OLYMPIA / ACHTER Adams Abschied
Vier deutsche Hünen steuerten die Bar des Pressequartiers in Mexico City an. Am Eingang aber stemmte sich ihnen ein mexikanischer Soldat entgegen; zur Verstärkung beorderte er zwei Gewehrträger herbei. Als es einem Deutschen dennoch gelang, den Kordon zu durchbrechen, klammerten sich fünf Wächter an ihn. Ihr Befehl lautete: kein Barbesuch für Athleten, keine Ausnahme für Olympia-Sieger.
Erst ein -- fingierter -- Anruf bei der deutschen Mannschaftsleitung ebnete den wider Erwarten mit Gold prämiierten Achter-Ruderern den Weg zu Bierhahn und Tequila, dem magendesinfizierenden Agavenbrand. Netzbestrumpfte Mexikanerinnen in schwarzen Miniröcken tauschten leere Humpen gegen volle aus, während die Ruderrecken den erfolgreichsten Bluff der Mexiko-Spiele aufdeckten.
Denn nach den vorolympischen Tests hatte kein Fachmann dem Ratzeburger Trainer Karl Adam für Mexiko wieder einen Gold-Achter zugetraut. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Oberstudienrat die Leistungen im Rudersport durch neuartige Methoden vorangetrieben.
Adam, der selber nie Rennen ruderte, ließ seine Ruderer wie Leichtathleten eine Teststrecke zehnmal spurten oder im Dauertraining 16 Kilometer rudern.
Zum erstenmal siegte 1960 in Rom ein deutsches Boot in der am höchsten eingeschätzten Klasse bei Olympischen Spielen. Als daraufhin die Trainer in aller Welt nach den Training-Tricks forschten, die dem Gold-Achter zum Sieg verholfen hatten, gab Adam seine Geheimnisse preis.
Denn fortwährend tüftelte er an neuen Erkenntnissen, die den Deutschen ihren Vorsprung von Jahr zu Jahr erhielten. Nach eigenen Berechnungen veränderte er die Hebelverhältnisse an den Auslegern, so daß seine Ruderer ihre Kräfte optimal auf die Riemen übertragen konnten. Er veränderte die Form der ursprünglich schmalen Ruderblätter, bis sie breit wie Kohlenschaufeln waren. So wuchteten die Ratzeburger ihren Achter mit jedem Schlag weiter voran als alle Konkurrenten,
Freilich beobachtete die Ruder-Welt argwöhnisch jede Abweichung an Adams Booten und in seinen Trainings-Methoden. Adam-Schüler Rose präparierte 1964 den US-Achter so sorgfältig nach Adams Vorbild, daß er die deutsche Siegesserie im Olympia-Finale unterbrach.
Adam erkannte, daß eine Klub-Crew oder ein regional zusammengesetzter Achter den ausländischen Nationalmannschaften nicht länger standzuhalten vermochte. Deshalb formierte er 1966 einen neuen Achter gegen den Widerstand vereinsmeiernder Funktionäre -- aus norddeutschen und Berliner Ruderern.
Allerdings trainierte ·der Achter nur an den Wochenenden gemeinsam auf dem Ratzeburger Kuchensee. Nach einem minuziös abgestimmten Fahrplan jetteten und rollten die Mitglieder der Trainingsgemeinschaft freitags in Düsen-Jets und Pkw aus Wetzlar und Frankfurt, aus Hamburg, Berlin und Hannover an. Während der Wochentage trainierte jeder für sich.
Das Gemeinschafts-Training erwies sich als zu kurz, als daß es die Wasserarbeit des Achters genügend harmonisieren konnte. So besiegte das schlagstarke Sowjet-Kollektiv die Deutschen in der Saison 1966. Wieder half ein Adam-Einfall, im wichtigsten Rennen zu siegen: Er zog seine Mannschaft vor der Weltmeisterschaft 1966 zwei Wochen lang auf dem Silvretta-Stausee (2000 Meter hoch) in Osterreich zusammen. Das Training in der sauerstoffarmen Höhenluft setzte die Ruderer instand, nach der Rückkehr in die Ebene während des Weltmeisterschafts-Rennens mehr Sauerstoff einzuatmen, als ihre im Flachland vorbereiteten Rivalen.
Der Achter, der aus der Höhe kam, wurde Weltmeister. Die Besatzung hielt zusammen, um sich auf Mexiko vorzubereiten, und Fachleute priesen den Deutschland-Achter schon als kommenden Olympia-Sieger. Doch Adam und seine Crew untergruben systematisch ihre Favoriten-Stellung.
Wieder entpuppte sich der sowjetische National-Achter, in dem Ruderer aus acht Städten an den Riemen rissen, als gefährlichster Gegner. Zudem trumpften die Russen mit einer verblüffenden Taktik auf. Statt wie alle anderen erst auf dem letzten Viertel der 2000-Meter-Distanz zu spurten, setzten sie schon nach etwa 1200 Meter ihre Reserven ein. So überrumpelten sie die Konkurrenz.
Bei dem ersten ernsthaften Test der Olympia-Saison, der internationalen Rotsee-Regatta in Luzern, verwirrte die Sowjet-Taktik auch Adams Achter. Die Russen bewältigten das Rennen in neuer Rekordzeit. Ihre 5:38 Minuten entsprachen einer Durchschnitts-Geschwindigkeit von mehr als 21 Stundenkilometern. Der deutsche Achter ruderte zwei Sekunden langsamer. In einem weiteren Rennen verlor er sogar fünf Längen und kreuzte das Ziel erst als vierter.
Nun streuten Adam und seine Achter-Männer pessimistische Prognosen aus. "Wir rudern zuwenig zusammen", beklagte sich Schlagmann Horst Meyer. In TV- und Zeitungs-Interviews strich Adam die Sowjets als überlegene Mannschaft heraus. Als aussichtsreichstes deutsches Boot lobte er den süddeutschen Vierer mit Steuermann. "Wir sollten den Vierer mit den stärksten Leuten des Achters kombinieren", verlangte er. "Dann hätten wir vielleicht eine Chance."
In der Öffentlichkeit wehrte sich die alte Achter-Crew gegen die Umbesetzungs-Pläne, die Adam in Wirklichkeit niemals ernsthaft betrieben hatte. Aber selbst Experten wisperten von Streit im Achter, von Zerwürfnissen zwischen Trainer und Ruderern.
So rechneten auch die deutschen Fachleute nicht mehr mit einem Achter-Sieg in Mexiko. In den internationalen Ranglisten erschien nur noch ein Favorit: das Sowjet-Boot.
In Wirklichkeit war Adams Achter in Luzern trotz des Rückstandes zum Flaggschiff der sowjetischen Boots-Flottille schneller gerudert als jeder deutsche Achter vorher. Dabei hatten die Deutschen ein altes, 145 Kilo schweres Boot benutzt. Zwanzig Kilo weniger", wünschte Adam, "machen zwei Sekunden."
Bei dem Möllner Bootsbauer Wilhelm Karlisch drängte Adam auf die rasche Entwicklung eines leichteren Medaillen-Kreuzers. In der Werft sparten die Handwerker grammweise an jedem Einzelteil der Sperrholz-Konstruktion. Ergebnis: ein 40 Kilo leichteres Boot.
Zudem hegten die Ruderer eine Hoffnung, die sie wohlweislich für sich behielten: Die Sowjet-Crew hatte ihre Hochform schon im Juli in Luzern .- also offensichtlich zu früh -- erreicht. "Keine Mannschaft kann ihre Top-Form eine Saison lang halten", analysierte Achter-Ruderer Dirk Schreyer, "wir haben mit dem Zurückfallen der Russen gerechnet."
Nach einer Inspektion in Amerika lehnte Adam ab, seine Achter-Ruderer in Colorado an Mexiko-Höhe anzupassen. Der zum Favoriten-Kreis zählende US-Achter dagegen trainierte dort -- bei Herbstwetter und Schneefall. Währenddessen gewöhnten sich die Deutschen drei Wochen lang in Mexico City an die Bedingungen der Olympiastadt.
Im Vorlauf fielen die Russen zurück. Der Deutschland-Achter siegte. "Wir haben nur geblufft". trachtete der sowjetische Schlagmann Zignas Jukna die deutschen Rivalen zu irritieren.
Da befiel in der Nacht vor dem Finale den Achter-Ruderer Roland Böse hohes Fieber. Seine Mandeln waren vereitert. Um sechs Uhr früh standen die gesunden sieben Achter-Hünen auf und testeten den Konstanzer Niko Ott aus dem gescheiterten deutschen Vierer. Nach 160 Probeschlägen nahm Ott den freien Platz ein.
"Wir hatten ein mulmiges Gefühl" beschrieb Ruderer Schreyer die Situation vor dem Endkampf. Schon nach den Vorrennen waren viele Boots-Männer mit einem Kollaps zusammengebrochen. So ruderten die Deutschen ihren Achter nach dem Start zunächst vorsichtig hinter den davonspurtenden Rivalen hinterher. Tatsächlich kollabierte im führenden neuseeländischen Boot bei 1500 Metern ein Ruderer. Russen und Amerikaner erlahmten. Mit zwei Zwischenspurts preschten die Deutschen zum Olympiasieg.
Drei deutsche Ruderer hatten sich völlig verausgabt und bedurften ärztlicher Hilfe. Der Berliner Egbert Hirschfelder erholte sich erst unter einer Sauerstoff-Maske. IOC-Präsident Avery Brundage harrte 20 Minuten, bis die Achter-Crew das Sieger-Treppchen zu erklimmen vermochte. Ersatzmann Ott, der mit nur 410 Schlägen im Achter Olympiasieger geworden war, schenkte seine Gold-Plakette dem erkrankten Böse.
Doch Deutschlands Gold-Achter wird außer Dienst gestellt: Beim Sieges-Sekt beschlossen die Ruder-Stars, ihre Karriere zu beenden. "Ich bin froh, daß ich keinen Achter mehr habe", seufzte Adam zum Abschied, "jetzt sollen es die Süddeutschen versuchen."
Tatsächlich kündigten die Adam-Gegner die Rückkehr zur Ruder-Vereinsmeierei an: Jeder Verein wird künftig eigene Athleten anheuern.
Rudertrainer Adam will höchstens auf dem heimatlichen Küchensee neue Boots-Manöver befehligen. Einen nationalen Adam-Achter soll es vorerst nicht mehr geben.