SPIONAGE KISCHKE / FRENZEL Kochkurs für Kasachstan
Letztes Jahr im Oktober gab Vizekanzler Erich Mende einem SPIEGEL-Redakteur, der ihm von einer bevorstehenden Reise in die Tschechoslowakei erzählt hatte, die Botschaft mit auf den Weg: "Sie können. den Herren sagen, den Frenzel kriegen sie nicht."
Jetzt haben ihn die Herren. Am Tag vor dem Heiligen Abend wurde Alfred Frenzel, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD, der 1961 wegen Spionage für den tschechischen Geheimdienst zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, an der Zonengrenze bei Herleshausen in den Osten geschleust.
Die Bundesrepublik verlor ihren prominentesten politischen Häftling. .Sie gewann dafür drei westdeutsche Bürger, die in der DDR wegen Spionage lebenslang büßen sollten, und als Dreingabe eine Frauenredakteurin Martina Kischke, Mitarbeiterin der "Frankfurter Rundschau", die am 8. August 1966 im sowjetischen Alma Ata (Republik Kasachstan) verhaftet worden war.
In Schwung gebracht wurde die Agenten-Drehscheibe von zwei sozialdemokratischen Kabinettsmitgliedern der neuen Bonner Regierung, dem Justizminister Gustav Heinemann und dem Gesamtdeutschen Minister Herbert Wehner; beide hoffen, in nächster Zeit weitere Ost-Häftlinge im Tauschwege loseisen zu können*.
Beihilfe leisteten die evangelische Kirche, der Protestant Heinemann eng verbunden ist und die seit langem an den "dünnen Fäden der Menschlichkeit" ("Frankfurter Rundschau") zwischen Ost und West knüpft, sowie der West-Berliner Anwalt Jürgen Stange und dessen Ost-Berliner Kollege Wolfgang Vogel, der vor fünf Jahren beim Austausch des sowjetischen US-Agenten Rudolf Abel und des amerikanischen Rußland-Fliegers Gary Powers assistierte.
Übergangen wurde der Mann, der sich von Amts wegen mit Spionen beschäftigt: Reinhard Gehlen, Chef des Bundesnachrichtendienstes, wurde vor der "Gesamtaktion" (Heinemann) nicht befragt, und einem seiner Geheimdienstier entschlüpfte letzte Woche resigniert das Wort "Nächstenliebe".
Denn noch im Herbst, als Ost-Stellen wegen einer Auslieferung Frenzels vorfühlten, hatte Gehlens Amt der Bundesregierung abgeraten; der Tschechen-Agent wisse zuviel. Diesen Einwand bringen die Abwehrmänner jetzt nicht mehr vor, aber sie glauben noch immer, daß Martina Kischke kein gleichwertiges Tauschobjekt für den Spitzen-Spion Frenzel war -- allenfalls dann, wenn man die drei DDR-Häftlinge hinzurechnet.
Alfred Frenzel verriet mi die Tschechoslowakei unter anderem das gesamte westdeutsche Luftverteidigungsprogramm, lieferte detaillierte Angaben über die Umgliederung von Bundesheer und Bundesluftwaffe, gab Marine-Planungen preis und schickte den geheimen Bonner Verteidigungshaushalt 1961 auf Mark und Pfennig sowie Stapel von Unterlagen über die westdeutsche Militärkonzeption nach Prag.
Sein Werk war, so beteuerte er vor dem Bundesgerichtshof, "die reine Feigheit". Der tschechische Geheimdienst habe ihn mit ehrenrührigen Vorkommnissen aus seiner Vergangenheit erpreßt.
Frenzel stammt aus der Tschechei. 1899 im böhmischen Josefsthal geboren, war der Frühwaise von dem Glasbläser Wiesner aufgezogen worden, der ihn in die Bäckerlehre schickte. Sein Brot erwarb er später bei der Kommunistischen Partei, die ihn zum Filialchef des Konsumvereins "Vorwärts" beförderte.
* West-Berliner Behörden entließen vor Weihnachten den DDR-Spion und ehemaligen Kriminalmeister Hans Weiss, der erst im September zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war; die DDR revanchierte sich mit der Auslieferung von vier politischen Häftlingen.
1933 feuerte die KP ihren Konsumleiter, weil er Kontobücher gefälscht hatte; bevor sie ihn aus der Partei entfernen konnte, trat Frenzel zu den Sozialdemokraten über.
Als SPD-Mann startete der böhmische Glasbläser-Stiefsohn 1946 in Bayern zur zweiten politischen Karriere, die ihn binnen sieben Jahren vom SPD-Kreisrat über den Münchner Landtag in das Bonner Parlament führte.
Ein Hindernis, das 1953 kurz vor seiner Wahl in den Bundestag auftauchte, räumte Frenzel per Meineid beiseite. Er beschwor vor einem Amtsgericht, daß alle Angaben, die der BHE-Politiker Georg Spandel auf einem Flugblatt über die kommunistische Vergangenheit des SPD-Kandidaten verbreitet hatte, falsch seien; der greise Spandel, damals 77, wurde zu Gefängnis verurteilt.
In Bonn galt der farblose und fette, biedere wie bienenfleißige Frenzel als Sozialdemokrat alter Schule: immer auf dem jeweiligen Parteikurs und von früh. bis spät im Dienst (Spitzname: "Hennecke"). Die SPD berief ihn in ihren Sicherheitsausschuß, der Bundestag machte ihn zum Mitglied des Verteidigungsausschusses.
Im April 1956 sprach bei Alfred Frenzel ein alter Bekannter vor: der kommunistische Konsum-Kassierer Hoffmann aus Böhmen. Er erinnerte an den Konto-Schwindei und den Meineid in der Nachkriegszeit.
Fortan steckte der SPD-Abgeordnete der tschechischen Spionage alle Informationen zu, die er dank seiner Partei- und Parlamentsämter ergattern konnte. 39mal traf sich Frenzel in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich mit zwei Prager Geheimdienstoffizieren, die Frenzels Mikrofilme in Hohlschrauben, Reiseweckern oder Kinderpuder-Dosen weiterreichten.
Spion Frenzel (Deckname: "Anna") später· vor Gericht: "Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen." Für diesen guten Willen belohnten ihn die Tschechen mit insgesamt 27 000 Mark und dem Versprechen, ihm für den Lebensabend ein Häuschen in Böhmen bereitzustellen.
Am 28. Oktober 196 D verhaftete der damalige Generalbundesanwalt Max Güde Im- Bonner Bundeshaus den Meisterspion; der Verfassungsschutz, dem Volksvertreter seit langem auf der Spur, hatte ihn zwei Tage zuvor auf frischer Tat ertappt, als Frenzel und ein tschechischer V-Mann bei einem Spaziergang gleichartige Aktentaschen tauschten.
Den ersten Versuch, Alfred Frenzel auszulösen, startete schon im Sommer 1962 die Prager Regierung; sie bot Bonn als Gegenleistung 30 politische Häftlinge. Die letzte Offerte kam im August letzten Jahres aus Moskau über Ost-Berlin an das Gesamtdeutsche Ministerium.
Wenige Tage zuvor hatte die sowjetische Abwehr die westdeutsche Touristin Martina Kischke, 31, festgenommen. Die Journalistin war am 4. August in die Sowjet-Union eingeflogen, im Gepäck ein Brautkleid, Heiratspapiere und Hotelgutscheine über 2400 Mark.
Ihre schwärmerische Zuneigung zum russischen Wesen, die auf fünf vorhergehenden Ostlandfahrten in ihr gewachsen war, wollte Martina Kischke während der sechsten Reise durch Einheirat ins gelobte Land krönen. Der Auserwählte: Boris Romanowitsch Petrenko, 35, Sohn einer ukrainischen Ärztin und Dammbau-Ingenieur in Alma Ata, nahe der chinesischen Grenze.
Mit einem Russisch-Lehrgang auf der Berlitz-Schule sowie Kursen in Erster Hilfe, Kochen und Säuglingspflege wähnte sich die Redakteurin hinreichend für das Eheleben in den Steppen Kasachstans gerüstet. Doch statt des Standesbeamten kam die Sowjet-Abwehr, die Martina Kischke wegen "subversiver Tätigkeit" festnahm und später ins Moskauer Staatsgefängnis Lubjanka verbrachte.
Nach 138 Tagen Haft, am Abend des 23. Dezember, übergaben die Sowjets sie in Herleshausen einer Abgesandten der evangelischen Kirche, die der Heimgekehrten als erste Beihilfe 500 Mark zusteckte. Um 22.30 Uhr kündigte Bonns evangelischer Militärbischof Kunst der "Frankfurter Rundschau" -- Redaktion die Rückkunft der Kollegin an. Am Morgen des Heiligen Abend war Martina Kischke wieder bei ihrer Mutter, mitsamt Gepäck, aber ohne Brautkleid, das die Sowjets beschlagnahmt hatten.
Umständlicher kam Alfred Frenzel auf Gegenkurs. Er mußte vorab vom Bundespräsidenten Heinrich Lübke begnadigt werden und die tschechische Staatsangehörigkeit annehmen, weil laut Verfassung ein Deutscher nicht an einen anderen Staat ausgeliefert werden darf; die Einbürgerungsurkunde hatte Prag beizeiten nach Bonn geschickt.
Heimlich, wie es sich für Agenten-Aktionen gehört, war der Ringtausch zwischen Bonn und Prag, Sowjet-Union und Sowjet-Zone vollzogen worden. Noch am Tage nach Weihnachten beteuerten sämtliche Bonner Stellen, über den Verbleib Alfred Frenzels sei ihnen nichts bekannt. Aber dann spürten Reporter den Bundesjustizminister in Luzern auf, und Gustav Heinemann mußte sich Dienstag nachmittag zu einer dürren Erklärung bequemen.
Andere Vermittler, etwa der Bischof Kunst oder die Berliner Anwälte Stange und Vogel, befolgten strikt Bonns Schweige-Gebot. Sie alle waren plötzlich verreist. --