BÜCHER / NEU IN DEUTSCHLAND Tropische Saga
Gabriel Garcia Máuquez: "Hundert Jahre Einsamkeit". Kiepenheuer & Wusch; 480 Seiten; 25 Mark.
Aracataca heißt das kolumbianische Kaff, in dem der Autor 1928 geboren wurde. In seinem Roman erscheint es, transformiert durch eine von den Erinnerungen vieler Generationen genährte Einbildungskraft, als ein mythischer Ort von Faulknerscher Wirklichkeit und heißt Macondo.
Was er José Arcadio Buendia zuschreibt, dem Begründer des Dorfes und der Familie, deren überdimensionales Schicksal der Autor bezeugt, das besitzt Garcia Márquez selber: eine Phantasie, die "stets die Erfindungsgabe der Natur übertrumpfte, ja die des Wunders und der Magie". Doch seine Phantasie ist nicht "zügellos", wie die mancher Buendias, sondern von einem Kunstverstand reguliert, der die Fülle der Geschehnisse von Anfang an auf das Ende hin durchorganisiert. Historischei' Hergang, Lebensläufiges individueller Art verbinden sich bruchlos mit Metaphysischem; die Grenzen zwischen Glauben und Aberglauben schwinden und auch die zwischen Leben und Tod.
Alle Personen, die in diesem Buch ins Leben treten und sterben, bleiben anwesend bis zum Schluß in einer poetischen Welt, die mit ihren biblischen Sintfluten und Sündenfällen und ihren modernen Plagen so intensiv und komplett ist, als sei sie nicht erfunden. Allerdings wirken in diese Welt die Kräfte hinein, von denen Lateinamerika seit langem bewegt wird: die überkommenen Atavismen, die spanisch-katholische Domestikation, die Ausbeutung durch den US-Kapitalismus, der gegen dies alles aufbegehrende Freiheitsdrang.
Die tropische Saga von der Familie Buendia, deren Angehörige das Mal der Einsamkeit tragen und ihre Nachkommen mit Lust, aber ohne Liebe zeugen und die mit dem ersten in Liebe Empfangenen endet -- Ameisen höhlen den mit einem Schweineschwanz behafteten Neugeborenen aus und schleppen die Haut zu ihrem Bau, während die Mutter verblutet, der Vater im Wirbelsturm umkommt -, dieses lateinamerikanische Epos des Garcia Márquez ist Weltliteratur.