DURSTIGE RUSSEN STÜRMTEN DEN FREE SHOP
Dienstag, 20. August. Für den neuen Prager Flughafen Ruzyne ein Tag wie jeder andere. Tagsüber ein starker Flugverkehr, es herrscht immer noch Sommersaison, die Tschechoslowakei und ihre "Goldene Hauptstadt" Prag sind nach der Demokratisierung des kommunistischen Regimes Ziel zahlreicher ausländischer Touristen.
Der neue Flughafen konnte noch rechtzeitig vor Beginn der Rochsaison in Betrieb gesetzt werden." Ich will nicht einmal daran denken, was wir getan hätten, wenn wir diesen Verkehr auf dem alten Flughafen abwickeln müßten", bemerkte mit Erleichterung der Direktor der Ruzyne-Flughafens.
Es ist 21.52 Uhr. Der Direktor packt die Arbeitspapiere von seinem Schreibtisch in die Aktenmappe. Sein Arbeitstag ist vorbei. Das letzte Flugzeug aus Paris ist gelandet, die Passagiere sind weggefahren, und die Pisten stehen leer. Das nächste Flugzeug wird die Air-India-Maschine aus New York in Richtung Neu-Delhi sein, mit Zwischenlandung in Prag -- um fünf Uhr früh. Kein Sonderflugzeug ist gemeldet. Es ist 22.03 Uhr.
Plötzlich läutet das Telephon auf dem Schreibtisch, das rote Licht an der gegenüberliegenden Wand -- wie in den Korridoren -- beginnt zu blinken: die direkte Verbindung mit dem Kontrollturm des Flughafens, die den Direktor überall in dem Gebäude erreicht.
"Was ist denn los?" ruft der Direktor in den Hörer. "Hier ist der Kontrollturm Capek", klingt es aus dem Apparat. "Genosse Direktor, wir haben in diesem Augenblick einen Notruf von drei sowjetischen Transportflugzeugen empfangen. Sie sagen, sie leiden unter Treibstoffmangel und verlangen die Genehmigung zur Notlandung. Was soll ich antworten?"
"Nun, sagen Sie Ihnen, es tut uns leid, sehr leid sogar", entscheidet der Direktor, "aber bei uns Ist alles schon zu, das Personal ist nach Hause gegangen, und wir fangen erst wieder um vier Uhr früh an. Sie sollen sich mit dem Militärflughafen Kbely in Verbindung setzen. Dort können sie ohne weiteres landen und zu jeder Zeit Hilfe bekommen. Wir sind ein Zivilflughafen. Ende."
Der Direktor macht sich wieder auf den Heimweg. Bevor er zum Lift kommt, hört er plötzlich das wohlbekannte Donnern eines landenden Flugzeugs, dessen Pilot die Bremsen betätigt. Der Direktor läuft zum nächsten Fenster und schaut über das Flughafengelände. Überall ist es dunkel, nur die Randlichter der Hauptpiste Nummer 25 zeichnen kleine gelbe und rote Punkte in die Nacht. Dort bewegt sich mit großer Geschwindigkeit ein riesiger Schatten, die Silhouette eines großen Flugzeugs. In demselben Augenblick, als das Flugzeug sich, rasch gebremst, dem Ende der Piste nähert und zu drehen beginnt, um auf die Nebenpiste auszufahren, landet schon eine zweite Maschine auf derselben Piste, und gleich danach eine dritte.
Aus dem ersten Flugzeug, das bereits stillsteht, dessen Motoren aber noch laufen, springen Gestalten, hasten geduckt auf das Flughafengebäude zu.
Der Direktor stürzt in sein Büro zurück, drückt auf einen Alarmknopf an seinem Schreibtisch und ruft in ein Mikrophon, das seine Worte in die Lautsprecher-Anlage überträgt·. "Der Flughafen ist überfallen worden. Alle zurück auf ihre Plätze und diese verteidigen." Und: "Velin' ausschalten. Ich rufe Hilfe."
"Velin" ist die Code-Bezeichnung für die Nervenzentrale des ganzen Flughafens. Ist "Velin" erst einmal ausgeschaltet, so ist der ganze Flughafen lahmgelegt: kein Strom, kein Gas, kein Wasser, keine Heizung, weder VentiLation noch Luftdruck. Und "Velin" ist gut versteckt. Nur fünf Leute wissen, wo "Velin" ist und wie es wieder in Betrieb gesetzt werden kann.
Kaum ist der Befehl des Direktors verklungen, da versinkt der Flughafen in Dunkelheit. Es ist genau 22.13 Uhr -- zehn Minuten nach dem Hilferuf" der drei sowjetischen Transportflugzeuge und dem Verbot, in Ruzyne notzulanden.
Aber sie sind gelandet. Eine große Zahl schwarzer Gestalten bewegt sich gleich einer Schar von Zwergen schnell hin und her, vielleicht hundert oder zweihundert. Es ist nicht auszumachen, womit sie sich beschäftigen.
Plötzlich wird ein Teil des Flughafens erleuchtet: Ein Scheinwerfer wurde eingeschaltet.
Die schwarzen Zwerge sind Soldaten. Alle in Feldausrüstung, die Blusen zur Tarnung bemalt -- Fallschirmjäger. Um den Hals oder auf dem Rücken tragen sie Maschinenpistolen, auf den Stahlhelmen leuchtet ein roter fünfzackiger Stern.
Sowjetische Fallschirmjäger haben den Flughafen Ruzyne überfallen. Der Hilferuf der drei Transportflugzeuge war nur ein Trick, damit sie unauffällig in Ruzyne landen und widerstandslos den Flughafen besetzen konnten. Sie wollten nicht nach Kbely fliegen, wie es ihnen der Kontrollturm von Ruzyne empfohlen hatte, denn der Militärflughafen Kbely war bereits fest in sowjetischer Hand -- durch Verrat.
Nach dem ersten Scheinwerfer nahe der Piste Nummer 25 leuchten in kurzen Intervallen weitere Scheinwerfer auf; die Russen haben alles Nötige mitgebracht: Akkumulatoren, Kabel, Pistenbeleuchtung und sogar eine provisorische Feld-Radar-Einrichtung. Alles wird rasch montiert und innerhalb einer Viertelstunde in Betrieb gesetzt. Und dann beginnt die Massenlandung.
Die Militärflugzeuge mit dem großen roten Stern und dem "CCCP"-Kennzeichen landen in Intervallen von einer Minute -- zuerst große "Antonow"-Transportflugzeuge der Typen "An-22" und "An-12" -- wie die ersten drei.
Die "An-l2" bringen noch zusätzliches Material, um die Besetzung des Flughafens zu sichern, aber auch schon leichte Panzerwagen und Transportfahrzeuge mit Kanonen und schweren Maschinengewehren. Die "An-22" bringen neue Mannschaften, die sofort in die gelandeten Kriegsfahrzeuge hineinspringen und den zweiten Teil der Besetzungsoperation eröffnen. Die Sowjets rechnen offenbar mit heftigem Widerstand und sind darauf vorbereitet. In Angriffsformation rennen sie gegen das Flughafengebäude, stoßen aber nicht auf Gegenwehr.
Im Flughafen ist -- außerhalb der Landefläche -- alles dunkel, still und ruhig. Kein Mensch, keine einzige Barrikade, kein Hindernis. Die Soldaten verlangsamen ihren Vormarsch und stoppen unentschlossen vor dem Gebäude.
Immer neue Flugzeuge landen. Die ·,Antonows" haben, eine nach der anderen, den Flughafen von der schon beleuchteten Abflugpiste Nummer acht wieder verlassen. Jetzt fliegen alte Maschinen, amerikanische "Dakote" und russische "Li" (Lichatschew), Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ruzyne an. Mehrere Bataillone mit voller Kriegsausrüstung müssen schon auf dem Flughafen versammelt sein.
Der Direktor hört plötzlich harte Militärschritte im Korridor. Die Tür seines Büros fliegt auf. "Genosse Direktor, ich befehle Ihnen, das Nervenzentrum des Flughafens, "Velin', sofort In Betrieb zu setzen", hört er eine scharfe Stimme hinter seinem Rücken -- auf tschechisch. Der Anführer der Männer -- alle In Ledermänteln, alle mit gezogenen Pistolen -- trägt die Uniform eines Offiziers der tschechoslowakischen Luftwaffe. Der Direktor kennt ihn.
Es Ist Oberst Elias, Chefpilot des Präsidenten-Flugzeugs aus der Zeit des abgesetzten Stall nisten Novotny. Die neue Parteileitung hatte zu Oberst Elias kein Vertrauen mehr. Der Posten eines Privatpiloten des Präsidenten der Republik wurde neu besetzt. Und nun ist Oberst Elias zurückgekehrt, befiehlt, den Flughafen Ruzyne den sowjetischen Okkupanten auszuhändigen.
"Da müssen Sie sich an jemanden anderes wenden", erklärt der Direktor. "Nach Ihrer langjährigen Erfahrung im Flughafen müssen Sie wissen, daß der Direktor mit den technischen Einrichtungen nichts zu tun hat."
"Kommen Sie mit in den Kontrollturm", befiehlt Oberst Elias. Zwei Elias-Begleiter stellen sich hinter den Direktor und drücken ihm ihre Pistolen in den Rücken. "Dort habe ich nichts zu suchen", antwortet der Direktor, "Sie kennen den Weg gut genug, Sie sind ihn schon oft allein gegangen."
Elias zaudert nicht. "Zum Kontrollturm hinauf, schnell", ruft er seinen Leuten zu." Sie bleiben hier, bis ich zurückkomme, dann reden wir weiter", sagt er im Weggehen zu dem Direktor. Der hebt ratlos "die Schultern: "Wohin sollte ich gehen? Mein Platz ist hier."
Während die Eindringlinge den Lift zum Kontrollturm besteigen, ruft der Direktor den Chef der Polizeidirektion Prag an: "Genosse, unser Flugplatz ist von den Sowjets überfallen und besetzt worden. Wir haben alles ausgeschaltet, und der Flughafen ist lahmgelegt. Es gibt aber Leute von uns, die mit den Okkupanten kollaborieren und den Flughafen wieder in Betrieb setzen wollen. Helfen Sie uns und informieren Sie den Minister und die Regierung. Ich werde unverzüglich meinen Minister verständigen. Verlangen Sie auch die Hilfe unserer Armee. Ich nehme an, daß auch Kbely bereits besetzt ist."
"Lieber Freund", antwortet der Polizeichef. "Vor einigen Minuten haben wir erfahren, daß sowjetische, ungarische, polnische, bulgarische und sogar ostdeutsche Truppen unsere Grenze überschritten haben und unser Land besetzen. Unsere Regierung tagt bereits, und wir warten auf weitere Befehle. Genosse Dubcek ist in Verbindung mit Moskau, um eine Erklärung zu bekommen. Niemand wurde von diesem Schritt gegen uns informiert. Unser Befehl heißt "abwarten'. Ich kann also im Augenblick nichts für Sie tun und rate Ihnen ebenfalls, Ruhe zu bewahren und abzuwarten wie wir. Auf keinen Fall sollten Sie aber den Okkupanten behilflich sein -- dies Ist jedoch nur mein persönlicher Rat. Ich selbst kann Ihnen keine Instruktionen oder Befehle erteilen."
In diesem Augenblick hört der Direktor, wie Im Erdgeschoß die Glasfenster und die geschlossenen Türen aufgebrochen werden und die russischen Soldaten in das Gebäude drängen. Sie rennen -- dem Geräusch nach hin und her, rufen und wissen offenbar nicht, was zu tun ist.
Die Soldaten mit ihren Taschenlampen und Scheinwerfern gleichen Gespenstern. Sie beginnen, die Büros zu plündern. Kugelschreiber, Aschenbecher, Schreib- und Rechenmaschinen finden ihr größtes Interesse. Sie jubeln wie Kinder, wenn sie eine Trophäe erwischen. Die Gefahr von Widerstand haben sie völlig vergessen, bis ein neuer Befehl sie zur Ruhe und Ordnung ruft. Das Flughafengebäude ist aber bereits halb ausgeraubt. Als erstes fiel der "Duty-Free-Shop", wo sämtliche Reserven an Whisky, Kognak und sonstigen ausländischen Spirituosen sowie Zigaretten und Parfüms in einigen Minuten verschwanden.
Die Mannschaft des Kontrollturms ist inzwischen von Elias" Leuten herausgeworfen, der Kontrollturm besetzt worden -- von Verrätern aus den Reihen der Luftwaffe. die in der letzten Zeit von ihren dicken Posten auf Nebengeleise abgeschoben worden waren. Jetzt ist ihre Stunde wieder gekommen.
Viel können sie aber nicht tun. Der Kontrollturm ist tot -- so lange, bis "Velin" wieder eingeschaltet ist. Aber Vdm" können sie nicht finden. Elias brüllt und droht aber niemand will wissen, wo "Velin" zu finden ist (die Russen brauchten drei Tage, um das "Velin"-Geheimnis zu lüften).
Endlich taucht ein sowjetischer Offizier auf, um dem Durcheinander ein Ende zu machen. Die Hilflosigkeit der Sowjetarmee scheint ihm peinlich zu sein. Er betritt das Büro des Direktors und fragt, ob der Russisch spricht. "Da, ja goworju po-russki". antwortet der Flughafen-Direktor. "Ich habe nach der Befreiung meines Vaterlandes durch die heroische Rote Armee 1945 aus Dankbarkeit die Sprache unserer besten Freunde und unserer Beschützer gelernt, damit ich mich mit ihnen in ihrer Sprache verständigen konnte. Ich war auch dreimal in der Sowjet-Union, sowohl dienstlich zu Verhandlungen mit Aeroflot als auch privat im Urlaub. Ich habe das Land und das Volk geliebt."
Der Offizier schweigt betreten. Schließlich ordnet er an: "Rufen Sie alle Ihre Leute zusammen und gehen Sie alle nach Hause, Sie sind alle vorübergehend beurlaubt, stehen aber zur Verfügung. Vorläufig übernehmen wir die Kontrolle selbst. Abtreten." Draußen ruft er seine Unteroffiziere zusammen und erteilt ihnen neue Befehle.
Weil "Velin" ausgeschaltet ist, funktioniert auch der Lautsprecher nicht mehr. Der Direktor sucht seine Angestellten einzeln zusammen, gemeinsam gehen sie zum Parkplatz. Doch die Privatautos, die Wagen der ausländischen Fluggesellschaften, sind verschwunden.
Als sich die kleine Gruppe der Flughafenmannschaft zu Fuß auf den Heimweg macht, sieht sie noch, wie die Autos in die leeren sowjetischen Flugzeuge verladen werden.