MEDIZIN / HONGKONG-GRIPPE Wie eiskalt
Richard Kardinal Cushing entließ seine Gemeinde ohne geistlichen Zuspruch. Die Grippe hatte dem Oberhirten der Katholiken von Boston (US-Staat Massachusetts) den Aufstieg zur Kanzel zu beschwerlich gemacht.
In New York mußten "Bohème" Freunde im Metropolitan Opera House aufs hohe C verzichten. Nach dem "Wie eiskalt ist dies Händchen" kam Tenor Luciano Pavarotti, der den grippekranken Nicolai Gedda vertrat, selber mit Krächzlauten aus dem Belcanto-Konzept; im dritten Akt sang für Pavarotti der noch nicht heisere Barry Morell weiter.
Das war im Dezember, als Lyndon B. Johnson sich mit 38,7 Grad Fieber in ein Hospitalbett begab und das amerikanische Rote Kreuz angesichts 30 Millionen hustender und schniefender US-Bürger eine "Katastrophen-Situation" konstatierte.
Inzwischen infizierte ein Amerika-Heimkehrer der Bundeswehr seine Kameraden in Brake an der Weser. Beim Luftbrückenmanöver "Reforger" schleppten GIs die Viren in die Pfalz ein. Und seit die Erkrankungswelle über England in breiter Front auf den Kontinent vorrückt, grassiert auch in der Bundesrepublik die Grippe-Furcht. "Die Hongkong-Grippe kommt", meldete am Dienstag letzter Woche die Hamburger "Morgenpost", jedoch gehe es "nicht genug Impfstoff zum Schutz der Bevölkerung".
Aber die Impf-Fachärzte sehen nicht so schwarz. Sie glauben nicht, daß der als "A2-Hongkong 68" klassifizierte Stamm von Grippekeimen
* Bei den Asta-werken in Brackwede: Grippeviren werden auf Hühnerembryonen gezüchtet.
(SPIEGEL 46/1968) in der Bundesrepublik eine todbringende Epidemie auslösen könnte, wie sie zuletzt 1957 die Westdeutschen (mit mehr als 10 000 Todesfällen) heimsuchte. Diesmal
* sind 2,5 Millionen Bundesbürger schon gegen "A2-Hongkong 68" geimpft -- jede Woche kommen 250 000 dazu;
* bietet auch der herkömmliche, unspezifische Grippe-Impfstoff, der einigen Millionen Bundesbürgern verabreicht wurde, einen gewissen Schutz gegen das Hongkong-Virus;
* sind auch diejenigen, die schon eine gewöhnliche Winter-Grippe durchgemacht haben, in ihrer körpereigenen Abwehr gestärkt.
Die Frühwarnung aus Hongkong, wo der neue Erregertyp im vergangenen Juli erstmals entdeckt wurde, hatte Deutschlands Impfstoff-Herstellern die Chance gegeben, den Wettlauf gegen die mit Radfahrergeschwindigkeit sich ausbreitende Viren-Infektion neuen Typs zu gewinnen.
Zwar mag es in den Praxen der Hausärzte und in den Apotheken jetzt Engpässe bei der Lieferung von Hongkong-Impfstoff geben (die öffentlichen Impfanstalten in den Großstädten klagen dagegen eher über Mangel an Impfwilligen).
Aber die möglichen Zentren einer Grippe-Epidemie sind rechtzeitig mit Impfstoff versorgt worden: Weit mehr als die Hälfte der -- mit Überstunden und in Nachtschichten -- von den Asta-Werken in Brackwede und den Marburger Behringwerken hergestellten Impfportionen gingen an Großbetriebe und an Bundeswehr-Einheiten.
Die Mediziner erwarten, daß die, gemessen an der Gesamtbevölkerung, relativ kleine Zahl der Immunisierten gleichsam einen Schutzwall bildet, der die Infektionskette immer wieder unterbricht. Und wie sich gezeigt hat, verliert "A2-Hongkong 68" in kleineren, voneinander isolierten Infektionsherden seine Ansteckungskraft.
So berichtete vorletzte Woche ein Virologen-Team der Weltgesundheitsorganisation in der britischen Ärztezeitschrift "Lancet" von einem überraschenden Infektionsablauf: Ausgerechnet auf einem internationalen Mediziner-Kongreß hatten sich im vergangenen September in Teheran 372 Teilnehmer mit dem neuen Virus angesteckt. 50 der Kranken kamen noch mit Fieber wieder nach Hause aber nur bei 18 von ihnen infizierten sich die Angehörigen.
Zudem scheint die fernöstliche Grippe im ganzen milder zu verlaufen, als nach dem Ausbruch in Hongkong (32 Tote) angenommen worden war. Bedrohlich wird die Erkrankung, wie die Experten meinen, allenfalls für alte und kränkliche Menschen, vor allem solche, die an Herz- und Kreislaufschwäche oder auch an chronischer Bronchitis leiden.
Zum Impfen kommen allerdings nicht die Gefährdeten"-, rügte letzte Woche ein Hamburger Impfarzt, "sondern fast nur kerngesunde Burschen vor dem Skiurlaub."