Heinrich Böll über Alexander Solschenizyn: „Im Interesse der Sache“ LEIDEN, ZORN UND RUHE
Der Titel dieses Erzählungsbandes ist in mancherlei Hinsicht auf Alexander Solschenizyns Gesamtwerk anwendbar, auch auf den Streit um ihn, der ja der Frage gilt: Welchem Interesse dient dieser Autor?
Dienen die europäischen und amerikanischen Nachkriegsliteraturen den "Interessen" ihrer Länder? Keine Spur davon. Würde Nixon meinen, Selby diene dem nationalen Interesse, und hätte Kiesinger das von Graß angenommen? Ich denke nein. Alle Nachkriegsliteraturen sind ausgesprochen antinational, sie sind nicht "gesund", und ich glaube, das Gegenteil von gesund ist nicht "krank", sondern leidend. Wo wäre denn jenes Ungeheuer von Mensch, das nicht leidet?
Der immer noch und immer wieder diskutierten Frage nach der "heilen Welt" entspricht eine bestimmte Form des sozialistischen Realismus, die nicht viel mehr ist als eine marxistische Variante der uns bekannten Erbauungsliteratur, in der das Gute siegt, das Schlechte bestraft wird oder zur besseren Einsicht gelangt -- eine Literatur, in der keiner leiden darf unter der Fragwürdigkeit der jeweiligen Heilsverkündigung. Das Muster ist bekannt. Natürlich darf diese Erbauungsliteratur auch Kritik enthalten (so dumm sind die Dogmatiker denn doch nicht), nur muß die Kritik am Ende zur Bestätigung des Verkündigten dienen.
Welchem Interesse dient Solschenizyn? Wird je irgendein Establishment begreifen, daß ein eigenwilliger Autor so leicht nicht dienstbar zu machen ist? Immerhin ist Chruschtschows Abrechnung mit dem Stalinismus durch die ganze Welt gegangen. in allen Zeitungen gedruckt worden, die Deiche sind gebrochen. Kann denn irgendein Staatsmann, der sich für realistisch hält, glauben, dieser Deichbruch wäre noch zu reparieren? Und was Chruschtschow damals erklärte, das war nicht Literatur, es war die harte und derbe Sprache eines politischen Realisten. Unter seinem Regime begann der Autor Solschenizyn in der Sowjet-Union zu publizieren.
Im Interesse der Sache des Sozialismus und des sozialistischen Realismus wäre nichts mehr zu wünschen, als daß der Alleinvertretungsanspruch für das Glück auf Erden aufgegeben und zugegeben würde, daß auch in sozialistischen Ländern die Menschen leiden können, vor allem leiden dürfen und sich fragen müssen, welchen Sinn denn das Leiden habe: ob die ungeheure Leidensmaschine für den Orkus der Absurdität gearbeitet hat, oder?
Georg Lukács, den man wohl kaum als einen Agenten des Imperialismus abqualifizieren kann, hat inzwischen in einem Essay (ebenfalls jetzt bei Luchterhand erschienen) die Herkunft Solschenizyns aus dem sozialistischen Realismus nachgewiesen und -- ich drücke das verkürzt aus -- vor der Übernahme westlicher Literaturformen durch Autoren in den sozialistischen Ländern gewarnt. Mit Recht, glaube ich: Erneuern kann sich die Literatur dort nur aus sich selbst, der Westen hat ihr da nichts zu bieten. nichts zu verkaufen.
Möglicherweise wird man eines Tages wer weiß wann? -- in der Sowjet-Union erkennen, welchem Interesse der Autor Solschenizyn dient: daß er, vor allem im "Ersten Kreis der Hölle", das Wunder vollbracht hat, den sozialistischen Realismus gegenwärtig gemacht, ihm nicht nur wieder Anschluß an die Weltliteratur verschafft zu haben -- und das durchaus nicht nur, weil er den Stalinismus enthüllt. Solschenizyn hat die verfluchte Herablassung des Westens gegenüber der sowjetischen Literatur nicht nur ins Wanken gebracht; ein Autor wie er ist nur in der Sowjet-Union möglich.
Was mich am meisten an diesem Schriftsteller erstaunt, ist die Ruhe, die er ausstrahlt -- ein Autor, der wie kein zweiter auf dieser Erde umstritten und gefährdet ist. Es sieht so aus, als wäre er nicht aus der Ruhe zu bringen, trotz der fürchterlichen Beschimpfungen, denen er in seinem Land ausgesetzt ist, und trotz der öffentlich angebotenen Ausreisebewilligung, diesem von ihm nicht akzeptierten Hinauswurf.
Solschenizyns Ruhe ist nicht die eines Olympiers. es ist die Ruhe eines Betroffenen, eines Zeitgenossen, nicht etwa eines lebenden Denkmals, das schon an der Patina des Nachruhms schnuppert. Jede der hier vereinigten Erzählungen, auch die winzigen Prosastücke, strahlen diese Ruhe aus: eine überraschende Botschaft an die schwachsinnige Turbulenz unserer Welt, der wir uns alle mehr oder weniger unterwerfen.
Die Titelgeschichte ist bitter: Der Überstunden- und Sonderschicht-Optimismus eines ganzen Technikums, einschließlich Direktor und Kollegium, wird betrogen, indem man den endlich erstellten Neubau im letzten Augenblick zweckentfremdet. Wenige Stunden, bevor die Schüler eigenhändig und freiwillig den Umzug bewerkstelligen wollen, übergibt irgendein Wirtschaftsrat das Gebäude einer anderen Bestimmung.
Solschenizyn erweist sich auch in diesen Erzählungen mittlerer Länge als ein Autor, der weiß, daß die Glaubwürdigkeit im Detail liegt.
Zum Beispiel: Bei der Besichtigung des alten Technikums versucht der Genosse aus dem Ministerium dem Direktor klarzumachen, daß in seinem Institut durchaus kein Platzmangel herrsche, und als er dabei dann noch jenes freie Plätzchen an der Wand entdeckt, wo ein Laborant das Bild einer hübschen Frau angeheftet hat.
("Ob diese Sünderin aus einer sowjetischen oder einer ausländischen Zeitschrift stammte, war ohne Legende nicht festzustellen"), trumpft er gegenüber dem Direktor auf: "Und da behaupten Sie auch noch, es gäbe nicht genug Platz."
In solchen Episoden -- oder etwa wenn ein Parteifunktionär den Vorwurf, er pflege keinen sowjetischen Arbeitsstil, mit der Antwort pariert: "Im Gegenteil. Ich arbeite sowjetisch, berate mich mit den Werktätigen" (Sowjet = Rat) -, an solchen Stellen zeigt sich die Präzision Solschenizyns, dessen Ruhe keineswegs Gelassenheit und noch weniger stilistische Grobheit bedeutet, sondern eine Sensibilität. die geduldig das richtige Detail sucht, die darauf auch warten kann. Dies ist ein Merkmal jenes neuen Realismus, der sich keine Leine mehr anlegen läßt, der menschlich ist und auch Funktionäre differenzierend zu schildern weiß.
Liebe und Vorliebe Solschenizyns gehören freilich jenen Menschen, die man bei uns in dummer Vereinfachung "einfache" oder "kleine" Leute zu nennen beliebt: hier etwa dem heruntergekommenen Revolutionssoldaten Bobrow in "Die rechte Hand" oder der alten Landarbeiterin Matrjona in "Matrjonas Hof" oder den Gläubigen in der "Osterprozession", die Solschenizyn gegen ein "materialistisches" Rowdytum in Schutz nimmt.
Alle Personen seiner Erzählung sind Teilhaber oder Quelle seiner Ruhe, seiner Geduld, auch seines Zorns sic alle dienen dem "Interesse der Sache" das ein internationales ist. Die Töne nationaler Gekränktheit in den sowjetischen Stellungnahmen gegen Solschenizyn sind so unverkennbar wie die Töne des Neids. Nun haben Sowjet-Autoren sogar mit der "Comes" gebrochen, jener europäischen Schriftsteller-Vereinigung, die geradezu als ein Instrument der Versöhnung zwischen der Literatur der sozialistischen und der westlichen Länder gegründet worden war. Und das alles wegen eines einzigen Autors, der sich immer wieder und inzwischen noch einmal energisch gegen westliche Manipulationen mit seinen Werken gewehrt hat, der immer wieder betont, daß er für die Bewohner der Sowjet-Union schreibe!
Ist das noch klug, diesen einzelnen Autor zum Feind der Nation zu erklären und ihm so immer mehr politische und symbolische Bedeutung zu geben? Kann ein Autor das tragen?