Luftfahrt
„DIE ENGLISCHE WAHRHEIT SIEHT EBEN ANDERS AUS“
23 Menschen, die meisten von ihnen Angehörige des ruhmreichen britischen Fußballklubs „Manchester United“, starben, als am 6. Februar 1958 ein BEA-Flugzeug vom Typ Elizabethan auf dem Flughafen München-Riem beim Start verunglückte und in Brand geriet. Zweimal, 1958 und 1964, untersuchten deutsche Experten im Auftrag des Luftfahrt-Bundesamts die möglichen Ursachen des Unglücks. Beide Male kamen sie zu dem Schluß, Vereisung der Tragflächen habe die Maschine startunfähig gemacht. Flugkapitän James Thain wurde daraufhin von der BEA entlassen, die britischen Behörden entzogen ihm die Lizenz. Am Dienstag letzter Woche nun kam eine britische Unfall-Untersuchungskommission zu einem ganz anderen Ergebnis: Schneematsch auf der Startpiste sei damals die Hauptursache gewesen; Flugkapitän Thain sei demnach schuldlos. Außerdem warf die Britische Pilotenvereinigung nun den Deutschen vor, wichtige Zeugenaussagen seien von den Braunschweiger Unfallforschern unterdrückt worden. In vierspaltigen Schlagzeilen richtete die englische Presse letzte Woche die Piloten-Vorwürfe an die deutsche Adresse: Den Untersuchungskommissionen in Braunschweig sei „bestenfalls mangelnde Sorgfalt, schlimmstenfalls absolute Unfähigkeit“ vorzuwerfen.
SPIEGEL: Herr Möhlmann, Sie kennen die Vorwürfe, die von der Britischen Pilotenvereinigung gegen das Luftfahrt-Bundesamt erhoben werden. Werden Sie daraufhin die Untersuchung über das Flugzeug-Unglück in München-Riem nochmals eröffnen?
MÖHLMANN: Ich möchte zunächst sagen, das Ziel der deutschen Unfalluntersuchung ist, entsprechend den ICAO-Bestimmungen*, die es darüber gibt, die Ursachen eines Unfalls festzustellen, keinesfalls, die Schuldfrage zu klären. Diesem Zweck der Ursachenfindung dienten beide Untersuchungskommissionen, die bei uns in dieser Sache tätig waren. Die englische Kommission dagegen hatte eine ganz andere Aufgabenstellung, nämlich die Schuldfrage zu untersuchen, soweit der verantwortliche britische Flugzeugführer, Kapitän Thain, betroffen ist.
SPIEGEL: Nun ist aber die englische Untersuchungskommission, eben aufgrund neuer Ursachenforschung, zu anderen Ergebnissen gekommen als Ihre Behörde. Aber mehr noch, die englische Pilotenvereinigung wirft nun den deutschen Experten vor, sie hätten bei ihrer Untersuchung wesentliche Zeugenaussagen unterdrückt.
MÖHLMANN: Die britische Pilotenvereinigung ist für uns kein Gesprächspartner, sondern die englischen Behörden. Und die haben uns 1964 Kenntnis gegeben von eingehenden Versuchen über den Einfluß von Schneematsch auf den Startvorgang. Diese Ergebnisse haben zur Wiederaufnahme des Verfahrens geführt. Der zweiten Kommission gehörten Sachverständige an, die im ersten Verfahren nicht tätig waren.
SPIEGEL: Aber bei dem zweiten Verfahren, 1964, kam die deutsche Untersuchungskommission trotzdem zu nicht wesentlich anderen Ergebnissen als beim ersten Mal.
MÖHLMANN: Darüber läßt sich streiten.
SPIEGEL: Wie weit weicht der Bericht der zweiten deutschen Kommission von dem der ersten ab?
MÖHLMANN: Ich behaupte, ganz wesentlich. Im ersten Bericht heißt es, ich möchte das zitieren: "Während des fast zweistündigen Aufenthaltes des Flugzeugs in München ist infolge Schneefalls eine rauhe Eisschicht auf der Oberseite der Tragflächen entstanden. Diese Eisschicht hat die aerodynamischen Eigenschaften des Flugzeugs wesentlich beeinträchtigt." Und dann kommt das folgenschwere Wort: "Hierin lag die entscheidende Unfallursache."
SPIEGEL: Und der zweite Bericht?
MÖHLMANN: Der ist dann wesentlich vorsichtiger, ich zitiere wieder: "Nach wie vor ist als wesentliche Unfallursache die festgestellte Tragflächen-Vereisung anzusehen" -- das wird also in dem zweiten Bericht aufrechter halten -, "die zwar auf den Beschleunigungsvorgang keinen allzu großen Einfluß hatte, jedoch den Auftrieb wesentlich beeinträchtigte Und unter Punkt drei heißt es dann, also als dritter Unfallfaktor: "Verringerung des Leistungsüberschusses des Flugzeugs durch Schneematsch und Spritzmatsch sowie Einfluß des Schneematsches auf die Trimmlage des Flugzeugs". Hier ist also der Schneematsch durchaus nicht weggelassen.
SPIEGEL: Nicht weggelassen, aber als Hauptursache gilt darin immer noch Vereisung ...
MÖHLMANN: Nicht als Hauptursache, sondern als "wesentliche Unfallursache", das ist der Unterschied.
SPIEGEL: Da muß man schon genau hinhören.
MÖHLMANN: Die Kommission hat zum Ausdruck gebracht, daß bei dem zur Unfallzeit bestehenden Zustand der Startbahn das Flugzeug ohne Eisansatz an den Tragflächen die zum Abheben notwendige Geschwindigkeit hätte erreichen müssen.
SPIEGEL: Genau in diesem Punkt kommt aber nun die englische Untersuchungskommission ...
MÖHLMANN: ... zu einem ganz anderen Ergebnis, ja. Das ist aber bei
* ICAO: International Civil Aviation Organization = Internationale Zivilluftfahrt-Organisation.
dem Verfahren, das die Engländer durchführen, durchaus möglich, weil die Klärung der Schuldfrage eine Bewertung aller ursächlichen Faktoren erfordert.
SPIEGEL: Die Engländer kommen nun zu dem Schluß, die Tragflächen seien nicht vereist gewesen, vielmehr sei Schneematsch die Unfallursache gewesen.
MÖHLMANN: Wie kann man das nach elf Jahren feststellen?
SPIEGEL: Zum Beispiel aufgrund besserer Auswertung der vorhandenen Photos. Sie zeigten, daß das, was man ursprünglich für Schnee auf der Tragfläche gehalten hat, in Wahrheit eine Lichtreflexion war. Zweitens aufgrund von Zeugenaussagen, zum Beispiel derjenigen Leute, die als erste am Flugzeug waren. Der Zeuge Reinhard Meyer, ein erfahrener Testpilot, der wenige Minuten nach der Katastrophe am Unfallort eintraf, ist dabei wesentlich; weiter ein Arzt, der wenige Minuten nachher mit Halbschuhen über die Tragfläche kletterte, ohne auszurutschen und ohne irgendeine Vereisung zu sehen.
MÖHLMANN: Nach der uns bekannten englischen Auffassung ist eine Vereisung der Tragflächen möglich, jedoch so wenig wahrscheinlich gewesen, daß hieraus kein Verschulden des Piloten nachgewiesen werden konnte.
SPIEGEL: Nun steht aber wohl fest, daß gerade die Zeugenaussagen, die gegen die Vereisungstheorie sprachen -- also etwa die des Piloten Meyer -, im deutschen Untersuchungsbericht nicht erwähnt, die Engländer sagen: unterschlagen wurden.
MÖHLMANN: Was heißt die Engländer? Die englische Regierung, die englischen offiziellen Stellen sagen es ganz bestimmt nicht. Diese Polemik hat die Pilotenvereinigung hineingebracht.
SPIEGEL: Aber es ist Tatsache, daß Flugkapitän Reichel, der damalige Experte des Luftfahrt-Bundesamts, von der protokollierten Aussage des Piloten Meyer nur Auszüge an die englischen Untersucher weitergegeben hat, in denen der entscheidende Satz -- nämlich Meyers Feststellung, die Tragflächen seien nicht vereist gewesen -- weggelassen war.
MÖHLMANN: Ich sehe das als eine reine Polemik der Pilotenvereinigung an. Herr Reichel hatte die Voruntersuchung zu machen. Und in der Kommission, wie sie bei derart schwerwiegenden Fällen einberufen wird, hatte er nur eine Stimme. Da wäre Herr Reichel mit seiner privaten Auffassung von den Dingen gegen die anderen wohl kaum durchgedrungen.
SPIEGEL: Nun werfen aber die Engländer dem -- inzwischen ja pensionierten -- Experten Reichel vor, daß ihm bereits auf dem Hinflug zur Unfallstelle, auf dem Flug von Braunschweig nach München -- und in einem BBC-Interview hat er das selbst eingestanden -, der Gedanke gekommen sei, es müßte wohl eine Vereisung der Tragflächen vorgelegen haben,
MÖHLMANN: Herr Reichel war einer der alten Flugkilometer-Millionäre bei der Lufthansa, und da hatte er mal mit einer Ju 52 einen Start gemacht und ist nicht vom Boden freigekommen. Das war auf Rauhreif an der Fläche zurückzuführen. So kannte er die Wirkung von harmlos aussehender Verformung der Tragflächen. Das erklärt, daß er vielleicht ...
SPIEGEL: ... mit einem gewissen Vorurteil an den Unfallort gekommen sein
MÖHLMANN: ... könnte, könnte, könnte. Aber die Beschlüsse der Kommission werden ja mit Dreiviertel-Stimmenmehrheit gefaßt. Jedenfalls muß man Vertrauen haben zu der Unabhängigkeit der Kommission.
SPIEGEL: Wir wiederholen unsere Frage: Halten Sie eine Wiederaufnahme der Untersuchungen nicht doch für nötig?
MÖHLMANN: Nein, wir haben nicht die geringste Veranlassung.
SPIEGEL: Für die Öffentlichkeit bleibt der Widerspruch unerklärlich: Die einen sagen, es war keine Vereisung der Tragfläche, die anderen sagen, es war doch Vereisung. Es gäbe demnach eine englische und eine deutsche Wahrheit. Wir verhehlen nicht: Die britische Untersuchung erscheint uns in jeder Hinsicht stichhaltiger als die Befunde der deutschen Experten.
MÖHLMANN: Also über den Inhalt der englischen Untersuchung höre ich jetzt zum erstenmal. Also offiziell habe ich noch nichts gesehen. Ende letzten Jahres war ich längere Zeit krank.
SPIEGEL: Dies hier ist der offizielle Untersuchungsbericht. Er wurde vorgestern in England veröffentlicht.
MÖHLMANN: Nach den Richtlinien der ICAO muß ein Untersuchungsverfahren dann wieder aufgegriffen werden, wenn neue und wesentliche Tatsachen bekannt werden. Das ist hier nicht der Fall. Es handelt sich vielmehr um eine unterschiedliche Bewertung bekannter Tatsachen.
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