STEUERN / FRANKREICH Okkulter Kreislauf
Wir Franzosen", witzelte Frankreichs Staatspräsident Georges Pompidou, "haben uns im Laufe der Jahrhunderte mit vielen Erbfeinden herumgeschlagen. Aber ein Erbfeind ist uns geblieben: der Fiskus."
In der Tat: So heftig einst die Franzosen gegen die Steuerfron des ancien regime aufbegehrten, so hartnäckig verteidigen seine Besitzbürger heute ihre Brieftaschen gegen die Republik. "In fiskalischen Angelegenheiten", erläuterte der Pariser "Express" den ungebrochenen Kampfgeist' "denken die Franzosen weder logisch noch moralisch."
Auf offener Straße zerlegten sie letzten Sommer in Lyon den 2-CV-Kleinwagen einer hartherzigen Finanzbürokratin. Und ebenfalls in Lyon unternahmen sie in diesem Februar sieben nächtliche Sprengstoff-Attentate auf ihre Finanzkassen.
In den Provinzen südlich des Loire-Bogens, wo die anarchischen Volkstraditionen am lebendigsten sind, formierten sich neue Steuerfronten zum Aufbruch gen Norden.
Dort trommelte der Papierwarenhändler Pierre Poujade, der das Parlament in den 50er Jahren als Chef einer "Union zur Verteidigung der Händler und Handwerker" unter Druck gesetzt hatte, zum Aufstand gegen die oberste Steuerbehörde des Landes, das Pariser Finanzministerium. Dort mobilisierte auch letztes Jahr ein neo-poujadistisches "Mouvement La Tour-du-Pin" die Kleingewerbler zur fortgesetzten Steuer-Résistance. In der vergangenen Woche explodierte der lang angestaute Steuer-Unmut. Mit Pflastersteinen, Straßensperren und Knüppeln protestierten Krämer gegen die ihrer Meinung nach zu hohe Mehrwertsteuer.
Den wirksamsten Widerstand jedoch üben die Franzosen lautlos -- an der geheimen Front des Steuerbetrug. Nach vorsichtigen Schätzungen gelingt es ihnen laut "L'Express" immerhin, zehn bis fünfzehn Prozent des jährlichen Steuersolls einzubehalten. Auf den Staatshaushalt 1970 umgerechnet, wären das 17 bis 25 Milliarden Franc. Die Regierung könnte dafür die doppelte Zahl von Lehrern besolden oder 5000 Kilometer Straßen bauen.
Solche Riesen-Fehlbeträge freilich nimmt nur eine Nation ohne Aufschrei in Kauf, die den Steuerbetrug bis in die höchsten Spitzen der Gesellschaft hinein kultiviert hat.
So erklagte sich die Witwe eines Medizin-Professors den bisher höchsten Schadenersatz für einen tödlichen Jagdunfall -- eine Million Franc. Ihre Begründung vor Gericht: Der verblichene Gatte habe weit höhere Honorare eingestrichen als versteuert.
1968 ließ der damalige Finanzminister Michel Debré die allgemeine Steuermoral testen. Er fand sie so niederschmetternd, daß er das Umfrage-Ergebnis verheimlichte. Erst Nachfolger Valéry Giscard d'Estaing, der mit dem jahrhundertealten Übel der Franzosen aufräumen will, machte jetzt die Umfrage-Ergebnisse publik:
Danach hielten 52 Prozent aller Franzosen die Steuerhinterziehung im Lande für "weit" oder "sehr weit" verbreitet. Nur knapp jeder vierte nannte es Diebstahl, gesetzliche Abgaben zu hinterziehen. Zehn Prozent der Befragten verurteilten es als unmoralisch, fünf Prozent als Sünde. Umgekehrt zahlte nur einer von zehn ehrlichen Bürgern seine Steuern aus Überzeugung. Die übrigen neun enthielten sich des Betrugs, weil sie nicht schummeln konnten oder weil ihnen Schwindeleien zu riskant erschienen.
Kein Grund zum Verzweifeln: Der Pariser Verlag Denoel leistet Betrugsbeistand. Unter dem Titel "Wie lebe ich über meine Verhältnisse" empfehlen zwei Juristen in einer Broschüre (13,50 Franc) Steuerschuldnern eine "Politik der verbrannten Erde und des permanenten Guerilla-Krieges".
"Wachsamkeit zu jeder Minute" sei am Platze, um die Neugier des Steuerinquisitors gar nicht erst zu erregen. So warnen die Autoren zum Beispiel vor dem altmodischen Trick. die Privatjacht in Cannes als betriebseigene "Segelschule" abzubuchen. Auch sei es nicht mehr zeitgemäß, das private Landhaus als "Warendepot", "Erholungsheim" oder "Kulturzentrum" zu deklarieren -- wie das noch vor Jahren mit der Hälfte aller Sommerresidenzen im Paris-nahen Département Seine-et-Olse geschah.
Statt dessen raten die Autoren André Calles und Dominique Eudes dazu, ein "historisches Monument" zu erwerben oder den ersten Wohnsitz vorübergehend aufs Dorf zu verlegen. So ließen sich Installations- und Unterhaltungskosten eines Landschlößchens ebenfalls steuerlich absetzen.
Solche Tricks sind nur Besitzbürgern möglich, die ihr Jahreseinkommen selbständig veranschlagen dürfen. Die Masse der lohnabhängigen Steuerzahler hingegen hat brav zu zahlen, weil -ähnlich wie in der Bundesrepublik -- der Arbeitgeber ihre Bezüge dem Finanzamt meldet. Zur Gegenkontrolle durchleuchtet der Steuerinspektor überdies ihren Lebensstandard. Auch auf dem vereinfachten Formblatt Nummer 2043 der Jahresdeklaration 1989 werden Kleinstverdiener über ihren privaten Fuhrpark und ihr Hauspersonal sowie über den Besitz von Rennpferden, Privatflugzeugen oder Jagdgründen vernommen.
Betrugsexperten meinen allerdings. daß höchstens ein Hundertstel aller Staatsverluste auf das Konto jener Amateur-Hinterzieher kommt. Denn ähnlich wie in Westdeutschland arbeiten auch in Frankreich die professionellen Grollbetrüger mit wissenschaftlich verfeinerten Methoden.
Jean Cosson, stellvertretender Generalstaatsanwalt am Pariser Appellationshof, identifizierte die Zapfstellen: "Industrie-Unternehmen und Handelsgesellschaften, von denen einige zu den bedeutendsten des Landes gehören." Diese ehrbaren Firmen verheddern sich nicht im Fahndungsnetz, weil sie ihre Betrugsmanöver von vornherein durch eine makellose Buchhaltung abzuschirmen wissen.
Im Richterblatt "Gazette du palais" schildert Cosson, wie in einem okkulten Kreislauf Warenlager und Barschecks hin- und hergeschoben werden. Als Geschäftspartner dienen eigens gegründete "Taxi"-Firmen, die fiktive Millionenoperationen mit entsprechenden Belegen decken.
Mit herkömmlichen Fahndungsmethoden vermochte Frankreichs Finanzbürokratie dieses "mysteriöse Universum" ("Le Monde") bislang. nicht zu durchleuchten. Cosson fordert deshalb, endlich mit rigoroseren Methoden gegen diese "Subversion der Wirtschaft" einzuschreiten.
Finanzminister Giscard hofft auf eine Elektronik-Waffe. Er will die Steuerüberwachung bis 1975 auf ein Computer-gesteuertes Zentralsystem umstellen und den schwerfälligen Beamtenapparat (derzeit 62 000 Bedienstete) straffer organisieren.
Giscard glaubt, auch die Steuermoral des Volkes heben zu können. Auf den neuesten Steuerformularen, die jetzt den 20 Millionen abgabepflichtigen Franzosen zugingen, versprach er ihnen mit eigener -- faksimilierter -- Unterschrift, sie vom lästigen Papierkrieg zu erlösen. Und vor den Mikrophonen Radio Luxemburgs spielte der oberste Steuereintreiber kostenlos Helfer in Steuersachen. Zum Ansporn für alle zahlungsunwilligen Steuerpflichtigen diktierte er Anfang des Monats dem Bürger Charles Pascal die Steuererklärung für 1969.