen sich dort leichter ausbauen als im kargen Gaza. Verlockend sind auch die höheren Einkommen: In Westjordanien beträgt der jährliche Pro-Kopf-Verdienst rund 1700 Mark, in Gaza liegt er bei knapp 400 Mark.
Schon jetzt versuchen die Israelis, die bereits in Westjordanien beschäftigten Arbeiter aus Gaza mit ihren Familien seßhaft zu machen. Erster Erfolg: Nahe Jericho haben sich etwa 3000 neue arabische Siedler niedergelassen.