HANDSCHELLEN-GESETZ Leichnam beiseite
Brandt-Gehilfe Horst Ehmke riet seinem Chef zur Notlüge: "Wenn Stoph darauf kommt, reicht es dann nicht einfach, wenn wir ihm erklären, daß das Gesetz aus der Welt geschafft wird und die parlamentarischen Vorbereitungen schon laufen?"
DDR-Ministerpräsident Willi Stoph kam darauf. Nach Tisch bei einer Tasse Kaffee im "Erfurter Hof" am Donnerstag letzter Woche sprachen die beiden Regierungschefs über eine innerdeutsche Peinlichkeit, die schon einmal der Ostseite als Vorwand für die Absage eines deutschen Dialogs gedient hatte: "das unglückselige Freistellungsgesetz" (Bundesjustizminister Gerhard Jahn).
Im Juni 1966, anläßlich des geplanten Redneraustausches zwischen SPD und SED, hatte der Bundestag ein "Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit" beschlossen, Die Novelle sollte DDR-Politiker, gegen die in der Bundesrepublik Strafanträge vorliegen, vor dem Zugriff westdeutscher Staatsanwälte schützen. SPD-Sprecher Gerhard Jahn damals im Bundestag: "Die Fraktion der SPD begrüßt das Zustandekommen des Gesetzes," Das Gesetz schaffe "eine Voraussetzung im freien Teil Deutschlands dafür, daß der offene Austausch von Argumenten in ganz Deutschland möglich wird".
Jahn irrte: Die SED-Führer sahen In dem "Handschellengesetz" einen "diskriminierenden Akt" und brachen die Kontakte zur SPD ab. Die DDR-Nachrichten-Agentur ADN konstatierte, die Gesetzesmacher hätten "offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank", und SED-Funktionäre entrüsteten sich, "freies Geleit" werde gemeinhin nur Verbrechern zugestanden.
Neuen Schwierigkeiten mit dem Gesetz versuchte Brandt schon in Erfurt vorzubeugen. Der Kanzler zu Stoph: "Für mich steht fest, daß wir uns wiedersehen, und wir werden alle Voraussetzungen dafür schaffen." Dazu gehöre vor allem das "Handschellengesetz", dessen Beseitigung von der Bundesregierung schon eingeleitet sei. Stoph war zufrieden: "Ja, das wäre gut."
Die Regierungschefs täuschten sich über die juristische Lage. Bedürfte es noch des "Handschellengesetzes"' um westreisende DDR-Bürger vor Verhaftung zu bewahren, dann müßte es auch auf DDR-Ministerpräsident Stoph angewendet werden. Keinesfalls könnte -- wie von Brandt äußerstenfalls einkalkuliert -- die Bonner Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts den DDR-Politiker vor westdeutschen Staatsanwälten schützen. Aber -- was weder Brandt noch Stoph beim Erfurter Kaffee-Plausch klar war -- schon seit zwei Jahren bedarf es des "Handschellengesetzes" nicht mehr. Damals hatte die Große Koalition im Hinblick auf mögliche Innerdeutsche Kontakte in einer Novelle zur Strafprozeßordnung das Opportunitätsprinzip, das bisher nur bei der Verfolgung im Ausland begangener Straftaten galt, durch Umformulierung auf alle Delikte ausgedehnt, die "außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches dieses Gesetzes" begangen worden sind. Damit können DDR-Täter seit dem 1. August 1968 auf Weisung des zuständigen Landes-Justizministers außer Verfolgung gesetzt werden.
Seither gilt das umstrittene Freistellungs-Gesetz als juristische Leiche. Jurist Jahn: "Da die andere Seite das Gesetz als diskriminierend empfindet und wir es nicht brauchen, können wir einfach darauf verzichten."
Gleichwohl konnte sich das Kabinett bislang nicht entscheiden, den Leichnam beiseite zu schaffen. FDP-Bundesminister Hans-Dietrich Genscher plädiert aus Gründen der politischen Opportunität dafür, das Gesetz vorläufig nicht anzutasten. Denn, so Genschers Argument, wenn die Bundesregierung sich erst einmal dazu verstehe. ein von der DDR attackiertes Gesetz zu kassieren, dann gebe es kein Halten mehr.
In der Tat hat Ost-Berlin bereits zehn bundesdeutsche Gesetze namhaft gemacht, von denen sich die DDR diskriminiert fühlt und die sie geändert sehen möchte, darunter das Staatsangehörigkeits-, das Paß- und das zweite Strafrechtsreform-Gesetz. Selbst das Umsatzsteuer-Gesetz steht, weil es sich auf "die Grenzen vom 31. Dezember 1937" bezieht, auf der Ost-Berliner Beschwerdeliste.
Um dennoch einer nachträglichen Absage Stophs zu entgehen, will die Bundesregierung noch vor dem Kasseler Treffen das parlamentarische Verfahren zur Liquidierung des Gesetzes einleiten. Ob und wann der Bundestag die toten Paragraphen tatsächlich kassiert, bleibt ungewiß.