DER SEX-REFORMATOR WIDER WILLEN
Wenn die Unzucht mit gleichgeschlechtlichen oder mit beliebig vielen Erwachsenen oder auch mit Tieren nicht länger strafbar, wenn die Pille rezeptfrei, die Ehescheidung Formsache, die Abtreibung erlaubt wäre, wenn Verhütungsmittel überall angepriesen und Sex-Partys ohne Furcht vor dem Staatsanwalt veranstaltet werden dürften; wenn die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich verkürzt, der Arbeitslohn verdoppelt und die Sexual-Aufklärung zum beliebtesten -- oder auch langweiligsten -- Schulfach avanciert wäre: hätte die sexuelle Befreiung dann stattgefunden, oder, anders herum, könnte von einer "sexuellen Unterdrückung im Spätkapitalismus" dann noch die Rede sein?
Liest man die Schrift von Reimut Reiche, dem heute 27jährigen SDS-Vorsitzenden von 1966 auf 67, so möchte man daran zweifeln. Sie betitelt sich "Sexualität und Klassenkampf -- Zur Abwehr repressiver Entsublimierung".
Die Gesellschaft in der Bundesrepublik, so erklärt uns Reiche, ist, solange kapitalistisch, notwendig eine. die verhindert, daß die Menschen je die Freiheit erlangen, ihre sexuellen Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln. Vielmehr bleibt diese Freiheit, wenn auch in recht verstümmelten Erscheinungen, ein Privileg der Herrschenden.
Um den Konsum immer höher zu treiben und um die Einsicht in die Mechanismen der Herrschaft ständig mehr zu erschweren, manipulieren die Herrschenden die sexuellen Bedürfnisse der Beherrschten, indem sie Bedürfnisse neu zulassen, anreizen oder gar wecken, deren Befriedigung sie gleichzeitig eben durch die Vermarktung der Sexual-Sphäre teils unmöglich, teils nur zum Schein möglich machen.
Um die Herrschenden im Besitz ihrer Privilegien zu halten, muß mittels schwerer, die sexuelle Entfaltung hindernder Arbeit Sinnloses produziert und das sinnlos Produzierte von den Beherrschten selbst konsumiert werden, in einem raffiniert auf die einzelnen Schichten zugeschnittenen System der ständig angepaßten und neu anzupassenden Konsumbefriedigung, und das heißt hier der sexuellen Nicht- oder Scheinbefriedigung. So kann der Beherrschte nie zu der Einsicht gelangen, "daß man, um sich zu befriedigen, diese Befriedigung jemandem wegnehmen muß (nämlich dem, der sie einem ursprünglich genommen hat -- dem Kapitalisten).
Reiche ist kein Freund einfacher, sondern einer soziologisch klischierten und verkauderwelschten Darstellung. Man muß seine Thesen versimpeln, wenn man sie dolmetschen will. "Unverständliche Sprache" zählt nach seiner Meinung neben "abstoßender Kleidung und "unordentlichem Leben" zu jenen Attributen, die den Protestierenden erst befähigen, Ausbeutung zu erkennen und gegen Verhältnisse der Ausbeutung zu kämpfen.
Schon der Buchuntertitel "Zur Abwehr repressiver Entsublimierung" muß erklärt werden Unter Abwehr versteht er (nicht nur, aber doch überwiegend) Abwehrkämpfe gegen Übergriffe der herrschenden Klasse. Die Herrschenden, laut Reiche, verhindern, was seit Freud als Sublimierung der Triebe bekannt ist, jene geglückte Verschiebung libidinöser Triebe, die laut Freud Kultur schafft; sie verhindern die Sublimierung jedenfalls generell, indem sie das kulturell bereits erreichte "Sublimationsniveau" herabsetzen und derart bewirken, daß die individuelle Fähigkeit zur Sublimierung nur noch rudimentär ausgebildet, also doch wohl künstlich verstümmelt wird. Die überschießenden sexuellen Impulse werden nicht zu sozialen Tätigkeiten verarbeitet, sondern verdrängt. Reiche scheint anzunehmen, daß man
solche Triebverarbeitungen nach der Kindheit und "gezielt" vornehmen kann.
Die Ich-Leistungen. aufgrund derer das Individuum erst befähigt würde. über seinen Triebapparat zu verfügen, werden, Reiche meint planmäßig, abgebaut. Die Entscheidung, ob Lust-Verzicht oder nicht, wird dem Individuum abgenommen und an jene "Instanzen abgegeben, die auch die kontrollierte Entsublimierung vornehmen und nunmehr anordnen, wie sich die Person von Augenblick zu Augenblick zu verhalten hat".
Was sind das für Instanzen? Reiche. wenn er von Manipulations- und Anpassungsmethoden spricht, erkennt, daß es dabei ein handelndes Subjekt, "gewissermaßen einen obersten Manipulator", nicht gibt, es wirkt vielmehr eine "mächtige gesellschaftliche Tendenz.
Zu den Befehlsgebern und Kontrolleuren der Sex-Manipulation rechnet Reiche Druckerzeugnisse wie "Eltern", "Twen", "Bravo", "Brigitte", "Elle", "Das Neue Blatt". Sie gewähren, behauptet Reiche, je nach Zielansprache ihres Publikums jenes Mehr an sexuellen Freiheiten, das im Interesse der Herrschenden angebracht, ja nötig scheint. Mit ausgeklügelten Konsumenten-Leitbildern appellieren sie an jeweils sehr verschiedene Konsumentenschichten und Kaufinstinkte: "Twen erlaubt, was in "Eltern noch verboten ist, aber ist das eine so tolle Entdeckung?
Nehmen wir an, beide Blätter gehörten demselben Verleger, wie es vor Jahresfrist noch war. Diktiert er den Käufern seiner Blätter, was sie lesen und kaufen sollen, oder horcht er in die verschiedenen Schichten hinein. mit welchem Angebot er sie am ehesten reizen könnte. erstens sein Blatt und zweitens die darin angepriesenen Produkte zu kaufen? Daß jeder Konsum die Aufrechterhaltung der Konsumgesellschaft sichern hilft, mag unbestritten sein. Ebenso hat die Kulturkritik schon immer beklagt, daß der anbietende Verleger Bedürfnisse weckt, über deren Befriedigung er sich keine grauen Haare wachsen läßt. Nur, hat er deshalb schon die Sicherung irgendeines Systems im Sinn?
Die "mächtige gesellschaftliche Tendenz" avanciert auch bei Reiche doch wieder unversehens zu einem handlungsfähigen Popanz, da außer acht bleibt, daß sie von den "Manipulatoren" nicht so sehr in die "Beherrschten" hineinmanipuliert, vielmehr aus ihnen herausgefragt wird. Gilt als die höchste Kunst des Verkäufers, Bedürfnisse zu befriedigen oder scheinbar zu befriedigen, die er erst geweckt hat, so wird er dabei nach aller Regel seinen Profit im Auge haben. Stößt sein Gewinnstreben auf jene Tabus, die den Stützen der Gesellschaft zur Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Herrschaftssystems noch unerläßlich scheinen, so wird sich in der Regel das Gewinnstreben durchsetzen, jedenfalls in einer Gesellschaft, die von "Eltern" und "Jasmin" geprägt wird.
Das kapitalistische System sorgt aus sich heraus, nur weil seine Privilegierten an ihren Vorteil denken, für die Fortdauer und Fortzeugung des Systems. Seine Privilegien sind, obschon in der Spitze zentriert, doch recht vielfältig und weit gestreut. Es gibt mehr Menschen, die glauben, Privilegien verteidigen zu sollen, als Menschen, die ihrem Selbstverständnis nach ohne Privilegien sind -- das eben wäre der Kunstgriff eines obersten Manipulators, wenn es ihn entgegen Reiches Annahme doch gäbe.
"Eltern", "Twen" und "Bravo" beweisen Reiche, daß die "spätkapitalistische Gesellschaft" zwar größere sexuelle Freiheiten. reale und scheinbare, gewährt; aber doch nur, damit die Sexualität in den Dienst der Herrschaftssicherung bruchlos integriert werden kann. Haben Reiche und Genossen. die doch wissen, daß selbst Springer kein "oberster Manipulator" ist, den richtigen Begriff von dieser Herrschaft? Ist ihnen klar, daß die "spätkapitalistische" Gesellschaft -- spätkapitalistisch wohl, weil zum Untergang verurteilt -- ihre sexuellen Gebote und Tabus nur hinhaltend verteidigen, aber gewiß nicht zielbewußt manipulieren kann? Man hat kaum je den Eindruck, daß die revolutionären Studenten die Gesellschaft, die sie revolutionieren wollen, kennen: obschon sie doch unausgesetzt über sie Reflexionen anstellen.
Es fällt auf, wie wenig Einfluß Reiche den Kirchen einräumt, wohl weil sein Thema die scheinbare Gewährung jener sexuellen Freiheit ist, die von der Kirche auch nicht scheinbar eingeräumt wird. Ihm geht es um die Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Sexualität. Sie müssen gewiß nicht künstlich hergestellt werden, sie neu und eindringlich aufgezeigt zu haben, bleibt Reiches Verdienst. Aber es hat schon etwas von einer Art Besessenheit, wenn er das Potenz-Protzentum in der Renaissance-Literatur (wie oft in einer Nacht mit wie vielen?) mit dem Übergang von der stationären Agrarwirtschaft zum kolonialen Handelskapitalismus in Beziehung setzt.
Ehepaare der Unterklasse empfinden laut Umfrage weniger Lust an ihren sexuellen Beziehungen in der Ehe. Reiche meint, sie reproduzierten die Arbeitsteilung auch in der Sphäre von Familie und Freizeit. Die Erklärung mag stimmen, aber es gibt auch andere Erklärungen, abgesehen davon, daß Reiche "den vorgeschriebenen Weg zur monogamen, herrschaftstechnisch und ökonomisch begründeten Zwangsehe" sonst verdammt.
Angehörige der Unterklasse fangen früher mit dem normalen Geschlechtsverkehr an und hören demgemäß früher auf zu onanieren. Liegt hier, wie Reiche meint, die Verstümmelung "einer hohen, unter Umständen bewußt manipulierbaren Phantasietätigkeit"? Vielleicht. Aber welche anderen Mittel als die uns geläufigen und von Reiche verachteten gäbe es in Mitteleuropa, die Unterklasse speziell der Bundesrepublik von materiellem Druck und von dem Mangel an formaler Bildung zu befreien?
Reiche spricht es nicht aus, aber er scheint den Instanzen der Sex-Manipulation nicht weniger übelzunehmen, daß sie die falschen Bedürfnisse wecken, als daß sie den richtigen Weg revolutionärer Sexualisierung nicht aufweisen, den er zu kennen scheint. Dennoch sind Zweifel möglich, ob die Sublimierung leistet, was manche Freudianer ihr zuschreiben, Zweifel auch, ob die "Entsublimierung" nur auf die Repression der Herrschenden zurückgeht, ob sie nicht vielmehr den Zwängen der technischen Welt von heute entspricht. Daß die ökonomische und soziale Unterdrückung ständig zunehme, ist Reiches Behauptung. Herbert Marcuse in "Der eindimensionale Mensch" hat sich beträchtlich vorsichtiger ausgedrückt, als er 1964 schrieb: "Es scheint, daß eine solche repressive Entsublimierung in der sexuellen Sphäre tatsächlich vor sich geht."
Ob denn irgendeine heutige Gesellschaft noch besonders prädestiniert sei, Ich-Leistungen zu fördern, die sich ja im Widerstand gegen die Umwelt manifestieren, muß immerhin gefragt werden. Was Herbert Marcuse beklagt, gilt wohl nicht nur für die spätbürgerliche Ära, daß nämlich die Welt vom Menschen "die Verleugnung seiner innersten Bedürfnisse nicht zu verlangen scheint"; daß der Mensch sich einer Welt anpassen müsse, "die nicht wesentlich feindlich ist".
Es geht Reiche anscheinend nicht um bessere Voraussetzungen für ein erfülltes Sexuallehen, sondern um die richtigen Voraussetzungen. Mit Herbert Marcuse klagt er, die Reichweite gesellschaftlich statthafter und wünschenswerter Befriedigung nehme erheblich zu, aber auf dem Wege dieser Befriedigung werde das Lustprinzip reduziert, werde seiner Ansprüche beraubt, die mit der bestehenden Gesellschaft unvereinbar seien. Mit welcher Gesellschaft, so müssen wir fragen, wären diese Ansprüche vereinbar, sei es in Kuba, China oder Vietnam?
Es stimmt, die herrschende Klasse, was immer man darunter verstehen mag, hat ihr Wertsystem im eigenen Interesse den Nicht-Herrschenden auf geprägt. Aber aus Urzeiten überkommene Wertvorstellungen, etwa der Kirchen und nicht nur der Kirchen, sind in das Wertsystem der industriellen Gesellschaft eingegangen, dessen Beharrungsvermögen unverständlich bliebe, würde man den gleichwohl hohen Grad sich selbst steuernder Anpassung außer acht lassen.
Der Konsensus einer Mehrheit, die bestehenden Verhältnisse passabel zu finden, kann nicht allein den Manipulationen und Repressionen einer herrschenden Minderheit zugeschrieben werden. Es heißt, den Lauf der letzten hundert Jahre umkehren, wenn man, wie Reiche, behauptet, der Kapitalismus habe "bestimmte Formen der sexuellen Unterdrückung erst in weitgeschichtlichem Ausmaß produziert und auf die Spitze getrieben". Soll das heißen, die Bevölkerung oder die herrschende Klasse der USA reagiere in Vietnam mittels Aggression nach außen ihre sexuelle Unterdrücktheit ab? Denn Reiche hält für ausgemacht, daß minimale Triebeinschränkung, wie sie bei bestimmten Primitiven anzutreffen ist, die Menschen frei von Aggressivität hält. Das Ideal des monogamen, heterosexuellen Geschlechtsverkehrs hingegen sieht Reiche als Ausgeburt des kapitalistischen Leistungsprinzips.
Er weiß die bundesrepublikanische Gesellschaft weiterhin "auf dem vorgeschriebenen Weg zur monogamen, herrschaftstechnisch und ökonomisch begründeten Zwangsehe", trotz "Lockerung der manifesten sexuellen Repressionen", trotz der "Zunahme sexueller Freiheiten". Reformation der sexuellen Sitten und Gebote scheint ihm schlechtweg unmöglich ohne soziale Revolution.
Außer acht läßt er, wie sehr er und andere zu solch einer Reformation beitragen. Lieber zieht er den Zirkelschluß:" Keine sexuelle Reformation ohne soziale Revolution". Die spätkapitalistische Gesellschaft ist, laut Reiche, darauf abonniert, die beherrschte Klasse "so schwere und vor allem sinnlose Arbeit" leisten zu lassen, daß die technischen und sozialen Bedingungen zur Ausübung der Sexualität nicht optimiert werden können, ja, auch gar nicht sollen. Offenkundig wird "sinnlos", das heißt ohne wirkliches Bedürfnis, produziert. Die beherrschte Klasse wird durch die "Kaufbefehle der Reklame", diesen "versteckten Terror", dazu vermocht, "zu konsumieren, wann immer das System es will, und zu konsumieren, was immer das System will", also das Sinnlose nicht nur zu produzieren, sondern auch noch selbst zu konsumieren.
Zwecks Herrschaftssicherung werden Arbeitsprozesse auf der unteren ökonomischen Ebene nicht rationalisiert, werden längst mögliche Befriedigungen versagt, potentielle Ressourcen unterdrückt oder nicht ausgebildet, werden die kreativen Ich-Fähigkeiten verstümmelt.
So erscheint das Gegenbild einer Gesellschaft, in der keine beherrschte Klasse mehr so schwer und vor allem so sinnlos arbeiten muß; in der sinnlos nicht mehr produziert und demgemäß auch nicht konsumiert wird; in der auch die arbeitenden Menschen ihre Sexualität bei optimierten technischen und sozialen Bedingungen ausüben können; in der ihre Fähigkeiten, das Ich zwischen Triebbefriedigung und Triebverarbeitung (Sublimierung) wählen zu lassen, nicht planmäßig verstümmelt werden. Mit der sexuellen Befreiung der ehemaligen Beherrschten werden die ehemals Herrschenden, deren sexuelle Verkrüppelung zwar spezifisch, aber doch nicht minder gravierend ist, nicht minder befreit.
Entspricht diese Zukunfts-Projektion dem Stand derzeitiger Wissenschaft? Ich habe Zweifel. Die Mängel, ja die Unsittlichkeiten des kapitalistischen Systems liegen auf der Hand. Aber seine Stärke liegt in seinen Mängeln. Ob die primären Bedürfnisse (Nahrung, Wohnung, Kleidung, Freizeit etc.) einer westlich industrialisierten Bevölkerung in einer nicht auf Konsum und nicht auf Gruppenneid gegründeten Gesellschaft leichter zu befriedigen wären, steht durchaus dahin, von den inzwischen eingefleischten Konsumgewohnheiten ganz abgesehen. Die Schwäche des marxistischen Systems liegt in der unreflektierten Stärke seiner Zukunftserwartung. Daß eine perfekte sexuelle Befreiung von früheren Normen, wie sie ja unterwegs ist, die sexuelle Verkümmerung aufheben, daß sie Sublimierung ermöglichen und die latente Aggressivität mildern würde, haben auch die Marxisten bislang nicht glaubhaft belegt.
Das Erziehungssystem der Bundesrepublik umzuwerfen, mag am dringlichsten und von der derzeitigen Gesellschaft am wenigsten zu erwarten sein. Aber wann hätte solche Notwendigkeit eine Bevölkerung je zur Revolution getrieben?
Auch Reimut Reiche, entgegen dem Sinn seiner Schrift, scheint zu ahnen, daß jene Reformation der Sexualität, die er ablehnt, einzig zu verwirklichen, die Revolution aber nur per Lippendienst zu verehren bleibt. Er setzt, wie manch Größerer vor ihm, auf die ökonomische Krise. In seinen Worten: Die Überlebenschancen des imperialistischen Weltsystems müssen sich, durch die von ihm ausgehenden Gewaltanwendungen und die daraus resultierenden manifesten ökonomischen Krisen, schneller verschlechtern, als diese Verschlechterung durch eine gleichzeitige Verbesserung der manipulativen Anpassung und Integration der Individuen in dies System kompensiert werden kann. Daß die USA den Krieg in Vietnam eben deshalb beenden, um die ökonomische Krise nicht erst manifest werden zu lassen, daß sie jeden anderen Krieg, der ihr Wirtschaftssystem stören würde, ebenfalls beenden würden, geht nicht in solch klugen Kopf.
Das System der manipulativen Ausbeutung muß, wieder Reiches Worte, von den ökonomischen Krisen faktisch überholt werden; dann erst können die "Intellektuellen, Studenten und Jugendlichen", die bislang stellvertretend für eine noch nicht hergestellte Klassenidentität der gesamten beherrschten Klasse handeln, die Avantgarde eben dieser ihrer eigenen. tatsächlich ihrer eigenen, der beherrschten Klasse werden. Aus dem Klassenkampf wird der Kampf im Klassenzimmer.
Wenn derart die sexuelle Reformation mit der Revolution verknüpft, diese selbst der großen Krise anheimgestellt wird, regt sich naturgemäß Verdacht, daß ein verzweifelt untaugliches Mittel, nämlich die Sexualisierung der Jungen und ganz Jungen, entgegen jeder Vernunft doch noch den revolutionären Durchbruch bringen soll, eine gigantische Manipulation von links, der Sex als Vehikel der Revolution. Aber auch hier bleibt Reiche ehrlich. Er sieht nur zwei Bewegungen, die versucht hätten, die sexuelle Haltung der Gesellschaft und die Sexualität ihrer eigenen Mitglieder zu revolutionieren, nämlich die Kommune I der Teufel und Langhans in West-Berlin und das Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS). Beide seien "vorerst gescheitert".
Nur einmal wird Reiche lyrisch. Seinen Kombattanten empfiehlt er als Ich-Ideal, sicher uneingedenk des berühmten Vorbilds: "In den imperialistischen Metropolen so listig und schweigsam sein wie der Vietcong in Vietnam, so tapfer sein wie Che in Bolivien, so weise sein wie Mao, und an diesen Leistungen seine eigenen Ich-Qualitäten zu messen und auszubilden."
Fast ist man versucht vorzuschlagen, solch anregende Geister wie Reiche möchten sich nicht ständig in den Traumgebilden einer begrifflich zurechtgestutzten, urzeitlichen Wünschen angepaßten Phantasie verlieren. Wer aber, wenn sie nicht träumten, würde der Gesellschaft die Zukunft ausmalen?