TSCHECHOSLOWAKEI Verkaufte Braut
Am Prager Wenzels-Platz verkaufen Straßenhändler die ersten Weidenkätzchen. Mutige Mädchen sparen den Mantel, um ihre Miniröcke vorzuführen. Männer mit Baskenmützen sitzen in den Altstadt-Kneipen und erzählen sich eine Fabel:
Genosse Löwe traf ein Kaninchen und befahl ihm: "Genosse Kaninchen, melde dich morgen bei mir, ich will dich zum Frühstück fressen." Brav antwortet das Kaninchen: "Ich werde pünktlich sein.
Der Löwe traf ein Zebra und befahl ihm: "Genosse Zebra, morgen mittag bist du meine Speise." Brav antwortete das Zebra: "Ist mir eine Ehre." Dann traf Genosse Löwe eine Maus und befahl ihr: "Genosse Maus, sei meine leichte Abendkost."
Die Maus widersetzte sich: "Friß dich doch selber, Raubtier, ich passe." Darauf der Löwe: "Entschuldige, Genosse Maus, wenn du nicht willst, streiche ich dich von meiner Speisekarte."
So witzeln Prags Bürger über einen Streich, der den Herrschaftsapparat einer Diktatur in die Ohnmacht führte: Machtlose Genossen Maus widersetzten sich dem Terror eines Löwen, dem sich alle gebeugt hatten. Der Protest der Schwachen machte den Mächtigen mutlos. Er kapitulierte.
Der Löwe Antonin Novotný, tschechoslowakischer Staats- und Parteichef, saß angeschlagen im Hradschin, der Burg von Prag. Eine friedliche Revolution verwandelte das vorletzte Bollwerk des Stalinismus -- neben Ulbrichts DDR -- in eine Gesellschaft des Übergangs zur Demokratie, während der Bürger im Restaurant sein Pils genoß -- wie vor ihm Nationalheld Hundefänger Schwejk beim Bier den Lauf der Welt bedachte, an dem er aktiv nicht beteiligt war.
Parteichef Novotný erhielt die Kündigung. Der Chef -Aufseher über Armee, Polizei und Gerichte, Mamula erhielt Hausarrest. Der höchste politische Offizier, Jan Sejna, flüchtete zum Feind.
Militärminister Lomsksý stammelte im Fernsehen Entschuldigungen. Sein Stellvertreter, Generaloberst Vladimir Janko, feuerte aus seiner Dienstpistole den ersten Schuß des Umsturzes -- sich selbst in die Brust.
Der Zwingherr des Geisteslebens, Jirí Hendrych, bettelte um Gnade -- und erhielt sie nicht. Der Vorsitzende des slowakischen Nationalrats, Michal Chudík, erklärte seinen Rücktritt. Der Nationalrat verwarf die Erklärung, -- um Chudik aus dem Amt jagen zu können.
Der Führer von über fünf Millionen Gewerkschaftlern, Pastyrík, beklagte Fehler der Vergangenheit und trat zurück. Innenminister Kudrna und Generalstaatsanwalt Bartuska wurden entlassen.
Die Studenten von Prag wählten sich ein neues Vorbild: Sie wallfahrten zum Grab des liberalen Außenministers Jan Masaryk, der vor 20 Jahren ermordet wurde.
Tausende zogen zum Dorffriedhof von Lány bei Prag. Auf einem Transparent stand "Wahrheit wird siegen -- auch bei uns?" Ein Philosophiestudent hielt im Schneesturm eine Gedenkrede: "Laßt uns an ihn denken in einer Zeit, in der wir hoffen, daß Männer vom Schlage Jan Masaryks unsere Nation führen." Die -- kommunistischen -- Zeitungen der Tschechoslowakei priesen sein "Streben nach der Unabhängigkeit des Landes".
Tschechen und Slowaken wollen leben wie im Westen. Sie träumen von einem besseren Lebensstandard unter einem besseren Kommunismus. Sie stürzten Moskaus Statthalter, doch sie scheuten die blutige Revolution.
Ihre Geschichte hatte sie gelehrt, nichts zu erzwingen, sondern Geduld zu üben. Sie hatten sich angewöhnt, wie Kaninchen und Zebra das Unvermeidliche zu akzeptieren und auf ein gnädiges Schicksal zu hoffen.
In der Revolution dieses Winters gab es weder Barrikaden noch Demonstrationen; sie vollzog sich in Sälen und Sitzungszimmern. Sie geisterte durch die Amtsstuben: Fast über Nacht setzten sich in den Verwaltungen, Redaktionen, Betriebsleitungen und Parteiorganisationen neue, junge Männer hinter die Schreibtische der schreckgelähmten Bürokraten.
Die Revolution flimmert über die Bildschirme, dröhnt aus den Radiogeräten und steht täglich gedruckt in den Zeitungen. Die amtliche Agentur CTK bringt erstmals unverblümte Nachrichten, ohne Kommentar.
Noch sitzen in jeder Redaktion mehrere Zensur-Beamte und stempeln die Manuskripte -- sie zu lesen, wagt keiner mehr.
Der Chefredakteur -- oft linientreuer Dogmatiker -- geht durch die Zimmer, wünscht frohes Schaffen und läßt im übrigen geschehen, was geschieht.
Die Journalisten des Abendblattes "Vecerní Praha", das die KP-Stadtleitung Prag herausgibt, distanzierten sich mit einem Artikel in eigener Sache von den politischen Ansichten ihrer Herausgeber.
Die Gewerkschaftszeitung "Práce" erkannte: "Alle siegreichen Revolutionen brachen zusammen, wenn sie den Bürgern nicht mehr Freiheiten einräumten, als sie unter dem alten System besaßen."
Schwejks Nachfahren lesen die neuen Worte und warten auf die Wirklichkeit. Bei den nächsten Gemeindewahlen -- im Mai -- sollen sie ihre Stimme geheim abgeben dürfen. Die Revolution bedient sich der Demoskopie: Bei einer Meinungsumfrage Ende Februar bewerteten 55 Prozent der Tschechoslowaken die Veränderungen günstig, 21 Prozent schwiegen, 19 Prozent sagten: "Nichts wird sich ändern."
Die Mitglieder der Kommunistischen Partei lasen in ihrer Parteizeitung "Rudé právo", "daß der Staat und besonders seine Beamten nicht über der Gesamtheit der Bürger stehen dürfen". Zum erstenmal seit Bestehen der Partei fand die geheime Wahl eines Ortsausschusses statt: in Boskovice, nördlich von Brünn. Das Ergebnis: Fast sämtliche Mitglieder des Ortsausschusses wurden durch neue ersetzt.
Im Gebrauch der neuen Meinungsfreiheit ging das Blatt der revolutionären Streitmacht voran, die Literaturzeitung "Literárni listy". Jan Procházka, der im vorigen Jahr seinen Rang als ZK-Kandidat verloren hatte, schrieb: "Paßte bisher der Staat auf seine Bürger auf, und hatte das die Folgen, deren Zeuge wir jetzt sind, so würde ich nun versuchen, es umzukehren: Von jetzt an sollten die Bürger auf ihren Staat aufpassen."
Der Schriftsteller Vladimir Páral wünschte sich eine Tschechoslowakei, in der "ein Lebensniveau herrscht wie in Schweden oder in der Schweiz, denn unser Land hat dafür um nichts geringere Voraussetzungen -- wo man für Arbeit Geld bekommt, für das man sich wenigstens einen gebrauchten Volkswagen oder sogar Kalbsieber kaufen kann, wo ... die Zeitungen Ereignisse in der Hauptstadt detaillierter beschreiben als Negerunruhen in Alabama
Und der Philosoph Ivan Sviták proklamierte den Übergang "von der totalitären Diktatur ... zu Grundrechten wenigstens im Umfang der bourgeoisedemokratischen Tschechoslowakei":
* Valter Taub als Schwejk Im Hamburger Schauspielhaus.
Die alte bürgerliche Republik zwischen den zwei Weltkriegen gilt den Tschechen heute gegenüber dem roten Staat der letzten 20 Jahre als die glücklichere Vergangenheit.
Eingekeilt zwischen Deutschen und Magyaren, hatten die Tschechen immer versucht, Nation zu seih -- doch meistens vergeblich. Als westlichster Slawen-Vorposten lernten sie, nach dem Rezept ihrer Nationalfigur Schwejk zu überleben: durch Ducken, bis der Sturm vorüber war.
In der literarischen Gestalt des braven k.u.k. Soldaten Schwejk, der mit List und Geduld die Militärgewalt über sich ergehen läßt, hatte Tschechendichter Jaroslav Ha~ek seinen Landsleuten 1921 ihre eigene Mentalität beschrieben.
Wie dem braven Schwejk blieb ihnen jahrhundertelang nur die Illusion der Unterworfenen, sich dem Unterwerfer insgeheim überlegen zu fühlen und sich über die derart verkehrte Welt per Witz zu erheben. Die alte Spruchweisheit "Der Herr von Böhmen ist der Herr von Deutschland" galt in Wahrheit fast immer nur umgekehrt.
In Böhmens "goldenem" Prag entstand unter dem deutschen Kaiser Karl IV. jene Heimstatt deutscher Kultur, die erstmals Hochdeutsch schrieb. Der Begründer der tschechischen Schriftsprache aber, der Reformator Johannes Hus, starb den Feuertod. In den blutigen Hussitenkriegen wurden die Böhmen .gezähmt -- und über die Sinnlosigkeit der Gewalt belehrt.
Sie übten Gewalt fortan meist nur gebremst. Sie warfen zur Eröffnung des 30jährigen Kriegs zwar die Kaiserräte Martinitz und Slawata durchs Fenster, doch die Geworfenen fielen auf Mist und blieben am Leben.
Nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag ließ Habsburgs Kaiser Ferdinand 27 Böhmenführer auf dem Prager Ring öffentlich foltern und hinrichten. Böhmen wurde österreichische Provinz, sein Selbst fast ausgelöscht. Viele seiner Bewohner buckelten drei Jahrhunderte lang als Dienstboten in den Schlössern der Magnaten.
Karlsbad-Kurgast Goethe, der selbst Tschechisch lernen wollte, bestärkte die Tschechen in ihrer nun schon habituellen Neigung, abzuwarten und höchstens unauffällig auf Veränderung zu drängen, auf "Reformation im Stillen". Goethe 1827: "Es ist ein männlich reiner Sinn in diesen Dingen, ein stilles Fortschreiten Schritt vor Schritt."
"Vater der Nation" der Tschechen wurde Frantísek Palacký, nicht tschechischer, sondern slowakischer Abkunft. Sein erster Panslawisten-Kongreß in Prag debattierte nicht tschechisch, sondern deutsch.
Noch einmal versuchten die Tschechen, ihr Schicksal nicht nur zu erdulden. 1848 begehrten sie gewaltsam auf. Prags Stadtkommandant Fürst Windischgrätz ließ schießen, die Prügelstrafe einführen und alle tschechischen Zeitungen verbieten.
Gleichwohl war Pansiawist Palacký -- aus Angst vor der übermächtigen Slawen-Schutzmacht Rußland -- wienerisch gestimmt: "Wenn der österreichische Staat nicht schon seit langer Zeit bestünde, wären wir im Interesse der Menschheit und Europas verpflichtet, uns schleunigst um seine Gründung zu bemühen." Palacký wollte -- gut tschechisch -- die Donau-Monarchie nicht zerschlagen, sondern sie mittels nationaler Autonomien verbessern. In seinem Testament aber resignierte er: "Wir waren vor Österreich, wie werden nach ihm sein."
1866 war der nationaltschechische Turnerbund "Sokol" -- organisiert nach dem Muster des Turnvaters Jahn -- sogar bereit, Böhmens Bergpässe für Österreich gegen die Preußen zu verteidigen. Doch Wien wollte sich nicht von Tschechen schützen lassen -- und verlor bei Königgrätz.
Die Tschechen warteten ab. Sie gründeten ein tschechisches Nationaltheater und ließen sich von Smetana ihre Nationaloper "Die verkaufte Braut" schreiben (Premiere: fünf Wochen vor Königgrätz).
Demütigungen blieben ihnen nicht einmal bei dieser Kultur-Aufrüstung erspart. Der Museumskustos Václav Hanka entdeckte zwei Handschriften mit einem Nationalepos, das die Größe der tschechischen Literatur im Mittelalter zu belegen schien.
Hanka: "Als die Deutschen noch auf ihren Bärenhäuten lagen und sich von Eicheln nährten, haben wir Tschechen bereits Powidelkolatschen (Mehlfladen mit Pflaumenmus) gegessen." Der Philosophie-Professor Tomás G. Masaryk enthüllte die Nationalschriften jedoch als meisterhafte Fälschungen ihres Entdeckers.
Goethe hatte die Tschechen-Geschichte "das Traurigste von der Welt" genannt. Marx hatte nur noch Verachtung für sie: "Sterbendes Volk in einem Lande, das nur als ein Teil von Deutschland bestehen konnte, obgleich manche seiner Einwohner für einige Jahrhunderte weiter eine nichtdeutsche Sprache sprechen werden" -- so schrieb der "New York Daily Tribune"-Korrespondent 1852.
Nach dem Ersten Weltkrieg schien endlich der Lohn für jahrhundertelanges Dulden zu winken: Der Professor Masaryk erhielt vom Washingtoner Professor Wilson die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei. Das Land war zwar ein Vielvölkerstaat, dennoch die einzige parlamentarische Republik Osteuropas, die zwischen den beiden Kriegen Bestand hatte.
Gleichwohl blieb "böhmisch" ir deutschen Landen eine Unwertmarke: Preuße Hindenburg deklassierte den bayrischen Fußsoldaten Hitler zum "böhmischen" Gefreiten.
Mit Hilfe der Westmächte zerschlug der Bayer-Böhme auf der Münchener Konferenz die Tschechoslowakei. Masaryk-Nachfolger Eduard Benes trat ab. Der neue Präsident Hácha fand zum traditionellen Zagen zurück und verzichtete auf Einsatz seiner 40 hochgerüsteten Divisionen gegen den deutschen Einmarsch: Göring hatte mit der Bombardierung des goldenen Prag gedroht.
Wieder bewährte sich das Ducken, bis der Sturm vorüber war. Prag und die Tschechoslowakei blieben im Krieg weithin unzerstört. Mehr noch: Böhmens Industrie, Schwerpunkt deutscher Rüstungswirtschaft, florierte, die tschechischen Facharbeiter wurden von den Nazis so gut verpflegt, daß die meisten an Widerstand nicht dachten. Deshalb beseitigten eingeflogene tschechische Freiwillige 1942 Hitlers Prager Vizestatthalter Reinhard Heydrich, der im Hradschin Hof gehalten hatte.
Die Deutschen zermalmten daraufhin Lidice und erschossen Tausende von Geiseln. Dennoch forderte die deutsche Herrschaft in Böhmen insgesamt weniger Opfer als in anderen unterworfenen Ländern: 36 000 Tote -- außer den ermordeten Juden.
527 Tschechen wurden nach der Befreiung wegen Kollaboration zum Tode oder, lebenslangem Gefängnis verurteilt, 19 888 zu langjährigen Freiheitsstrafen, eine Viertelmillion Kollaborateure verlor das Wahlrecht.
Die sowjetischen Befreier zogen schon im Dezember 1945 wieder ab, und die Kommunisten zogen -- ein halbes Jahr nach dem Russen-Abmarsch -- in freien Wahlen mit 114 Mandaten als stärkste Partei in die Nationalversammlung ein; doch sie waren zunächst maßvoll -- tschechisch.
Staatschef Benes ernannte zwar den KP-Vorsitzenden Gottwald zum Regierungschef, aber 14 Bürgerliche traten als Vizepremiers und Fachminister in das Kabinett des Roten ein und bildeten die Mehrheit.
Mit ihrer Zustimmung wurden alle Großbetriebe, Banken und Versicherungen verstaatlicht, eine Bodenreform machte den kommunistischen Landwirtschaftsminister und den Kommunismus populär.
Kommunismus schien das Gebot der Stunde, und die Tschechen waren pragmatisch. Innerhalb weniger Monate schnellte die Mitgliederzahl der KP von 25 000 Genossen (1938: 80 000) auf über eine Million.
Doch das Gesetz der Stunde war selbst für begnadete Opportunisten nicht immer leicht zu begreifen. In einer Versorgungskrise im Sommer 1947 winkte der Westen den Tschechen mit einem verlockenden Angebot: der Einladung zur Marshallplan-Konferenz nach Paris. Auf Vorschlag des parteilosen Außenministers Jan Masaryk, des Sohnes von Thomás Masaryk, nahm das Prager Kabinett die Offerte einstimmig an -- mit den Stimmen der roten Minister.
Dafür mußte die Tschechoslowakei die folgenden 20 Jahre lang büßen. Drei Tage nach dem Kabinettsbeschluß stellte Stalin den Tschechen Gottwald und Masaryk in einer Nachtsitzung zu Moskau das Ultimatum: Marshallplan oder Bündnis mit dem Kreml.
Die Slawen von der Moldau gingen in Deckung. Gottwald telephonierte mit seinem Kabinett in Prag. Es beugte sich -- wiederum einstimmig, einschließlich der bürgerlichen Minister. Die amerikanische Einladung wurde abgelehnt. Moskau lieferte 700 000 Tonnen Getreide als Preis für Prags Einmauerung in den Ostblock.
Zum Frühjahr 1948 standen Neuwahlen an. Am 12. Februar forderte die bürgerliche Kabinettsmehrheit den Innenminister Nosek auf, keine Kommunisten mehr bevorzugt in den Polizeiapparat einzustellen. Drei Tage später kehrte der amerikanische Botschafter Steinhardt aus dem Urlaub nach Prag zurück.
Von ihm beraten, boten die Bürgerlichen am 20. Februar ihren Rücktritt an, nachdem acht rote Polizeioffiziere befördert worden waren. Außenminister Masaryk schloß sich dem Protest nicht an. Seine Bürgerstimme sicherte den Roten im Kabinett die Mehrheit, die Regierung blieb beschlußfähig.
Jetzt beriet der sowjetische Vize-Außenminister Sorin (später Botschafter in Bonn und jetzt in Paris), der nach Prag geeilt war, die Kommunisten. Am 22. Februar forderten 7000 Betriebsräte, die gesamte Wirtschaft zu verstaatlichen. Am 23. Februar zogen bewaffnete Arbeiter durch Prags Straßen. Am 24. Februar traten 2,5 Millionen Werktätige für eine Stunde in den Generalstreik.
Am 25. Februar nahm Präsident Benes dann aus Furcht vor einer blutigen Revolution den Rücktritt der bürgerlichen Minister an. Sie beugten sich vor den Roten, wie sie vor den Braunen verzagt hatten. Am 26. Februar reiste Sorin wieder ab.
Außenminister Masaryk stürzte am 10. März aus dem Fenster: Rote Geheimpolizisten hatten ihn ermordet (SPIEGEL 15/1965). Von seinem Tod abgesehen, war die Machtergreifung der KP undramatisch -- tschechisch -- verlaufen. Staatschef Benes trat zurück. Für seinen Nachfolger Gottwald ließ der Prager Erzbischof Beran im Veitsdom ein Tedeum singen. Die KP war Alleinherrscher über die Tschechoslowakei.
Die Sozialdemokraten gingen in der KP auf; die Slowaken-KP verlor ihre Selbständigkeit. Gottwalds Schwiegersohn Cepicka schaltete als Verteidigungsminister die Armee gleich. Erzbischof Beran wurde interniert, das Erziehungssystem dem Sowjet-Vorbild angeglichen, eine Vorzensur aller Veröffentlichungen eingeführt.
Die Industrie diente fortan vor allem sowjetischen Bedürfnissen. Sie mußte ein vollständiges Maschinen-Sortiment herstellen -- selbst wenn billigere Weltmarkt-Angebote oder zu kleine Serien die Produktion unwirtschaftlich machten. Prag wurde Hauptlieferant für Moskau-genehme Entwicklungsländer. Ein Drittel aller Wirtschaftskredite des Ostblocks für die Dritte Welt geben die Tschechen.
Wie schon sooft in ihrer Geschichte, zogen sie auch diesmal den kürzeren: Der Kommunismus, der Entwicklungsländern wie Rußland, China oder Jugoslawien wirtschaftliche Fortschritte beschert hatte, bremste die hochentwickelte Tschechoslowakei und drückte den Wohlstand ihrer Bürger.
Parteifunktionäre, die sich von der Moskauer Bevormundung freizumachen suchten, traf härtester Terror: KP-Generalsekretär Rudolf Slánský wurde 1952 wegen "zionistischer und titoistischer Umtriebe" gehenkt, mit ihm der Außenminister Clementis, ein Slowake, und neun Genossen.
Stalins Tod 1953 schien Besserung zu versprechen. Drei Tage nach der Rückkehr von Stalins Bestattung starb dessen Prager Statthalter Gottwald. Ihm folgten als Staatschef der Gewerkschaftsvorsitzende Zápotocký, der 1948 die Arbeiterschaft mobilisiert hatte, und als Parteichef Antonin Novotný, ein damals Unbekannter.
Der Maurersohn Novotný war gelernter Schlosser und bewährter Funktionär, 1941 hatte ihn die Gestapo ins Prager Pankrác-Gefängnis geworfen, später ins KZ Mauthausen. Mitgefangener bis Kriegsende: Jirí Hendrych, Novotnýs späterer Fachmann für Gebildete.
Novotný war frostig, fleißig und -- was ihn vielen Tschechen verdächtig machte -- ohne Humor. In der von Intrigen und Korruption verfilzten Tschechen-KP avancierte er, weil er als unbestechlich galt. Er profitierte nicht von den Privilegien der Funktionäre, die in Spezialgeschäften mit heruntergelassenen Rolläden und in der fünften Etage des Mode-Kaufhauses am Wenzelsplatz -- nur mit Sonderausweis zugänglich -- Importwaren kaufen konnten, die ihren Verwandten westdeutsche Wagen zuschanzten.
Und Novotný stieg auf, weil er auf den Stärksten, auf Moskau, setzte. Moskau aber war den Tschechen nach fünf Jahren erdrückender Freundschaft gründlich verleidet. Wenige Tage nach dem Juni-Aufstand in der DDR 1953 streikten auch in Pilsen und Mährisch-Ostrau die Arbeiter gegen eine Normerhöhung. Die Regierung nahm die Maßregel zwar zurück, aber der Moskauer Entstalinisierungs-Parteitag von 1956, der in Polen zum Sturz der Stalinisten und in Ungarn zur Revolution führte, ließ die Prager Kommunisten ungerührt.
Vorsichtig nur tasteten sie sich aus ihrer Deckung. Erst 1962 begann Prag, die Stalin-Opfer zu rehabilitieren. Innenminister Barák entdeckte, daß sein Schwager Novotný am Slánský-Skandal beteiligt war, und hoffte, ihn mit dieser Enthüllung stürzen zu können. Novotný kam ihm zuvor, Barák landete im Zuchthaus. Ein Prager Gericht sprach 1963 die Slánský-Toten posthum von aller Schuld frei.
Die Prager Stalin-Statue, die größte des Ostblocks (30 Meter hoch, 6000 Tonnen schwer), wurde gesprengt -- die Offerte eines westdeutschen Unternehmers, die kostbaren Marmorplatten zu kaufen, allerdings nicht beantwortet. Heute dient das Gewölbe der Denkmalsanlage als Luftschutzkeller der Regierungsprominenz.
Parteichef Novotný warnte, einzige Garantie für die Existenz der Republik sei das "feste Bündnis mit der Sowjet-Union". Aber die Tschechen horchten lieber auf die Zeichen der Zeit -- die diesmal aus dem Westen kamen.
Intellektuelle waren westwärts gereist. Ihre Berichte in der Prager Presse, so rügte die Zeitschrift "Zivot strany" 1966, erweckten "den Eindruck gutbezahlter Annoncen zur Propagierung des westlichen Lebensstils".
Tschechoslowakische Filme und Thea terstücke eroberten westdeutsche Bühnen. Übersetzungen westlicher Literatur, amerikanische Dramen, französische Filme, bundesdeutsche Fernsehsendungen brachen das Sowjet-Monopol in dem Geistesleben der Tschechoslowakei." In allen unseren Theatern vollzieht sich ein Wechsel des Repertoires", schrieb die "Svobodné slovo" 1965, "ein Wechsel, den die Zahl der Zuschauer erzwingt, die westliche Stücke vorziehen."
Die Teilnehmerzahl russischer Sprachkurse sank von 1950 bis 1963 auf ein Drittel. Dagegen war der Andrang zu Schulen mit Unterricht in nicht-slawischen Sprachen in Bratislava so groß, daß laut "Práce" "selbst sehr begabte Kinder" abgewiesen werden mußten. Die Polizei schritt gegen Bewerber zum Englisch-Studium ein, die sich schon nachts zur Immatrikulation anstellten.
Tausende Touristen aus der Bundesrepublik reisten zu Ostern und Pfingsten nach Prag -- hier traf man sich mit DDR-Bürgern, hier nahm jeder Verkäufer und Kellner gern Deutsche Mark zum Schwarzmarktkurs.
Trotz aller Hindernisse versechsfachte sich der Außenhandel Prags mit Frankreich innerhalb von zehn Jahren, der mit der Bundesrepublik stieg von 167 Millionen Kronen (1953) auf 1,3 Milliarden (1965).
Vom Westmarkt erhofften sich die Tschechen Absatz für ihre leistungsfähige Industrie. Sie könnte ihnen den Lebensstandard vergleichbarer Industriestaaten des Westens garantieren -- wenn sie nicht für Moskau schaffen müßte.
Tschechische Industrieprodukte, tschechische Maschinen sind in der ganzen Welt renommiert. Der "Skoda"-Wagen ist auch im Westen beliebt. Tschechische Schuhe wurden einst in allen Ländern verkauft -- wie das "Pilsner Urquell" noch heute, unter seiner deutschen Bezeichnung.
Jedoch: "Die Struktur der Produktion ist überwiegend an den Marktbedürfnissen der Comecon-Länder ausgerichtet", bemerkte 1966 sogar die Parteizeitung "Rudé právo". "Für die Märkte der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten hat die CSSR nicht mehr genügend Waren anzubieten."
1963 geriet die tschechische Wirtschaft in die Krise. Die Industrie konnte -- als einzige des Ostblocks -- keine Zuwachsrate mehr notieren. Die Handelsbilanz war passiv. Die Betriebe produzierten mit einer hohen Ausschußquote, die Arbeitsmoral und sogar die Reallöhne sanken -- "was in keinem kapitalistischen Land der Fall war", berichtete der Wirtschaftsprofessor Ota Sik.
Sik empfahl, die Planbürokratie zu entmachten und den Unternehmen Entscheidungsfreiheit einzuräumen. An die Stelle der Befehle von oben sollten die Gesetze des Marktes treten.
Das ZK akzeptierte 1965 zwar den Reformplan, um aus der Krise herauszukommen. Aber die Wirtschaftsbürokraten. die um ihre Pfründen bangten, sabotierten die Reform. Sie forderten -- wie früher -- überhöhte Investitionsmittel und zu viele Arbeitskräfte an. Sie produzierten weiter ohne Rücksicht auf Qualität und Absatz.
Die Wirtschaft kam nicht aus den roten Zahlen. Reformator Sik verlangte, unrentable Betriebe rücksichtslos stillzulegen. Doch das Prestige-Stahlwerk Kaschau lieferte weiterhin Stahl zu Preisen, die ein Mehrfaches über denen des Weitmarktes lagen.
Eine Inflation zeichnete sich ab. Schon drohte die Parteizeitung "Rudé právo", man müsse eventuell zum alten, strengen Planungssystem zurückkehren, und Novotný beklagte sich, daß "das Recht der Parteiorganisationen, die Wirtschaft zu kontrollieren, überhaupt in Zweifel gezogen" worden sei.
Parteichef Novotný war nach dem Tode Zápotockýs 1957 auch noch Staatschef geworden. Bei seiner Wiederwahl 1964 entdeckte die Intellektuellen-Zeitschrift "Kulturní Zivot" im Antlitz des Präsidenten den "Ausdruck kollektiven Edelmuts" und bemerkte ironisch: "Jede Gesellschaft hat die führenden Persönlichkeiten, die sie sich wählt."
Novotný rüstete zum Gegenschlag. Auf die frechen Literaten setzte er seinen Chefideologen Hendrych an. Redakteure wurden entlassen, die Zeitschrift "Tvár" verboten, der Jungdichter Benes, der sich mit den verurteilten Sowjetdichtern Sinjawski und Daniel solidarisch erklärt hatte, ins Gefängnis gesteckt.
Gleichwohl verlangten die Literaten auf ihrem Kongreß im Juni vorigen Jahres die Verlesung des Protestbriefs, den Sowjet-Kollege Solschenizyn gegen die Zensur verfaßt hatte.
Hilflos redete Kulturpapst Hendrych -- ohne Jackett, in Hosenträgern -- auf die geistige Elite seiner Nation ein und flüchtete dann fluchend aus dem Saal. Telephonisch gab er dem Partei- und Staatsboß einen Alarmbericht. Drei Literaten erhielten Parteistrafen, die Tribüne der liberalen Schriftsteller, die Zeitschrift "Literárni noviny", wurde dem Schriftstellerverband entzogen und dem Kultusministerium unterstellt, die Redaktion entlassen.
Doch diesmal weckte die Gewalt im Ducker Schwejk die Résistance. Im Tschechenland entstand, ganz ungewohnt, revolutionäres Klima. Und in der Slowakei regte sich Nationalgeist.
Die neun Millionen Tschechen hatten die vier Millionen Slowaken in der bürgerlichen wie in der sozialistischen Republik bevormundet. Doch die tschechische Schwejk-Mentalität blieb den Slowaken fremd. Jahrhundertelange Oberherrschaft der heißblütigen Ungarn lehrte sie aufbegehren. Sie können sogar einen Aufstand gegen die Deutschen -- im Jahre 1944 -- vorweisen.
An diesem Partisanen-Aufstand hatte sich auch der Kommunist Alexander Dubcek beteiligt, sein Bruder fiel dabei. Beide waren als Kinder mit ihrem Vater, einem Tischler, nach Amerika, von dort in die Sowjet-Union gewandert. 1938 kehrte der alte Dubcek in die Heimat, das westslowakische Dorf Uhrovec, zurück.
Sohn Alexander hatte im Krieg als Maschinenschlosser in den Skoda-Werken gearbeitet, von 1945 bis 1949 in der Hefefabrik von Trencín. Er studierte in Fernkursen Jura und stieg zum Sekretär der slowakischen Partei-Organisation auf.
Auf dem Marsch an die Macht verhielt sich der Slowake gut tschechisch: Er betrieb die Revolution von hinten. Seine Leute unterwanderten die Parteispitze. Im letzten Herbst verbündete er sich mit den Wirtschaftsreformern und Intellektuellen.
Auf einer Tagung des Zentralkomitees Ende Oktober übten die vereinigten Novotný-Gegner erste Kritik. Am letzten Sitzungstag, dem Abend des 31. Oktober, verlangten Studenten mehr Licht in ihrem Wohnheim Strahov, dessen Stromanschluß nicht funktionierte.
Die Polizei knüppelte den Bittgang zur politischen Demonstration hoch. Auf Weisung des Sicherheitschefs Mamula verfolgten die Beamten die fliehenden Studenten bis nach Strahov und prügelten dort weiter.
Auf Protestversammlungen verlangten die Studenten Genugtuung, einen Untersuchungsausschuß des Parlaments und Nummernschilder für die Polizisten. Ultimativ setzten sie eine Frist bis zum 15. Dezember -- bis nach der nächsten ZK-Sitzung.
Die jedoch wurde verschoben: Im Parteipräsidium (Politbüro) hatte Dubcek inzwischen dem Partei- und Staatsherrn Novotný die Liste seiner Versäumnisse vorgelegt. Durch einfache Abstimmung wollte Dubcek durchsetzen, was die ungarischen Kommunisten vor zwölf Jahren durch offenen Aufruhr verspielt hatten: einen liberalen Kommunismus, ein aufgeklärtes rotes Musterland mit Meinungsfreiheit und Bürgerrechten, nationaler Selbständigkeit und wirtschaftlicher Vernunft.
Wie Sorin 1948 flog jetzt wiederum ein Moskauer nach Prag ein, um die Tschechoslowakei zu salvieren -- kein Vizepremier, sondern Parteichef Breschnew selbst.
Im Politbüro fand sich noch einmal eine Mehrheit für den Herrscher im Hradschin. Ende Dezember versammelte sich das Zentralkomitee wiederum und diskutierte freimütig über eine Trennung der Gewalten; Novotný sollte sich auf die Rolle eines repräsentierenden Staatschefs beschränken. Seine bereits auf Band gesprochene Silvesterrede an das Volk durfte gesendet werden.
Da gab ein Freund dem Staatschef einen bösen Rat: der Sekretär der Partei-Hauptzelle im Verteidigungsministerium, Generalmajor Jan Sejna, 40. Sejna unterstand unmittelbar dem Novotný-Vertrauten Mamula, dem Parteibeauftragten für Armee, Justiz und Polizei. Er hatte Freundschaft mit einem Außenhandelsfunktionär geschlossen: dem Sohn des Staatschefs .Novotny. Innerhalb von acht Jahren war Prags bekanntester uniformierter Playboy vom Leutnant zum General aufgestiegen.
Jetzt riet er, Novotny-Vater solle gegen das rebellische Zentralkomitee die Arbeitermiliz und die Armee zu Hilfe rufen. Novotny mobilisierte die erste Panzer-Division des Generaloberst Janko aus Westböhmen, eine Elite-Einheit des Warschauer Pakts.
Die Nachricht alarmierte das ZK. Am 3. Januar trat es abermals zusammen. Jede Stimme wurde gebraucht: Verreiste Genossen mußten zurückkehren, Kranke wurden auf einer Trage in den Sitzungssaal transportiert.
Dubcek enthüllte der Versammlung, daß der Parteichef gegen die eigene Partei putschen wolle. Die Nachricht überzeugte auch Schwankende: Mit Mehrheit wurden fünf neue Delegierte -- Freunde Dubceks -- ins Politbüro gewählt. Derart angereichert, entließ es seinen Ersten Sekretär Novotný.
Auch wenn er Staatschef blieb -- das Machtmonopol des Moskautreuen war gebrochen. Dubcek wurde neuer Parteichef. Der Genosse Smrkovský, einst unter Novotný eingesperrt, setzte zur Generalabrechnung an: Es genüge nun nicht mehr, Personen abzulösen, die ganze Partei müsse umgeformt werden, da sie das Vertrauen des Volkes verloren habe.
Es gab keine Fackelzüge und keine Dankprozession. Die Bürger von Prag waren sich nicht sicher, ob sich wirklich etwas geändert hatte -- sie gingen wie sonst ihren Geschäften nach, spazierten über den Wenzelsplatz und besuchten die Kinos, bewunderten in der "Lucerna" Liz Taylor als Kleopatra -- made in USA.
Aber es änderte sich sehr viel -- wenn auch zunächst nur langsam und ohne Aufsehen. Die liberalen Schriftsteller erhielten ihre Zeitung zurück, die sie fortan "Literární listy" nannten. Die Slowaken erhielten die Zusage, ein Drittel aller Investitionen des Staates werde künftig in ihre Slowakei gelenkt, die eventuell sogar ein föderaler Teilstaat werden soll. Planungschef Cerník kündigte an, die Wirtschaft werde in Zukunft vorrangig Konsumgüter produzieren.
Die Polizei entschuldigte sich bei den Studenten. Sieben Polizei-Schläger wurden bestraft. Die Verletzten der Strahov-Schlacht sollen entschädigt werden, die Polizisten in Zukunft sichtbare Dienstnummern tragen.
Die Parteizelle im Justizministerium hielt es für "dringlich", die Rolle der Richter zu überprüfen, "vor allem in bezug auf ihre Unabhängigkeit". Die Richter gelobten, ihre Vergangenheit zu bewältigen: Sie wollen unschuldig Verurteilte rehabilitieren. 27 000 Urteile waren in der stalinistischen Zeit (1948 bis 1953) gefällt worden. Erst 2000 dieser Urteile, so klagte die Zeitung "Zemedelska noviny", seien bislang überprüft worden.
Auf einer Massenversammlung von 7000 Leuten im Slawischen Haus gegenüber dem Prager Pulverturm erklärte der Schriftsteller Pavel Kohout: "Abgesehen von der Bundesrepublik ist die Tschechoslowakei das einzige Land, in dem ein Staatsanwalt frei herumläuft, der elf Justizmorde auf dem Gewissen hat." Kohout meinte den ehemaligen Generalstaatsanwalt Dr. Urválek, der die elf Todesurteile im Slánský-Prozesse beantragt hatte.
Parteichef Dubcek besetzte die Schlüsselposten in der Armee, im Sicherheits- und Propaganda-Apparat mit zuverlässigen Anhängern. Den obersten Geheimpolizisten Miroslav Mamula schob er zunächst zum Hradschin ab, wo er als Kommandant der Burg nur noch Novotný bewachen durfte. Kultur-Kontrolleur Hendrych suchte sich durch eine Kehrtwendung zu retten: Im Parteiorgan "Rudé právo" beklagte er plötzlich "konservative Tendenzen" der Vergangenheit und forderte "Gedankenfreiheit". Dennoch fiel er.
Noch immer vorsichtig und mißtrauisch, genießen die Prager den Frühling der Freiheit. Schon am frühen Morgen sind die freisinnigen Zeitungen ausverkauft, als fürchteten die Bürger, mittags gehe die neue Zeit schon zu Ende.
Eine Nachricht eskalierte den Prozeß behutsamer Wandlung: Studenten rangen dem neuen Sicherheitschef Prchlík die Mitteilung ab, Partei-General Sejna habe den Panzer-Putsch zur Rettung Novotnýs geplant. Sejna aber war verschwunden.
Die Regierung beschuldigte ihn rasch, er habe Klee- und Luzerne-Samen im Wert von 80 000 Mark unterschlagen. Doch es ließ sich nicht mehr geheimhalten, daß Stalinist Sejna am 25. Februar, dem 20. Jahrestag der roten Machtergreifung in Prag, westwärts gereist war.
Der CIA-Chef in der Bundesrepublik Ray 5. Cline -- ein erfahrener Untergrundkrieger, der 1962 US-Präsident Kennedy die Raketen-Photos von Kuba vorlegte -- operierte mit an Sejnas Flucht aus Prag. Washington hatte mehr gewonnen als beim Übertritt der Stalin-Tochter Swetlana. Und der Warschauer Pakt, dessen Geheimnisse Sejna im Attaché-Köfferchen mitführte, hatte mehr verloren als durch alle Reformen des noch immer Moskau-treuen Stalinisten-Stürzers Dubcek. Semas Flucht führte Prag in die Staatskrise.
Die Genossen forderten vom Sejna-Freund Novotný auch das Staatsamt. Novotný setzte sich zur Kur nach Karlsbad ab, das nur etwa 25 Kilometer von der DDR-Grenze liegt.
Der Sohn des Staatspräsidenten wurde verhaftet. Schon begannen Wirtschaftsfachleute die Abhängigkeit der CSSR von der Sowjet-Union zu kritisieren; Vizepremier Cernik kündigte eine Annäherung an den Gemeinsamen Markt an. Ulbrichts DDR-Presse warnte offen vor einer "Neuorientierung in der Außenpolitik" der Tschechoslowakei. Dubceks gelenkte Revolution drohte dem Lenker aus der Hand zu gleiten.
Der Slowake fürchtete, das Volk der Schwejks könne zurückfallen in die Zeit der Fensterstürze, der Weg vorsichtiger Veränderungen sich zum ungarischen Debakel steigern, das die Intervention Moskaus herausgefordert hatte. Parteiorgan "Rudé právo" rief die Reformer eilig zur Mäßigung. Radio Prag mahnte: "Einige Leute haben sich in einen Zustand der Leidenschaft gesteigert."
Der abgehalfterte Geheimpolizeichef Mamula wütete: "Was jetzt bei uns geschieht, ist Terror unter dem Mäntelchen der Demokratisierung."
Die Freiheit rückte näher, doch die Angst blieb. Zu oft hatten die Tschechen erlebt, daß ihre Hoffnungen versanken, wenn sie sich zu erfüllen schienen.
Fernsehen und Zeitungen mochten das späte Ende der Stalinisten verkünden -- in Prags malerischen Wirtshäusern, die "Grüner Frosch" oder "Schlaues Füchslein" heißen, kolportieren die Prager ein ebenso unsinniges wie furchterregendes Gerücht: Drei deutsche Divisionen seien an der Grenze aufmarschiert -- drei rote deutsche Divisionen.
In der gespannten, oberflächlich so ruhig wirkenden Atmosphäre kam es zu einer kafkaesken Szene, die wie ein tschechisches Gleichnis schien: Putsch-Panzerführer Janko wollte sich -- im Dienstwagen -- erschießen. Der Schuß mißlang, der General verlor nur das Bewußtsein.
Er erwachte wieder und schoß abermals. Die stille Revolution hatte ihren ersten Toten.