Ausdrücklich das Wort Nein
Werter Herr! Sie sind ein Handlanger der Besatzungsmacht und damit ein infamer Schurke!" Rechtsanwalt Fritz Joseph Berthold las beim Frühstück mit Vergnügen, was ihm Fritz Andres aus Thal auf einer Postkarte geschrieben hatte. "Als damaliger Wahlbeisitzer" wollte er ausgerechnet dem frühstückenden Münchener Rechtsanwalt bezeugen, die politischen Wahlen in den nationalsozialistischen Jahren seien in "Anleitung und Ausführung sauber" gewesen. Anwalt Berthold nämlich hat mit juristischer Genauigkeit das Gegenteil bewiesen.
Da schrieb im Frühjahr 1949 eine amerikanische Dame aus den Staaten an F. J. Berthold, München, Ludwigstraße 11. Sie schrieb wegen ihrer 1,2 Millionen Dollar, die im Staate Washington als "Feindvermögen" beschlagnahmt werden sollten. Die Dame hatte nach Weltkrieg Nr. 1 einen deutschen Hauptmann geheiratet und mit ihm in einem oberbayerischen Dorf gewohnt. Nach Weltkrieg Nr. 2 hatte sie Deutschland satt und remigrierte nach USA (der Gatte illegal mit).
Dort wurde sie auf "unamerikanisches Verhalten" abgeleuchtet. Ob sie an einer NS-Wahl teilgenommen habe? "Ja, einmal, 1938, nach der Besetzung Oesterreichs durch Hitler." Da sei sie vom Schlepperdienst der SA aus dem Bett zur Urne geholt worden. Sie habe aber einen weißen Stimmzettel abgegeben. (Es waren bei dieser Wahl zwei ganz verschiedene Fragen gekoppelt, die entweder en bloc zu bejahen oder zu verneinen waren: "Bist Du mit der am 13. März vollzogenen Wiedervereinigung Oesterreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?" (Ergebnis 99,75 Prozent Ja-Stimmen in Oesterreich, 99,02 Prozent in Deutschland.)
In Bayern wurde nachgeforscht, wie wohl am damaligen Domizil der Dollar-Frau gestimmt worden sei. Ergebnis: das fragliche Dorf hatte am 10. April 1938 hundertprozentig "Ja" gesagt. Unter den Ja-Sagern war also auch die ehemalige Amerikanerin, entschied, der Untersuchungsausschuß. Sie bestritt hartnäckig. Schließlich brauchten die NS-Hundert-Prozent ja nicht zu stimmen.
Anwalt Berthold wurde beauftragt, in Deutschland nach Beweisen für Wahlfälschungen und Wahlterror zu suchen. Er grub eine Hitler-Wahl-Anweisung für Kitzingen aus: "Es ist anzunehmen, daß die überwiegende Mehrheit des Volkes mit 'Ja' stimmen wird. Dem ist schon rein äußerlich dadurch Rechnung getragen, daß der Ja-Kreis größer als der Nein-Kreis ist. Nicht alle Wähler sind aber gewandt genug, viele halten es auch für überflüssig, ihr Kreuz in den Ja-Kreis zu setzen, weil es für sie ganz selbstverständlich ist, mit Ja zu stimmen.
"Solche Wahlzettel sind also nicht etwa als ungültig zu betrachten. Es kann sogar vorkommen, daß manche in der Aufregung ihr Kreuz in den Nein-Kreis setzen. Damit ist noch lange nicht gesagt, daß sie wirklich mit Nein haben stimmen wollen. Dies kann man vielmehr erst dann annehmen, wenn sie ausdrücklich das Wort Nein in den Nein-Kreis geschrieben haben."
Ein ehemaliger Wahlleiter bekannte noch obendrein, mit Radiergummi und Bleistift nachgeholfen zu haben. Fachmann Berthold konnte feststellen, daß etwa 15 Prozent der Wähler mit "Nein" stimmten. In einem Stadtbezirk von München waren es bei der Oesterreich-Wahl sogar 28 Prozent Nein-Stimmen. Da war Wilhelm Sohns, 1934 Werkzeugmacher bei den Dornierwerken am Bodensee. Der alte Reichsbannermann wählte nach Hindenburgs Tod in Immenstad: "Nein". Als er den Zettel in die Behelfsurne steckte, sah er darin eine schräglaufende Führungsleiste. Der 42. Zettel von unten mußte also dem 42. Namen in der Wählerliste entsprechen. Fünf Tage später wurde Sohns fristlos entlassen. Die Gestapo hatte ein "streng geheim" geschickt: politisch unzuverlässig.
Am Tage nach der Volksabstimmung über Hitlers Hindenburg-Nachfolge wurden in Bad Dirsdorf in Schlesien an drei Stellen des Ortes die Nein-Wähler angeschlagen. Mit der Ueberzeile "Wir Landesverräter" beginnend, dreizehn Namen: Bernhard von Plessen, Marianne von Plessen, Gustav Hoffmeister ... Pfarrer von Plessen telegrafierte sofort an "Staatssekretär Pfundtner, Reichsinnenministerium, Berlin: Wahlgeheimnis gebrochen. Neinsager angeprangert. Erbitte Schutz." Antwort kam keine.
In Heldenbergen mußten die Nein-Sager am Sonntag nach den Oesterreich-Wahlen 1938 mit "Volksverräter"-Schildern um den Hals Spießruten laufen.
Selbst die KZ-Häftlinge in Dachau sollten sich am 12. November 1933 nach Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund "für die Politik der Reichsregierung" entscheiden. Als in der Lagerschreinerei hohe schmale Kästchen mit Zwischenwänden als Urnen angefertigt wurden, wußten sie Bescheid. Und beschlossen, alle mit "Ja" zu stimmen. So konnten Rundfunk und Extrablätter verkünden: KZ Dachau 2850 Ja, 6 Nein. Die sechs Nein-Wähler wurden kurz nach der Wahl zum Prügelbunker geschafft.
Anwalt Berthold hat ähnliche Beispiele zu allen vier NS-Wahlen.*) Er will sich mit seinen Wahlfälschungsbeweisen auch nach Bonn wenden. Der Bundestag soll ganz formell feststellen, die Regierung Hitlers sei eine Diktatur ohne Legalität gewesen. Wer dagegen operierte, beging also keinen Hoch- oder Landesverrat, sondern suchte einen ungesetzlichen Zustand zu wenden. Dann hätten die Gerichte endlich eine Handhabe, die Angriffe der Neo-Nationalisten gegen aktive Hitler-Gegner zu stoppen. (Auch Anwalt Berthold war vor 1945 als Anti-Nationalsozialist im Ausland.)
Zugleich würde dadurch die deutsche Kollektivschuld offiziell verneint. Wenn Hitlers Regiment keine legale Regierung war, müßten dem deutschen Volk dieselben Rechte eingeräumt werden wie den anderen eroberten Völkern, den Oesterreichern und Tschechoslowaken, meint Berthold.
Ein Stoß eidesstattlicher Erklärungen ging nach Washington. Sie genügten als Beweise für die Wahl-Unschuld der Dollar-Frau. Aber die 1,2 Millionen Dollar sind deswegen noch lange nicht frei. Die Sucher nach "unamerikanischem Verhaten" haben nun herausgefunden, daß ihre Landsmännin wegen "Sklavenhaltung" zu belangen sei
In Oberbayern arbeitete eine dienstverpflichtete Russin bei ihr.