BERLIN / WIRTSCHAFT Neue Quellen
Oben auf dem Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche intonierten Bläser den Choral "Nun danket alle Gott", Glockengeläut setzte ein, und berstende Raketen versprühten ihr Licht über das nächtliche Berlin.
Unten auf dem Kurfürstendamm. zwischen Kranzler-Eck und Europa-Center, drängten sich Einheimische und Touristen an den Theken der Bierzelte, um Würstchenbuden und Schießstände, enterten das Wodka-Schiff "Troll", einen trockengelegten Havel-Dampfer, zwängten sich in den überfüllten, zur Bar umgebauten Straßenbahnzug der Ex-Linie 55 und riefen "Prosit Neujahr".
Volk und Gäste nahmen beim "Silvestival 1968" -- einer mit 100 000 Mark vom Senat subventionierten Straßen-Fete -- Abschied vom alten Jahr. Und Grund zum Feiern hatten die Berliner, wie es scheint, diesmal wirklich.
Allen düsteren Prognosen zum Trotz blieben 1968 politische Pressionen aus, und auch die wirtschaftliche Rezession des Jahres 1967 wich neuem Aufschwung. Die Auftragsbücher füllten sich wieder, die Umsatzziffern stiegen, und die Zahl der Arbeitslosen sank,
"Die West-Berliner Wirtschaft", so konstatierte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am Jahresende, "befindet sich in einer Phase anhaltender konjunktureller Aufwärtsentwicklung." Und dieses Wachstum, so prophezeite das Gutachten, werde im kommenden Jahr anhalten.
Auch Berlins Senat bekundete Zuversicht. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz teilte anläßlich eines Manager-Meetings allen Interessenten mit, "daß man in Berlin Geld machen kann", und Wirtschaftssenator Dr. Karl König resümierte in seinem Jahresrückblick vor der Industrie- und Handelskammer: "Die Berliner Wirtschaft befindet sich wieder in einer kräftigen Aufwärtsentwicklung."
Freilich: Trotz günstiger Jahresbilanzen für 1968 bleibt die wirtschaftliche Existenz der Inselstadt zumindest auf weite Sicht prekär und beherrscht Unsicherheit die Debatten der politischen Führung, die hinter der schöngefärbten Fassade geführt werden.
Grund zur jüngsten Auseinandersetzung lieferte im Dezember ausgerechnet das Regierungsmitglied" das Berlins Bürger eben erst mit einer optimistischen Jahresschlußrechnung aufgeheitert hatte: Wirtschaftssenator Karl König.
Der Streit hatte sich an der wirtschaftlichen Zukunftsplanung für West-Berlin im allgemeinen und am Problem der Energie-Versorgung im besonderen entzündet: Die Kapazität der West-Berliner Kraftwerke reicht zwar für die nächsten zehn bis 15 Jahre noch aus, dann aber müssen der Stadt neue Stromquellen erschlossen werden.
Da herkömmliche Kraftwerke aus Mangel an geeignetem Baugelände nicht mehr errichtet werden können, schlug Karl König vor, die dann zusätzlich nötige Energie zunächst über einen Stromverbund mit der DDR und später über ein transkontinentales Verbundnetz zwischen den Ländern des Ost- Wirtschaftspaktes Comecon und den Staaten der EWG zu beschaffen. König: "Weiterhin ist die Lieferung von Erdgas oder Erdöl (als Kraftwerksbrennstoff) über festverlegte Leitungen aus der Bundesrepublik oder der SBZ wünschenswert."
Entrüstet warfen König-Kollegen dem Bauingenieur Mangel an "politischem Fingerspitzengefühl" vor. Der Senator möge doch, um West-Berlins Energie-Autarkie zu sichern, ein Atomkraftwerk bauen lassen. Darauf König: "Ich bin doch kein technischer und wirtschaftlicher Idiot. Das hieße ja jetzt einen Anzug kaufen, den man in 20 Jahren anziehen kann."
Die Energie-Fehde wurde fürs erste vertagt. Gutachten sollen die Sachlage klären. Doch zu welcher Lösung der Senat dann auch kommen mag -- jede wirtschaftliche Zukunftsrechnung in West-Berlin enthält eine unberechenbare Unbekannte: die Politik.
Unbekannt ist In diesem Fall zum Beispiel, ob sich Ost-Berlins Staatshändler überhaupt zu Stromlieferungen nach West-Berlin bereit finden werden, unbekannt ist das Risiko, das die Insel-Stadt eingeht, wenn sie sich bei der Stromversorgung in eine gewisse Abhängigkeit von der DDR begibt. Unbekannt ist schließlich, ob die Alliierten (und die im Geiste immer noch mitmarschierenden Sowjets) dem Bau eines Atomkraftwerks In West-Berlin zustimmen würden.
Und wie bei der Energieplanung, so berührt der Ost-West-Konflikt auch jeden anderen Versuch der West-Berliner, ihrer Stadt eine stabile wirtschaftliche Basis zu beschaffen. Deshalb vor allem kam die Idee des früheren Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, West-Berlin zur Handelsdrehscheibe zwischen den politischen Blöcken zu machen, über Wunschvorstellungen nie hinaus. Deshalb auch sind alle Anläufe, die Struktur der Berliner Industrie zu verbessern, bei der Diagnose von Strukturmängeln stehengeblieben.
Die technisch mögliche und wirtschaftlich wünschenswerte Ansiedlung von Produktionsstätten etwa der elektronischen Industrie scheint aussichtslos, solange Sowjets und DDR unter dem Vorwand, Erzeugnisse dieser Art könnten zu Rüstungszwecken benutzt werden, die ohnehin schmalen Landverbindungen West-Berlins zum Westen weiter einengen können.
Zudem zeigt die Erfahrung nach dem Mauerbau, daß Steuervergünstigungen weder ausreichen, den Zuzug zukunftsträchtiger Industrien zu forcieren, noch Arbeitskräfte in erforderlicher Zahl nach West-Berlin zu locken.
Auch Pläne, Berlins Lage zur Erweiterung des Ost-Handels zu nutzen, scheiterten stets an politischen Barrieren, die in Ost wie West errichtet wurden: Die Bundesregierung lehnte bislang ab, West-Berlin eine Sonderstellung im Interzonenhandel einzuräumen, und die DDR weigert sich -- teils aus politischen, teils aus wirtschaftlichen Gründen -- hartnäckig, die West-Berliner Liefermöglichkeiten auszunutzen.
So erscheint das umfangreiche Angebot der Berliner Elektro-Industrie von der Glühbirne bis zum kompletten Elektrizitätswerk Ost-Berlins Wirtschaftsplanern zwar außerordentlich verlockend. Die Handelsvereinbarungen der DDR mit der Sowjet-Union aber zwingen die Staatshändler, Großanlagen ausschließlich bei ihrem Senior-Partner zu kaufen.
Folge dieser Politik ist ein seit Jahren klaffendes Defizit des West-Berliner Anteils am Interzonenhandel. Während West-Berlin an den Gesamtbezügen der Bundesrepublik aus der DDR mit nahezu einem Viertel beteiligt ist, erreichen die DDR-Lieferungen des Stadt-Teils insgesamt noch nicht einmal zehn Prozent.
Dabei geben die Westler ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten, die aus der geographischen Lage und den Bedürfnissen der 2,14-Millionen-Gemeinde erwachsen:
Die Stadt deckt einen erheblichen Anteil ihres Bedarfs an Baustoffen (Kies, Zement>, Kohle und Lebensmitteln aus DDR-Produktion, nutzt den Vorteil der geringen Entfernung und der mithin niedrigen Transportkosten. Allein 1968 kamen rund 700 000 Tonnen DDR-Zement, für 160 Millionen Mark Schweinehälften und Schlachtvieh sowie täglich 20 000 Liter Frischmilch über die Mauergrenze.
Sogar eine Ausweitung dieser Einfuhren hält der Senat für möglich -- sofern sich die DDR bereit findet, künftig mehr in West-Berlin zu kaufen, und sofern die westdeutschen Produzenten landwirtschaftlicher Erzeugnisse nicht mehr, wie bisher, auf bestimmten Absatzquoten in West-Berlin bestehen.
An Plänen fehlt es nicht. Und auch von der Wirtschaftskommission, die der Senat vor mehr als einem Jahr einberufen hat, erhoffen sich die Schöneberger Ratsherren in den nächsten Wochen Anregungen für ein glückliches neues Jahr.
Vorerst freilich gilt noch immer ein Spruch des Wirtschaftssenators: "West-Berlin ist ein Sackbahnhof."