SPIEGEL-Gespräch mit dem Erzbischof von Olinda und Recife, Dom Helder Câmara „... WENN MAN MIR DIE NÄGEL AUSREISST“
SPIEGEL: Dom Heider, im Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten in Lateinamerika steht die katholische Kirche auf beiden Seiten der Front. Die Kirche ist Großgrundbesitzerin, ein Teil des Klerus unterstützt die Diktatoren. Es gibt aber auch Priester, die Gewalt gegen Unterdrückung gutheißen, die selbst zur Maschinenpistole greifen und in Gefängnissen des Regimes gefoltert werden. Welchen Weg wird die Kirche Lateinamerikas letztlich gehen?
DOM HELDER: Was in der Kirche Lateinamerikas vorgeht, tut sich in der Kirche der ganzen Welt. Und die Behauptung, daß die Kirche in Lateinamerika Großgrundbesitzerin ist, stimmt nur zu einem Teil. Viele Kirchengrundstücke werden unentgeltlich von armen Familien bewohnt oder bebaut. Und was die Gewalt betrifft, so erkennt die Kirche in extremen Fällen das Recht auf Gewalt als letzte Zuflucht an, als Antwort auf die Gewalt der Unterdrückung. Aber sehen Sie, wenn die Unterdrückten in Lateinamerika heute darangingen, die Waffen der Unterdrücker zu benutzen, dann wären sie nicht mehr als eine Maus in den Pfoten einer Katze. In allen Ländern des Kontinents gibt es Antiguerilla-Truppen, die eigens dazu ausgebildet sind, die Zermalmten noch mehr zu zermalmen.
SPIEGEL: Deswegen sind Sie, Dom Heider, für die Anwendung "friedlicher Gewalt" zur Änderung der ungerechten Systeme. Was verstehen Sie darunter, und wie glauben Sie, damit Systeme ändern zu können, die keinerlei Absicht haben, sich zu ändern?
DOM HELDER: Zunächst möchte ich festhalten, daß es eine Gewalt gibt, von der sich jede andere Gewalt herleitet: die Gewalt Nummer eins -- die Gewalt der Ungerechtigkeiten, die überall bestehen, die Gewalt der Unterdrückung. Die meisten meinen nämlich, wenn sie von Gewalt sprechen, bereits die Gewalt Nummer zwei -- die Reaktion der Unterdrückten, den Aufstand der Jugend gegen die ursprüngliche Gewalt, Zum Verständnis des Begriffes der friedlichen Gewalt muß man sich auch in die Situation derjenigen versetzen, die mit ihrer Geduld am Ende sind, die gezwungen werden, in den Untergrund zu gehen und sich der Gewalt zu verschreiben. Ich respektiere es durchaus, wenn jemand überzeugt ist, er müsse sich für die bewaffnete Gewalt entscheiden, Ich respektiere überhaupt jeden, der seinem Gewissen folgt. Dennoch ziehe ich die friedliche Gewalt vor,
SPIEGEL: Und was ist das, diese friedliche Gewalt?
DOM HELDER: Lassen Sie mich das später erklären. Ich bin für die friedliche Gewalt aus tiefgehenden persönlichen und religiösen Gründen. Wenn
* Mit Lutz Bindernagel und Siegfried Kogelfranz.
ich zusehen muß, wie Jugendliche, wie ganz junge Burschen und Mädchen ihr Leben riskieren, um Banken oder Kasernen zu überfallen, wie sie sich dann mit gekauften oder erbeuteten Waffen der gutgedrillten Armee entgegenstellen, dann weiß ich doch, wie wenig sie ausrichten können. Ich will sie nicht davon abhalten, vor allem, wenn ich sehe, mit welchem Heroismus sie ans Werk gehen, und wenn sie dann auch noch solche Erfolge erzielen wie die Entführung von Botschaftern. Aber was kommt danach? Dann werden sie ins Gefängnis gesteckt, gefoltert; man bringt sie dazu, Namen von Kameraden zu nennen; alles war letztlich vergebens. Deswegen ist die friedliche Gewalt keine Utopie, die darauf abzielt, die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die es in den entwickelten Ländern genauso gibt wie in den unterentwickelten. Dafür müssen sich alle zusammenfinden, ohne Unterschied von Parteien und Religionen, alle, denen Gerechtigkeit und Frieden am Herzen liegen, alle, die wie ich noch daran glauben, daß es eine moralische Kraft in der Welt gibt. Wir müssen eine Änderung der Strukturen erreichen, bei den Unterentwickelten wie bei den Entwickelten. Denn ohne entscheidende Veränderungen beispielsweise in der Struktur der internationalen Handelsbeziehungen wird es keine Änderungen in den unterentwickelten Ländern geben.
SPIEGEL: Dies ist eine Ihrer bekanntesten Thesen: daß die Unterdrückung nicht nur von innen kommt, sondern auch von außen, daß die Unterentwickelten durch die Handelspolitik der Industrieländer ausgebeutet würden. Sind die Milliarden-Investitionen der USA in Lateinamerika, ist beispielsweise auch das VW-Werk in Säo Paulo ein Werkzeug der Unterdrückung?
DOM HELDER: Wenn das Geld, das die Industrieländer investieren, zurückfließt und dazu noch Blut, Schweiß und Tränen jener mitnimmt, denen es angeblich zugute kam, dann ist es Unterdrückung. Die Nordamerikaner haben in den letzten 15 Jahren in Lateinamerika drei Milliarden Dollar investiert, aber sie haben im gleichen Zeitraum elf Milliarden Dollar aus Lateinamerika herausgeholt. Was das Volkswagenwerk in Säo Paulo betrifft, so habe ich keine Angaben, um beurteilen zu können, ob es eine wirkliche Investition oder Ausbeutung unter dem Deckmantel der Investition ist.
SPIEGEL: Wie sollen auf diesem Gebiet, wie sollen überhaupt grundsätzliche Änderungen erreicht werden und wer soll sie erreichen?
DOM HELDER: Die großen Religionen in der Welt haben eine enorme Verantwortung in dieser Entwicklung. Die größte Verantwortung fällt sicher dem Christentum zu. Denken Sie doch nur daran, daß 20 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent allen Reichtums der Erde in ihren Händen haben. Und diese 20 Prozent waren oder sind heute noch Christen. Welche Verantwortung ist das für ein Christentum, dem es nicht gelungen ist, das Gewissen, die Intelligenz oder, wenn Sie so wollen, die Herzen dieser 20 Prozent anzusprechen. Dem Christentum in Lateinamerika ist es bis heute nicht gelungen, das Gewissen der Reichen in unseren Ländern wachzurütteln. Wir müssen uns fragen: Was haben wir aus der Welt gemacht?
SPIEGEL: Sie selbst, Dom Heider, tun ja etwas. Sie gelten in der Welt als progressiver Bischof, Ihren rechten Feinden sogar als Kommunist im schwarzen Rock. Und Sie sind nicht der einzige fortschrittliche Bischof in Lateinamerika. Bischof Fragoso im nordostbrasilianischen Staat Ceará hat Grundbesitz der Kirche an die Landlosen verteilt und bemüht sich, das politische Bewußtsein in seiner Diözese zu wecken. Sind das Vorboten eines neuen Christentums?
DOM HELDER: Ich höre es gern, daß Sie Bruder Fragoso erwähnen, und ich könnte Ihnen noch andere Namen nennen. Aber ich wehre mich gegen den Ausdruck "neues Christentum". Wir brauchen gar kein neues Christentum, keinen neuen Heiland. Jesus Christus genügt uns für alle Zeiten, wir müssen ihn nur besser verstehen. Früher hat die Kirche zum Beispiel in Brasilien die Versklavung der afrikanischen Neger akzeptiert, drei Jahrhunderte lang. Und nach der Versklavung der Afrikaner akzeptierten wir die nationale Sklaverei. Und solange eine Kirche das tut, nicht nur in Brasilien. nicht nur in Lateinamerika, so-Lange sie Autorität und die soziale Ordnung anerkennt und nur Geduld und Vorsicht predigt, so lange sind die Regierenden sehr zufrieden mit der Kirche. Wenn wir aber endlich dahin kommen, zu begreifen, daß die sogenannte soziale Ordnung in Wahrheit eine soziale Unordnung ist, weil sie wenige Reiche im Überfluß und Millionen im Elend leben läßt, wenn wir anklagen, wenn wir für Änderungen eintreten, dann stellt man uns sofort als subversive Kräfte hin, sogar als Kommunisten. Welche Absurdität! Unter dem Vorwand, den Kommunismus abzuwehren, werden unmenschliche Strukturen aufrechterhalten.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft auf diesem Kontinent über eine Aktionseinheit zwischen Kirche und Kommunismus führt, eine Aktionseinheit, die es zuweilen in kleinem Rahmen schon zu geben scheint -- zum Beispiel, wenn Priester und Kommunisten wie in Rio gemeinsam demonstrieren oder wenn kommunistische Zellen ihre Versammlungen in der Kirche abhalten?
DOM HELDER: Auf unserer Seite, auf der Seite derjenigen, die mit friedlicher Gewalt die Strukturen verändern wollen, stehen auch Marxisten, und das ist sehr wichtig. Denn auf den ersten Blick scheint es ja so, als sei der Sozialismus die Lösung. Theoretisch könnte man den Marxismus ja so interpretieren, daß er humaner ist als der Kapitalismus, weil er den Mut hat, den Menschen über das Kapital zu stellen. Aber wenn wir auf die beiden großen Staaten mit marxistischer Erfahrung, Sowjet-Rußland und Rotchina, blicken, was dann? In der Zeit nach der Revolution erzielten beide verblüffende Leistungen. Aber die Träume des Sozialismus blieben unerfüllt. Die angeblich marxistischen Mächte verfechten ebenso imperialistische Standpunkte wie die Kapitalisten. Auch die Marxisten konnten ihre Theorien nicht in die Tat umsetzen.
SPIEGEL: Und die Kirche? Wenn wir an die Konzilsbeschlüsse, an die fast revolutionären Theorien der lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellin im Jahr 1968 denken, die sogar Gewalt gegen Unterdrückung guthieß ...
DOM HELDER: ... es gibt immer grelle Unterschiede zwischen theoretischen Beschlüssen und ihrer tatsächlichen Ausführung. Die Katholiken Lateinamerikas schmerzt die Nichterfüllung der guten und schwerwiegenden Beschlüsse von Medellin. Aber ähnliche Sorgen haben auch unsere protestantischen Brüder in Europa mit den Beschlüssen der Konferenz von Uppsala. Und welcher Staat etwa hätte sich geweigert, die fundamentalen Menschenrechte anzuerkennen -- welches Land aber hält sich daran?
SPIEGEL: Ihr Heimatland jedenfalls nicht. In Brasilien wird gefoltert, und das seit Jahren. Weshalb hat die Kirche so lange dazu geschwiegen?
DOM HELDER: Es scheint mir eigenartig, daß diese Frage gerade aus Deutschland kommt, einem Volk, das so schreckliche Erfahrungen mit der nazistischen Herrschaft gemacht hat. Haben die Deutschen denn vergessen, daß unter Ausnahmeregimen, so sehr man auch versucht aufzuschreien, die Presse nur veröffentlicht, was die Regierung duldet? Auch der SPIEGEL, obwohl eine der größten Zeitschriften der Welt, kann sich nicht ganz frei dünken von der Gefahr, seine Freiheit der Information und der Kritik einzubüßen, falls Deutschland eines Tages in die Diktatur zurückfiele. Und auch der SPIEGEL muß wissen, daß selbst unter demokratischen Regierungen die Freiheit der Journalisten relativ ist; sie endet dort, wo das Interesse der Unternehmer beginnt. Kennt man im übrigen in Deutschland nicht die Proteste der brasilianischen Bischofskonferenz gegen die Folter?
SPIEGEL: Doch, wir kennen aber auch die Beschwichtigungsversuche beispielsweise des Erzbischofs von Sao Paulo, Agnelo Kardinal Rossi, der meinte, für "einzelne" Übergriffe könne man nicht die Regierung verantwortlich machen.
DOM HELDER: Sehen Sie, unsere Regierung hat immer erklärt, es gäbe bei uns weder politische Gefangene noch Folterungen. In Paris aber lernte ich den Bericht einer internationalen Juristen-Kommission kennen, wonach es in Brasilien 12 000 politische Häftlinge gibt, von denen viele gefoltert werden. Nun möchte ich als Brasilianer keine Aussagen machen, die sich gegen mein Land oder gegen mein Volk richten. Aber ich habe gesprochen, weil es unglaublich gewesen wäre, wenn ich geschwiegen hätte. Wie kann man gegen die Vereinigten Staaten sprechen, wie kann man den entwickelten Ländern harte Wahrheiten sagen, wenn man nicht den Mut besäße, ein klares Wort über das eigene Land zu sprechen? Ich hoffe, daß meine Regierung nun die Notwendigkeit begreift, einer Abordnung des Internationalen Roten Kreuzes die Gefängnistore zu öffnen.
SPIEGEL: Bisher hat sich die Regierung Brasiliens wenig um Proteste gekümmert.
DOM HELDER: Ja, aber sehen Sie, es gab in der Weltpresse Schlagzeilen. Unter solchem Druck hat seinerzeit auch die griechische Regierung eine Mission des Internationalen Roten Kreuzes akzeptiert. Die Folterungen müssen aufhören. Ich sprach einmal selbst darüber mit einem Vertreter unserer Obrigkeit. Ich sagte ihm, daß ich es unglaublich fände, daß es in unserer Stadt Folterungen gibt. Darauf erwiderte er: "Was wollen Sie eigentlich? Kennen Sie ein anderes brauchbares Mittel. um Informationen zu erhalten, die vielleicht entscheidend sind für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit?" Darauf konnte ich ihn wiederum nur fragen, wie er in Informationen, die einem Menschen mit brutaler Gewalt entrissen werden, auch nur einen Funken Glauben setzen könne. Ich weiß nicht, wozu ich in der Lage wäre, wenn man mir meine Nägel ausreißt, wenn man mir die Hoden zerquetscht.
SPIEGEL: Dom Heider, müssen Sie nicht beinahe fürchten, eines Tages in eine solche Situation zu kommen? Einer Ihrer engsten Mitarbeiter, der Studentenpriester Pereira Neto, wurde von Rechts-Terroristen ermordet. Ihre Residenz wurde mehrmals beschossen, Ihre mutige Auflehnung gegen den Terror von oben bringt Ihnen immer mehr Feinde ein. Fürchten Sie um Ihr Leben?
DOM HELDER: Mein Leben, wie das aller Menschen, ist in der Hand Gottes. Sehen Sie, ich habe nur noch wenige Haare. Kein einziges ist mir ohne den Willen Gottes ausgefallen; keines von denen, die mir noch geblieben sind, wird ohne seinen Willen ausfallen. Ich glaube nicht, daß ich das Martyrium verdiene. Aber wenn mein Leben als Opfer verlangt wird wie das von Gandhi oder Martin Luther King, dann bin ich bereit, damit es in der Welt mehr Gerechtigkeit und Liebe gibt.
SPIEGEL: Dom Helder, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.