TSCHERNYSCHOW Hand an der Wand
An einem nebligen Novembertag zogen sowjetische Spitzengenossen zum Moskauer Jungfrauenkloster. Auf dem Friedhof vor der Klostermauer begruben sie einen Spitzengenossen.
Seine Asche hätte eigentlich in die Kreml-Mauer eingefügt werden müssen. Darauf hatte der verstorbene Genosse Wassilij J. Tschernyschow, 61, wegen seines hohen Ranges Anspruch: Er war Vollmitglied des Zentralkomitees der KPdSU, und das seit 17 Jahren -- länger als sechs der elf Mitglieder des obersten Machtorgans, des vom ZK gewählten Politbüros.
Seit Stalins Tod 1953 wird die Urne aller toten ZK-Mitglieder (bisher 19) am Kreml eingemauert, wenn sie ihren Wohnsitz in Moskau hatten -- und wenn sie ehrenhaft verstorben sind. Die Ruhestätte der hingerichteten ZK-Genossen Berija (1953) und Bagirow (1956) ist unbekannt. Ein Begräbnis zweiter Klasse findet auf dem Jungfrauen-Friedhof ("Nowodewitschije") statt.
Hinter die roten Ziegelmauern des Klosters flüchtete einst Rußlands Regentin Sophia vor ihrem Bruder Peter 1. Der nahm dort 300 Partisanen ("Strelitzen"), die Sophia schützen wollten, fest und ließ die Hand des Anführers an die Wand der Zelle Sophias nageln.
Die Kommunisten lassen im Klostergarten heute Genossen aus dem ZK begraben, die unter besonderen Umständen aus dem Leben schieden:
* die Professorin Anna Pankratowa, 60, Chefredakteurin des Fachblatts "Fragen der Geschichte"; sie starb 1957, wenige Wochen nach einer ZK-Rüge an ihrer Zeitschrift wegen "ideologischer Fehler".
* der Wirtschaftsfunktionär Sassjadko, 53, der 1963 "plötzlich" starb, nachdem er ein Jahr zuvor als Vizepremier von Chruschtschow entlassen worden war,
* der Schriftsteller Fadejew, 55; er beging 1956 kurz nach seiner Degradierung vom ZK-Vollmitglied in den Kandidatenstand Selbstmord.
* Der Admiral Fokin, 58, der 1964 unter unbekannten Umständen verstarb.
Die Todesursache des jetzt bestatteten Wassilij Tschernyschow ist gleichfalls unbekannt. Zehn Jahre lang war er Parteichef des sowjetischen Küstengebiets Wladiwostok, das im Westen am Grenzfluß Ussuri endet.
Tschernyschow wußte genauer als die Männer im fernen Moskau, was am 2. März vorigen Jahres am Ussuri wirklich vorgegangen ist: Er war dort der höchste Funktionär am Ort, der in die Operationen der Grenzsicherungstruppen des Komitees für Staatssicherheit (KGB) und der Militäreinheiten am Ussuri Einblick hatte. Er konnte beurteilen, ob das Gefecht mit den Chinesen herausgefordert oder unnötig eskaliert worden war.
Tschernyschow wurde nach den Ussuri-Schüssen von Moskauer Tauben hofiert -- sogar seine Grabstätte war noch eine Auszeichnung. Gebietsparteichefs, die außerhalb Moskaus arbeiten, werden bei Ableben gemeinhin in ihrer Provinz bestattet. Es waren in der Nach-Stalin-Ära indes nur zwei, die dem ZK angehört hatten:
* Der Parteisekretär von Rjasan, Larionow, 53; nach scharfer öffentli-
* Oben: Grab von Stalins Frau; unten v. l. n. r.: die Gräber von Smidowitsch, Altbolschewik; Iwan Towstucha, Privatsekretär Stalins; Fritz Häckert, deutscher Kommunist; Alexander Karpinski, Präsident der Akademie der Wissenschaften; Sergej Kamenew, Armeegeneral.
cher Kritik an den Zuständen auf den Kolchosen seines Gebiets nahm er sich 1960 das Leben.
* Der Parteisekretär von Kujbyschew, Muryssew, 47; ihm wurde 1962 wegen Versäumnissen bei der "ideologischen und politischen Erziehung der Arbeiter" des Industriereviers Kujbyschew -- wo es zu Streiks gekommen war -- vom ZK eine Rechtfertigungsfrist gesetzt. Kurz vor deren Ablauf starb Muryssew. Tschernyschow starb nach einer Meldung des Moskauer Reuter-Korrespondenten an einem "Herzanfall", laut offiziellem Kommuniqué jedoch nach "ernster, langer Krankheit.
Sehr lange kann Tschernyschows Krankheit nicht gedauert haben, denn einige Wochen nach dem Ussuri-Zwischen! all hatte Tschernyschow noch eine der wichtigsten Machtpositionen in Moskau erhalten: Er stieg zum Vize-Vorsitzenden des "Komitees für Parteikontrolle" beim ZK auf.
Chef dieser obersten Untersuchungs- und Schiedsinstanz, die über die geheimen Dossiers und Kader-Akten aller Parteifunktionäre verfügt, ist der Konservative Arwid Pelsche, 71, der bald in den Ruhestand tritt. Im Politbüro, das sich in je fünf Vertreter des Parteiapparats Breschnews und des Staatsapparats Kossygins teilt, ist Pelsche der elfte Mann, dessen Stimme -- bisher meist zugunsten der Partei-Apparatschiks -- den Ausschlag gab. Tschernyschow aber hatte die Chance, bald an Pelsches Stelle zu treten.
Auf seinen aussichtsreichen Posten einer Schlüsselrolle im Kreml hatte den Ussuri-Mann das Politbüro-Mitglied Masurow geschoben, der Stellvertreter des Premiers Kossygin. Masurow kannte Tschernyschow gut: Sie fochten beide während des Krieges zusammen als Partisanen. Und nach dem Krieg war Tschernyschow im ZK-Sekretariat der bjelorussischen KP in Minsk sogar der Vorgesetzte Masurows.
Nun liegt Tschernyschow auf dem Friedhof, den Moskaus Bürger auf Sonntagsspaziergängen besuchen, um vielen Prominenten ihres Landes wenigstens nach deren Tod zu begegnen -- so der Ehefrau Stalins, Nadeschda Allilujewa, "deren Grab eine weiße Mädchen-Skulptur ziert.
Beim Begräbnis Tschernyschows am 17. November waren fast alle Mitglieder des Politbüros erschienen -- mit Ausnahme des konservativen Ukraine-Parteisekretärs Schelest, der auf seinem Dienstsitz in Kiew weilte, und eines Mannes, der in Moskau war, aber offenbar demonstrativ nicht erschienen war: Parteichef Breschnew.
Ob Breschnew die Ehrenbezeigung vermied, weil der Tod des Ussuri-Parteisekretärs für Breschnew kein Trauertag war, ist unbekannt.
Doch Tschernyschows Ende könnte einen Rächer auf den Plan gerufen haben, dem neuerdings scharfe Opposition gegen Breschnew nachgesagt wird: Tschernyschows Gönner Masurow.