SOZIOLOGIE Natur, Nerven und Pollutionen
Kaesler, 61, lehrt als Professor für Allgemeine Soziologie in Marburg.
-----------------------------------
Max Weber, geboren 1864, gestorben 1920: größter deutscher Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Schöpfer der großen Erzählung von der "Wahlverwandtschaft" zwischen asketischem Protestantismus und modernem rationalem Betriebskapitalismus, Prophet der universalen Rationalisierung und Bürokratisierung, Warner vor dem "stahlharten Gehäuse der Hörigkeit". Seine Werke liegen in zahllosen Ausgaben in vielen Sprachen vor, eine Gesamtausgabe wird seit 30 Jahren produziert, eine internationale Weber-Interpretationsindustrie läuft schon lange heiß.
Fast 90 Jahre nach dem Tod des Übervaters der internationalen Soziologie, dessen Ruhm den von Karl Marx spätestens seit 1989 weitgehend verdunkelt hat, erscheint eine über tausendseitige Weber-Biografie des Bielefelder Historikers Joachim Radkau*. Wie bespricht man eine derartige Arbeit, bei der man durch ihren Autor darüber informiert wird, dass er sich in den langen Jahren, in denen er daran arbeitete, selbst schon mal als "W. Eber" im Hotel anmeldete, dass er zwischenzeitlich eine Depression erlebte, die "in manchen Erscheinungsformen der Weberschen verteufelt ähnlich war", dass er seiner Ehefrau unheimlich wurde wegen seiner zunehmenden Identifikation mit seinem Objekt, so dass er ihr versichern musste: "Ich bin nicht Weber!", der ihr rückblickend dafür dankt, dass sie "zwischendurch voller Identifikation in Frauenrollen der Weber-Szene schlüpfte", und der als seine "Lebensaufgabe" die "Wiedervereinigung von Geschichte und Natur" bezeichnet?
Dieses Buch als "die erste umfassende Biografie Max Webers" anzukündigen klingt zunächst einmal dreist angesichts der Fülle bisheriger Weber-Literatur. Der Markterfolg jedoch belohnte das Geklapper. Die ersten Rezensionen erkannten schnell, worin das (vermeintlich) Sensationell-Neue lag - nur in den Bewertungen positionierte man sich unterschiedlich: Robert Leicht kritisierte in der "Zeit" die "ausführlich indiskreten Introspektionen der Weberschen Intimsphäre" und deren "obsessive Ausbreitung", in der "Frankfurter Allgemeinen" lobte Nils Minkmar die "atemberau-
bende Lektüre", die "respektlose, eigenwillige wissenschaftliche Zugangsweise" und das "bemerkenswerte Einfühlungsvermögen in eine sehr kranke Psyche", und Andreas Anter stellte das Buch in der "Neuen Zürcher Zeitung" vor als "umfassende Studie, die Leben und Werk des Titanen systematisch verknüpft und selbst Weber-Kennern neue Einsichten bietet".
Diese Rezensenten reden vor allem von einem: Radkaus Buch bietet eine derart umfassende Krankengeschichte sexualpathologischer Qualen Max Webers, von der die bisherige Forschung der "Weber-Verehrer" und "Weber-Anhänger", von denen Radkau sich durchgehend polemisch distanziert (nicht ohne deren Ergebnisse extensiv zu nutzen), entweder nichts wusste, nichts wissen wollte oder die sie für den Zugang zum wissenschaftlichen Werk als von nicht besonderer Wichtigkeit einschätzte.
In Professor Radkaus Buch liegt Professor Weber von Anfang an auf der diagnostischen Couch, und der beherrschende Blick dieses Biografen ist der durch das Schlüsselloch ins - zumeist einsame - Schlafzimmer. Wenn das damit gemeint war, wird man tatsächlich von der ersten "um-fassenden" Biografie Webers sprechen können. So "umfasst" wurde Max Weber noch von keinem seiner Biografen, nicht einmal von seiner Witwe und Nachlassverwalterin Marianne Weber in ihrem "Lebensbild" Max Webers von 1926.
Das Um-Fassen seines Patienten führt beim Analytikus Radkau zu folgender Diagnose: Workaholismus, Alkoholismus, aggressive Kraftmeierei, Überängstlichkeit, Schlafstörungen, Neurasthenie, Drogenabhängigkeit, Impotenz, masochistische Veranlagung, Hysterie, Schizophrenie, Depression, heftige pathologische Defekte. Insgesamt stellt der Historiker uns einen schweren Psychotiker vor, mit dem man entweder erhebliches Mitleid bekommt oder über den man sich durchgehend mokieren mag. Damit nicht zu viel Mitleid aufkommt, wird der arme Tropf als "ein Raubtier" geschildert, "das sich selber hinter Gitterstäbe zwängt!" Herr Dr. Radkau sagt uns auch, was hinter allen diesen Leiden des armen Max steckte: "Die immer wiederkehrende Unruhe und Reizbarkeit, die ihm den Schlaf raubte, war in Wahrheit der Hunger nach Leben und Liebe."
Es ist mehr als erstaunlich, wenn Radkau die Biografie seiner Vorgängerin von 1926, Marianne Weber, als zu indiskret kritisiert. Dabei ähnelt das Konstruktionsprinzip seines eigenen Unternehmens in frappierender Weise ebendiesem kritisierten "Epos" aus "Höllenfahrt und Neugeburt eines Genies". Auch er entfaltet ein Drama in drei Akten:
Am Anfang steht die "Vergewaltigung der Natur", in der die (biologische) Natur des jungen Max Weber vor allem durch zwei Frauen, zuerst seine Mutter und daran anschließend seine Ehefrau, weitgehend unterdrückt wird und dadurch dessen Nerven zerrüttet werden. Im zweiten Akt, "Die Rache der Natur", schlägt die unterdrückte (sexuelle) Natur Max Webers zurück und ruiniert dessen Nerven (fast) vollkommen. Im dritten Akt, "Erlösung und Erleuchtung", vollzieht sich, durch die (sexuelle) Befreiung des reifen Weber, wiederum durch zwei Frauen, Mina Tobler und Else
Wer die bisherige Weber-Biografie-Literatur nach Marianne Webers "Lebensbild" kannte, war vertraut mit den Grundlinien der Radkauschen Erzählung. Nicht jedoch kannte er die obsessive Neugier für die medizinischen und sexualpathologischen Details, die der Historiker seitenlang mit spürbarer Erregung der Leserschaft geradezu einhämmert. Nur der Autor und sein Verlag könnten durchzählen, wie oft die Worte Erektion, Onanie, Samenerguss, Explosion, Eruption und Pollution in der Textdatei auftauchen. Schon deswegen ist das fehlende Sachregister zu beklagen.
Das Ziel des ganzen Unternehmens ist eindeutig: Radkau will den "wirklichen Weber" darstellen, man könnte auch sagen: bloß-stellen, er will die Körpergeschichte dieses Mannes erzählen, er will diesen "Säulenheiligen der Sozialwissenschaften" von seiner Säule "herunterholen".
Radkau beschreibt Weber als ein "von Ängsten und Gespenstern gejagtes Nervenbündel", wie Gustav Seibt in der "Süddeutschen Zeitung" resümierte. So will Radkau, nach eigener Aussage, zeigen, dass auch ein Max Weber "irgendwo ein armer Kerl" war, "und doch einer, der einem Trost gibt, dass man auch dann, wenn man in manche Sackgasse getappt ist und viel Energie vertan hat, am Ende doch seinen Weg finden kann".
Die Radkau-Biografie provoziert Fragen, die sich an das Genre der Psycho-Historie richten. Gewiss muss man auch im deutschen Sprachraum schon lange nicht mehr jenem strengen Diktum folgen: "Gelehrte haben keine Biografie, sondern eine Bibliografie". Vorschnell wurde die Biografie eines Wissenschaftlers zu lange verdächtigt, einen unredlichen Zugang zum wissenschaftlichen Werk, gewissermaßen "über die Hintertreppe", zu eröffnen. Durch die zu detaillierte Darstellung der "privaten" Existenz eines Wissenschaftlers werde nicht nur kein hilfreicher Weg zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk gebaut, sondern diese sogar erschwert. Wer zu viel über das Privatleben von Kant, Freud, Nietzsche, Einstein oder Heidegger wisse, verliere leicht den Respekt vor den wissenschaftlichen Leistungen dieser Menschen.
Seit einigen Jahren ist eine Tendenz zur Sensationalisierung der biografischen Literatur zu verzeichnen. Statt der traditionellen Kargheit - Daten, Orte, Veröffentlichungen, soziale Netzwerke - kommt nun das spektakelsüchtige Motto: "Mythen werden Menschen". Durch lüsterne Annäherungen werden Fragen gestellt wie: War Schubert homosexuell, litt Beethoven unter Syphilis, pflegte Emily Dickinson mit der Frau ihres Bruders ein lesbisches Verhältnis, zeugte Thomas Jefferson mit seiner schwarzen Sklavin mehrere Kinder?
In der wissenschaftlichen Diskussion solcher biografischen Enthüllungsliteratur lassen sich drei Positionen voneinander unterscheiden: Das Intimste ist irrelevant, relevant oder zumindest hilfreich. Der Minimalkonsens lautet: Wenn der Autor zeigen kann, dass auch die pikanten Details ein unverzichtbarer Teil der Rekonstruktion des Zusammenhangs von Leben und Werk sind, haben sie ihren Stellenwert.
Dieser Konsens erzwingt eine eindeutige Konsequenz: Derjenige, der sich in einer seriösen Biografie sehr detailliert in die persönlichen - und zumeist recht banalen - Konstellationen des Intimlebens seiner Heldin oder seines Helden hineinbegibt, muss zeigen, dass diese Perspektive tatsächlich ein erhellendes Licht auf das Werk, um das es geht, wirft. Diese delikate Gratwanderung zwischen "real" und "banal" scheint im Fall der Weber-Biografie von Radkau nicht überzeugend gelungen zu sein.
Allenfalls als Karikatur muss es dem Kenner des Weberschen Werks erscheinen, wenn die Radkausche Narration - zum halbseidenen Vergnügen des Publikums - das Webersche OEuvre als schiere Übersetzung seines Sexlebens vorführt. Als ob Weber nur so lange über Askese, Enthaltsamkeit, streng regulierte Lebensführung und Disziplin schrieb, solange ihn seine Unfähigkeit zu befriedigender Sexualpraxis terrorisierte - und ab dem Moment, in dem er in den Armen seiner beiden Geliebten zur sexuellen Erfüllung kam, über "Erlösungsreligionen" und "Charisma" schrieb.
Ebenfalls karikaturhaft mutet es an, wenn Radkau die wissenschaftstheoretischen Positionen Webers in dessen Konzept einer soziologischen "Wirklichkeitswissenschaft" ebenfalls mit seiner (sexual-) psychologischen Interpretation zu "erhellen" sucht: "Für ihn war die Wissenschaft keine Pussy Cat, sondern eine strenge Herrin, die ihre Liebhaber oft quälte. Was nicht ausschließt, dass solche Qualen ihre eigene Lust besaßen. Es sieht jedoch so aus, dass Weber diese Art von Lust erst allmählich lernte."
So bestätigt das Buch Radkaus die berechtigte Sorge um die Verdunkelung des Werks durch die indiskrete Helligkeit der Bloßstellungen, auch wenn gerade solche Publikationen meist auf ein ganz besonderes Echo vor allem in den nichtwissenschaftlichen Medien rechnen können.
Die Weber-Biografie von Joachim Radkau, als Dokument einer exhibitionistischen Geschichtswissenschaft, ist ganz sicher nicht die definitive Biografie des großen Denkers unserer Moderne.