PHILOSOPHEN / NACHLÄSSE Endsumme offen
Martin Heideggers "Sein und Zeit" ist umgezogen. Das eigenhändige Manuskript des Buches -- das 1927 erschien und laut Herbert Marcuse "eines der wichtigen des Jahrhunderts" ist -- lagerte bisher im Freiburger Arbeitszimmer des Autors. Jetzt befindet sich das Dokument in der Obhut des Schiller-Nationalmuseums in Marbach am Neckar.
Die Verlegung des "Sein und Zeit-Manuskripts bildet den ersten Abschnitt einer Transaktion, in deren Verlauf der gesamte philosophische Nachlaß des heute 80 Jahre alten Denkers in das Nationalmuseum umsiedeln soll. Das Marbacher Haus wird mithin künftig Arbeitsstätte aller Heidegger-Forscher und -Verehrer nach dem Tod des Philosophen sein -- eine Attraktion, für die Museumsdirektor Dr. Bernhard Zeller einen beachtlichen Preis zu zahlen bereit ist. Einen Abschlag in Höhe von 20 000 Mark hat er schon entrichtet.
Wie immer der Gesamtbetrag schließlich aussehen wird, der Nutzen für Pietät und Forschung ist nicht zu bezweifeln. Allzu offenkundig sind die Nachteile, die durch private und häufig auch verstreute Unterbringung von Prominenten-Hinterlassenschaften eintreten: erschwerte Zugänglichkeit, unsachgemäße Behandlung.
In der Tat steht es mit den Nachlässen deutscher Autoren schlecht. Vor rund 40 Jahren untersuchte ein Literaturhistoriker namens Wilhelm Frels den Verbleib der Manuskripte von 2100 Dichtern in dem Halbjahrtausend zwischen 1400 und 1900. Dabei stellte er fest, daß
* von mehr als der Hälfte der Autoren nur noch Einzelhandschriften nachweisbar sind,
* von 584 Autoren, also von rund einem Viertel, kein Manuskript mehr existiert und
* von nur 314 Schreibern nennenswerte Nachlässe vorliegen, also von etwa einem Siebentel.
Freilich hat sich die zentrale Unterbringung gelegentlich auch als ein Nachteil erwiesen. Friedrich Nietzsches Hinterlassenschaft wurde von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche vorwiegend dazu benutzt, mit und vom Ruhm ihres Bruders zu leben, der 1889 in Wahnsinn verfallen und elf Jahre später gestorben war. So entließ sie nacheinander mehrere Herausgeber geplanter Gesamtausgaben, komponierte aus Nachlaß-Fragmenten 1901 das angebliche Hauptwerk Nietzsches mit dem Titel "Der Wille zur Macht" und fälschte Briefe ihres Bruders.
Bis zu ihrem Tod 1935 kontrollierte und manipulierte sie sein Werk; aber auch danach verhinderten NS-Zensur und Nachkriegswirren die ungehinderte Benutzung der Manuskripte. Immerhin blieb der gesamte Nachlaß erhalten und ist seit 1951 im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv wieder zugänglich. Als 1961 Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei Italiener, mit der Arbeit für eine Kritische Gesamtausgabe begannen, war ein Drittel der Nachlaß-Papiere noch unentziffert (SPIEGEL 34/1967).
Das abenteuerlichste Schicksal widerfuhr dem Nachlaß der beiden Sozialisten Karl Marx und Friedrich Engels. Das Doppel-Erbe, seit Engels' Tod 1895 dem Sozialdemokratischen Parteiarchiv einverleibt, wurde zum erstenmal gefährdet, als der "Spartakus" nach der Besetzung des Berliner "Vorwärts"-Gebäudes 1919 Teile des SPD-Archivs zum Barrikadenbau entfremdete.
Im Februar 1933 verbarg man den kostbaren ME-Nachlaß, darunter allein etwa 35 000 handschriftliche Manuskriptseiten von Marx, nacheinander in einem Tapeziererladen und einem Antiquariat in Berlin; schließlich wurden die Papiere nach Flensburg und von dort mit Faltbooten über die Grenze nach Kopenhagen gebracht. Mitte der dreißiger Jahre zerschlug sich die angebliche Stalin-Offerte, den Sozialisten-Nachlaß für das Moskauer Marx-Engels-Institut zu erwerben, das selbst schon den größten Teil der ME-Papiere in Photokopien enthält. In Geldnot geraten, verkaufte der Exilvorstand der SPD 1938 das ganze Archiv an das Amsterdamer Internationale Institut für Sozialgeschichte für knapp 100 000 Mark. Noch rechtzeitig vor der Besetzung 1940 nach London evakuiert, befindet sich die Marx/Engel-Hinterlassenschaft heute wieder in Amsterdam.
Der Nachlaß Immanuel Kants dagegen ist über viele Bibliotheken und Archive verteilt; aber über den Verbleib des einst größten Vorrats von Kant-Skripten, nämlich der Königsberger Sammlung, weiß man heute nichts Verläßliches. Gerhard Lehmarm, Herausgeber der bei de Gruyter in West-Berlin erscheinenden Kant-Akademie-Ausgabe, berichtet, daß die Königsberger Sammlung während des Krieges auf die Schlösser Ostpreußens verteilt und später vermutlich von den Russen vereinnahmt worden sei.,, ich bin fest überzeugt, in den Kellern von Moskau und Leningrad lagert alles', so Lehmann zum SPIEGEL. Freilich, Auskunft bekomme man von den Russen nicht. Nur höre man neuerdings, daß sowjetische Wissenschaftler zu Kants 250. Geburtstag (22. April 1974) eine Art Jubiläums-Kongreß vorbereiten -- freilich interessieren sie dabei vorwiegend materialistische Züge im Werk des Denkers.
Ein Musterstück guter Nachlaß-Verwaltung lieferte Hegels Sohn Karl. der -- selber Historiker -- für die Unterbringung der Papiere seines Vaters in der Preußischen Staatsbibliothek Sorge trug. Diese Sammlung hat den Krieg unzerstört überstanden und gehört heute zur "Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in West-Berlin.
Das Marbacher Museum, wo Heideggers Papiere gelagert werden sollen, ist um 1900 als Schiller-Reliquien-Sammlung gegründet worden, Es entwickelte sich dann schnell zu einem "Pantheon des schwäbischen Geistes" (Theodor Heuss). Mit dem Erwerb des Heidegger-Nachlasses nähert sich das Marbacher Institut vielleicht sogar dem Rang eines Pantheons deutschen Geistes.
Wie kostspielig dieser Weg für das Nationalmuseum (Jahresetat: 1,2 Millionen Mark) werden wird, soll sich noch erst erweisen; Heidegger möchte sich zu dem Gesamtpreis nicht äußern. Museumsdirektor Zeller zum SPIEGEL: "Eine Endsumme ist noch gar nicht vereinbart."