AUTOMOBILE / TECHNISCHE MÄNGEL Falsche Feigen
Am 17. Juni 1965 steuerte die amerikanische Hausfrau Estelle Langford den erst wenige Monate alten Chevrolet-Transporter ihres Mannes über eine Betonstraße von Lake County im US-Staat Florida. Plötzlich, bei einem Tempo von 70 Stundenkilometern, spürte sie einen Ruck in der Lenkung und verlor die Gewalt über den Dreiviertel-Tonner. Der Wagen überschlug sich. Für die Fahrerin und eine Beifahrerin endete der Trip im Krankenhaus.
Nach der Unfallursache brauchte die Polizei nicht lange zu forschen: Am linken Hinterrad war die Felge geborsten, so daß der Reifen aus seiner Bettung rutschen mußte.
Der gleiche Defekt, diesmal am rechten Hinterrad, hatte einen Monat früher Wagenlenker John Hertzler auf einer Autobahn des Staates New Jersey mit seinem Klein-Lieferwagen plötzlich gegen die Leitplanke prallen lassen. Seitdem verunglückten Jahr um Jahr Klein-Transporter, weil unvermutet eine ihrer Radfelgen zerkrümelte -- einmal so wuchtig, daß ein mehrere Meter entfernter Tankwart durch umherfliegende Metallbrocken einen Beinbruch erlitt.
Eine Analyse der Unfälle, bei denen bisher 20 Personen zu Schaden kamen, erbrachte einen alarmierenden Tatbestand. Denn alle durch mysteriöse Felgenbrüche verunglückten Transporter hatten ein gemeinsames Merkmal: Sie kamen aus dem Konzern General Motors, dem größten Industrieunternehmen der Welt mit einem Jahresumsatz von umgerechnet 89 Milliarden Mark; sie stammten aus Bauserien der Jahre 1960 bis 1965, die insgesamt 200 000 Wagen mit den gleichen verdächtigen Rädern umfaßten.
Um die Räder dieser 200 000 Autos entspann sich in den letzten Wochen zwischen der US-Regierung und dem Auto-Giganten (Firmen-Slogan: "Was für General Motors gut ist, das Ist auch gut für Amerika") ein juristischer Schlagabtausch, wie er in der Geschichte der Auto-Sicherheitsbestimmungen kein Beispiel hat.
Bei Unfällen und Überprüfungen hatte das National Highway Safety Bureau, Amerikas Sicherheitsbehörde für den Straßenverkehr, 680 Räder der fraglichen Typen als Unfallursache ermittelt oder für schadenträchtig befunden. Daraufhin forderte die Behörde den Hersteller zu einer gesetzlich vorgeschriebenen Prozedur auf: GM solle alle 200 000 Besitzer der von Felgendefekten bedrohten Transporter seiner Marken GMC und Chevrolet Informieren, damit das potentielle Übel -- zu wessen Kosten auch Immer -- durch Reparatur oder Austausch abgewendet werden könne.
General Motors riskierte Jedoch, was in ähnlicher Lage bisher noch keine andere Firma gewagt hat: Der Autokonzern weigerte sich, seine Transporter-Käufer in die Werkstatt zu rufen. Statt dessen ging er zum Gegenangriff über und beantragte, die Rückruf-Order gerichtlich als unangemessen zu verwerfen, Da griff das Justizministerium in Washington ein: Es forderte das Bundesgericht auf, General Motors zur Rückruf-Aktion zu verurteilen, und klagte außerdem auf eine Geldbuße von 400 000 Dollar, der zuvor noch nie beantragten Höchst-Buße für Verstöße gegen die Auto-Sicherheitsbestimmungen.
Zu dem spektakulären Rechtsstreit kam es freilich nur durch den Eifer eines Mannes, der nie einen GM-Klein-Laster kaufte: Ralph Nader. Der Rechtsanwalt aus dem US-Staat Connecticut hat sich in den vergangenen sieben Jahren wie kein anderer für die Interessen der Verbraucher eingesetzt. Ob Wurst, Wagen oder Waschmaschine -- wann immer Nader Gesundheit und Sicherheit der Konsumenten bedroht sah, war er als öffentlicher Ankläger zur Stelle. So hatte er auch maßgeblichen Anteil daran, daß die US-Regierung im Jahre 1966 die Bestimmungen ihres Auto-Sicherheltsgesetzes schärfer faßte.
Nach diesem Gesetz muß zum Beispiel ein Autohersteller Käufer von Kraftwagen, bei denen durch nachträglich festgestellte konstruktionsbedingte Fehler und Mängel die Betriebssicherheit gefährdet scheint, öffentlich warnen. Trotz Tests und Erprobungen konnte sich bisher kein Auto-Produzent zuverlässig schützen vor technischen Mängeln, die sich erst im Serienbau zeigten oder sogar erst nach längerem Gebrauch auftraten.
Genera] Motors mußte seine Autos mitunter rascher von den Kunden zurückbeordern, als er sie auf dem Fließband überhaupt fabriziert hatte. Erst im vergangenen Jahr wurden auf einen Schlag 1,1 Millionen GM-Autobesitzer wegen eines zu spät entdeckten Fabrikationsfehlers aufgefordert, ihre Wagen gegen einen möglichen Bremsdefekt sichern zu lassen. Von 1960 bis 1969 mußten insgesamt 20,1 Millionen US-Personenwagen wegen Verdachts auf Fertigungs- und Konstruktionsmängel inspiziert werden.
Auf dem deutschen Automarkt kontrollieren Ingenieure des Kraftfahrt-Bundesamtes und der Technischen Überwachungsvereine, ob die in der Straßenverkehrs -- Zulassungsordnung festgelegten Sicherheitsvorschriften eingehalten werden. Die Kontrolleure nehmen sogar an den Fließbändern unverhofft Stichproben vor. Bei Mängelrügen fordert das Bundesamt die Hersteller auf, die Fehler zu beheben.
So kam es auch auf dem deutschen Markt schon zu etlichen Rückruf-Aktionen, die allerdings von den Werken zumeist verschämt durch normale Kundendienst-Verrichtungen getarnt wurden. Bei der bisher umfänglichsten VW-Fehlerkontrolle mußten 480 000 VW darauf untersucht werden, ob in vermeintlich wartungsfreie, tatsächlich aber mangelhaft konstruierte Achsgelenke Wasser gedrungen war. Und wegen dringender Kontrollen der Bremsen und der Lenkung mußten die Ford-Werke rund 250 000 in Europa verkaufte Escorts und Capris in die Ford-Werkstätten rollen lassen.
Sollte sich ein Hersteller den Weisungen der Kontrolleure nicht fügen vollen, so steht den Beamten als äußerstes Druckmittel eine Entziehung der "Allgemeinen Betriebserlaubnis" zu Gebote, Für diese Maßnahme, die praktisch einen Produktionsstopp erzwänge, bestand -- so ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums -- "bisher noch kein Anlaß". Treten dagegen Schäden an einem Autotyp auf, der längst nicht mehr produziert wird, so stehen die Konsumenten schutzlos da, denn für diesen Fall bieten die bundesdeutschen Bestimmungen keine Handhabe gegen den Hersteller. Amerikas Sicherheitsgesetze hingegen machen den Erzeuger bis zur Verschrottung für Mängel verantwortlich.
Verbraucher-Anwalt Nader konnte daher des Erfolges ziemlich sicher sein, als er sich im Sommer 1968 der Dreiviertel-Tonner von General Motors annahm. Damals waren die GM-Anwälte flugs zur Stelle gewesen, als ein kalifornischer Bäcker, der beim Zusammenbrechen seines GMC-Lieferwagens verletzt worden war, mit einem Prozeß gedroht hatte. GM einigte sich mit dem Bäcker zwar außergerichtlich. Doch Nader und die Rechercheure seines "Zentrums für Autosicherheit" legten der Sicherheitsbehörde eine Dokumentation über eine Reihe ähnlich rätselhafter Unfälle dieser inzwischen vom GM-Bauprogramm gestrichenen Wagenmodelle vor. Nader machte die fehlerhaft gestalteten Felgenwülste der an diesen Wagen verwendeten dreiteiligen Scheibenräder und damit den Hersteller für die Unfälle verantwortlich. Er forderte eine Überprüfung aller 200 000 Autos der Typenreihe.
GM wehrte sich: Gefährdet seien schlimmstenfalls rund 50 000 Klein-Transporter, deren Käufer die Autos mit Camping-Aufbauten bestückt und damit überladen hätten. Die Sicherheitsbehörde ließ sich besänftigen, als GM anbot, diese 50 000 Wagen auf Werkskosten mit stärkeren Rädern auszurüsten -- eine Offerte, auf die sich nur 11 600 Besitzer meldeten.
Nader sammelte weiteres Beweismaterial, um zu belegen, daß die umstrittenen Räder "ihrer Natur nach" unsicher konstruiert waren. Als ein metallurgisches Gutachten In scheinbar einwandfreien Felgen Haarrisse nachwies, war Nader am Ziel: Die Sicherheitsbehörde verfügte die Überprüfung aller 200 000 Autos.
Damit brachte Nader den Auto-Giganten zum zweitenmal in Bedrängnis. Schon In seinem 1965 erschienenen Auto-Buch "Unsafe at Any Speed" (Unsicher bei jedem Tempo), mit dem Nader seinen Ruhm als Pfusch-Jäger begründete, hatte er den GM-Personenwagen Chevrolet Corvair gleichsam als Horror-Muster automobiltechnischer Tücken abgehandelt. Vornehmlich die Pendelachse an den zwischen 1960 und 1964 gebauten Versionen des Heckmotorwagens, so warf Nader den Corvair-Konstrukteuren vor, habe bei bestimmten Fahrzuständen bewirkt, daß Hinterreifen von den Feigen rutschten oder der Wagen plötzlich aus der Fahrspur ausbrach.
Der Ruf des Wagens wurde durch Nader derart erschüttert, daß GM das Modell trotz aufwendiger Konstruktionsänderungen wenige Jahre später mangels Kauf-Interessenten aufgeben mußte. Der Wagen ging unrühmlich in die Firmengeschichte ein: GM wurde seinetwegen in mehr als 150 Schadensersatzprozesse verwickelt.
In Deutschland boten derartige Verfahren bisher wenig Chancen auf Erfolg, weil der geschädigte Kläger die Schuld des Herstellers nachzuweisen hatte. Schadensersatzklagen gegen Autoproduzenten beschränkten sich vor deutschen Gerichten daher meist auf Einhaltung der Garantie-Zusagen. Künftighin scheint jedoch leichter möglich, einen Hersteller für Unfallschäden infolge eines Fabrikationsfehlers verantwortlich zu machen. Denn nach einem vor kurzem in einem Schadensersatzprozeß gegen die Daimler-Benz AG erlassenen Urteil des Bundesgerichtshofes wird In diesen Fällen die Beweislast umgekehrt -- der Beklagte habe seine Unschuld zu beweisen.
In den USA, wo die Beweislast bei solchen Prozessen dem Beklagten obliegt, hatten Geschädigte von jeher gute Chancen, Schadensansprüche gegen Autohersteller durchzufechten. GM erzielte zwar eine Reihe von Prozeßsiegen gegen Corvair-Kläger, zahlte jedoch einem halben Dutzend Corvair-Geschädigten zum Teil hohe Abfindungssummen für eine gütliche Einigung. Über die Ansprüche von rund 50 Corvair-Opfern wurde noch nicht befunden.
Furcht vor Schadensersatz-Urteilen war es denn wohl auch, was General Motors zu verzweifeltem Widerstand gegen die Rückruf-Order der Sicherheitsbehörde trieb. In Kalifornien haben die Autofahrer G. W. Anthony und Herbert Lockerbie, die beide mit GM-Campingwagen Infolge wegbrechender Räder zu Schaden kamen, in einem Musterprozeß eine Schadensersatzforderung von 427,5 Millionen Dollar eingeklagt; ein Geschädigter in Arizona klagte auf Zahlung von 190 Millionen.
"Wenn die Räder von der Sicherheitsbehörde endgültig als fehlerhaft konstruiert beurteilt werden", frohlockte Nader-Rechercheur Lowell Dodge, "dann werden die Zivil-Prozesse ganz hübsch vorankommen."