PARTEITAGE / SPD HESSEN-SUD List vom Land
Im Kurhaus zu Wiesbaden, unter zehn glitzernden Kronleuchtern, ging es ländlich zu. Das Gros der 269 Delegierten auf dem Parteitag des zweit- und lautstärksten SPD-Bezirks Hessen-Süd (75 000 Mitglieder) kam aus Regionen, in denen, wie Hanaus Landrat Martin Woythal versicherte, Sozialdemokraten noch "ständig das Ohr am Volk haben", und nicht aus urbanen Gebieten, wo SPD-Parlamentarier "fast von der Straßenbahn aus Politik machen könnten.
"In Frankfurt", sagte ein Landmann, "gibt es eine Parteizentrale, die agiert und mit dem Unterbezirk Schach spielt, und wir Genossen draußen sind die Bauern." Und weil viele empfanden wie er, ruckte ein Eckstein sozialdemokratischer Parteistruktur: In Südhessen' dort, wo seit je die Mitgliedschaft links vom Bonner Kurs steuerte und SPD-Politiker noch immer Genossen waren, kamen vorletztes Wochenende Rechte an die Macht.
Zunächst freilich bot sich die Runde progressiv dar. "Überall", beteuerte der Bezirksvorsitzende, Ministerpräsident Albert Osswald, "ist die freiheitlich-demokratische sozialistische Gesellschaft im Aufbau." Und unter dem Tagungsmaterial der Delegierten -- insgesamt 1,8 Tonnen -- lagen fortschrittliche Papiere zur Deutschland- und Vermögenspolitik, zu Hochschule und Bundeswehr.
Der Unterbezirk Dieburg forderte "die Emanzipation der Lohnabhängigen durch Aufhebung der Fremdbestimmung", Die Genossen aus Büdingen sprachen sich für ein "weltweites Verbot ... chemischer und bakteriologischer Waffen" aus. Die Untertaunus-Delegierten wollten kostenlose Trinkmilch für Schüler im EWG-Bereich. Und Gießen-Nord beantragte, "den gesamten Waldbesitz in Gemeineigentum zu überführen".
Doch am zweiten Tag wurden im Kursaal gleich reihenweise die Parteikarrieren profilierter Linker, die zumeist in den Unterbezirken Frankfurt und Wiesbaden beheimatet sind, vom Stimm-Kartell der Hinterländler gestoppt.
Nicht wiedergewählt wurden beispielsweise sieben der 13 bisherigen Beisitzer im Vorstand -- darunter Frankfurts SPD-Chef Walter Möller, der "einen emotionalen Schlachtruf gegen die Städte" registrierte, der vormalige Justiz-Reformer und jetzige Verwalter des Innenressorts im Kahlnett Osswald, Dr. Johannes Strelitz, der quicke Landtagspräsident Georg Buch sowie der ehemalige Staatssekretär des pensionierten Landesherrn Zinn, Willi Birkelbach.
Und erst als Albert Osswald Order gegeben hatte, erreichte auch eine linke Auswahl ihr Ziel: Wirtschaftsminister Rudi Arndt, die Dozentin Vera Rüdiger, MdB Dietrich Sperling und, als "linkes Feigenblatt" ("Frankfurter Rundschau"), der südhessische Jungsozialisten-Vorsitzende Gerd Lütgert.
Die List vom Land war lange geplant: Die hessischen Landboten -- gelenkt von den Neu-Kandidaten und Landräten Martin Woythal (Hanau), Dr. Herbert Günther (Untertaunus-Kreis) und Gustav Hoffmann (Erbach) -- hatten bei vertraulichen Treffs im Odenwald, in Gießen, Wiesbaden und Frankfurt einschlägige Kandidaten-Listen erdacht. Die DIN-A4-großen rosaroten Stimm-Kladden waren unterderhand vor dem ersten Wahlgang verteilt worden.
Anlaß zu der Protestwahl des Landvolks hatte nicht nur der überkommene Konflikt zwischen Parteiprovinzlern und Großstadt-Funktionären geboten. Die Kurskorrektur, im Delegiertenmund bald "Bauernaufstand" genannt, erschien den Ländlern der Südhessen-SPD vor allem wegen der im November anstehenden Landtagswahlen angezeigt.
Daß "pragmatische sozialdemokratische Politik" erfolgreich sein kann, möchte den Wählern Hanaus Woythal demonstrieren, der sich jüngst mit einem Braintrust aus Soziologen und Ökonomen umgab: Bis zum Herbst werden zwei von acht hessischen Gesamtschulversuchen in seinem Landkreis laufen, in dem 72 Prozent der Schüler durch Einführung von Förderstufen weiterführende Schulen besuchen.
Und Landrat Günther, in dessen Kreis seit 1963 allein 53 Zwergschulen aufgelöst wurden, sorgt sich: "Unser guter Ausgangspunkt bei der Wahl ist gefährdet durch Leute, die sich politisch der Stadt Utopia nähern und die Basis des Godesberger Programms wieder einschrumpfen lassen." Gemeint sind etwa solche Parteilinke wie die vom Unterbezirk Frankfurt, die unlängst ultimativ die Ablösung des Frankfurter Polizeipräsidenten Gerhard Littmann gefordert hatten -- unter anderem mit der Begründung, Littmanns Uniformierte hätten sich rebellierenden Studenten gegenüber zu rabiat verhalten.
Die kommenden Landtagswahlen waren es schließlich auch, die der düpierten Linksfraktion im Wiesbadener Kursaal Räson abzwangen: Impulse, wie jüngst die Berliner Genossen protestierend die Tagungsstätte zu verlassen, wurden rasch unterdrückt.
Abends, heim Äppelwoi Im Vorstadtlokal "Zum Hirschen", sinnierte Südhessens Karsten Voigt, Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, wie die siegreiche Rechte im immer noch recht linken Bezirk wieder aufzurollen sei: "Wir müssen halt künftig durch punktuelle Kritik eine Solidarisierung schaffen."