NACHRUF EUGEN SÄNGER 22.IX.1905 - 10.II.1964
Wir müssen ihn haben", befahl
Josef Wissarionowitsch Stalin nach Kriegsende, "wir brauchen seine Flugzeuge." Stalin bekam ihn nicht. Denn die Franzosen hatten Ihn haben wollen, den Böhmen-bürtigen Experten mit den melancholischen Augen, den die Deutschen während des Krieges in der Lüneburger Heide hatten über Wunderwaffen brüten lassen. Die Bundesdeutschen wollten ihn dann wiederhaben - 1954 -, aber auch die Ägypter warben um ihn, und die Berliner und, nach einigem Zögern, auch die Lampoldshausener. Sänger war begehrt.
Den Bauern des-kleinen badischen Dorfes Lampoldshausen hatte er erst bedeuten müssen, warum Raumfahrt not tue. Er wollte in ihrer Gemarkung einen Raketenprüfstand einrichten. Und er schwärmte ihnen von "mythischer Himmelssehnsucht" und "götterähnlicher Schöpferkraft" - das war sein Vokabular, wenn er vom Sinn der Raumfahrt sprach.
Solides Wissen um Raketenantriebe und Molekularphysik, um Werkstoffe und relativistische Raumtheorie konnte ihm freilich niemand absprechen. Es wurde ihm honoriert von Potentaten
und Professoren: Die Technische Hochschule Berlin trug ihm den ersten und einzigen deutschen Lehrstuhl für Raumfahrttechnik an. Ägyptens Nasser lohnte ihm Raketen-Tips mit 200 000 Mark.
Deutschlands Raum - Professor, Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Raketentechnik und Raumfahrt, Träger der Jurij-Gagarin und der Hermann-Oberth-Medaille, hatte das Raketenhandwerk vom Holzschuppenprüfstand aufwärts rechtschaffen erlernt.
Als 27jähriger Doktor der Ingenieurwissenschaft experimentierte er an der Technischen Hochschule in Wien erstmals mit Brennkammern für Flüssigkeitsraketen. Im blauen Monteurkittel testete er die Schubkraft feuerspeiender Miniaturbrenner, die er in seiner Manteltasche mit sich herumtragen konnte. In der Studierstube ersann - er Raketenantriebe von einer Größenordnung, wie sie die Techniker erst Jahrzehnte später verwirklichen konnten - beim deutschen Raketenjäger Me 163 und bei dem amerikanischen Forschungsflugzeug X-15.
Zeit seines Lebens blieb Sänger Katalysator, Theoretiker der Raumfahrttechnik, der durchdachte und durchrechnete, was die Raketenträumer vor ihm als Vision erahnt hatten und was Techniker erst lange nach ihm in funktionierende Maschinen umzusetzen vermochten.
Während des Krieges rechnete er in der Heide. Der "Prüfstandhund Tatzli", der Foxterrier Wido, ein Marder, eine Hirschkuh und zwei
Störche bevölkerten das Geheim-Domizil, das ihm das Reichsluftfahrtministerium eingerichtet hatte. Auf 376 Druckseiten (Geheime Kommandosache Nr. 4268/L XXX 5) schlug er den NS-Führern einen Stratosphären-Gleitbomber vor, "mit dem im Punktangriff von Mitteleuropa aus... sogar ein einzelner Mensch auf der anderen Erdhälfte beschossen werden" könne. Sängers Heide -Plan blieb Papier. Aber ein Jahrzehnt später wurde die Idee des Stratosphärengleiters von amerikanischen Technikern wieder aufgegriffen (Projekt "Dyna Soar").
Er war nie ein Raketenbaumeister wie Wernher von Braun. Er war nie ein Gelehrter wie Hahn oder Heisenberg. Aber er war auch nicht der reine Tor der Raumfahrt, als den professorale Kollegen ihn gerne abqualifizierten - nicht nur wegen seiner utopisch anmutenden Raumflug-Konzeptionen, sondern vor allem ob seiner im Mystischen verankerten Philosophie des Raumfahrens.
"Völlig außerhalb jeder Ratio", im Bereich unbestimmter "Sehnsucht nach unseren Brüdern über dem Sternenzelt", suchte Sänger die "seelischen
und sachlichen Antriebe der Menschen in Richtung der Raumfahrt". Und die ganze Menschheit, unterteilt in sieben Nützlichkeitsränge, wollte er dieser "unserer tiefsten Sehnsucht" zuordnen: dem Aufbruch zu Sternenfernen.
So verworren seine Deutung der Motive anmutet, so klar - und faszinierend - war Sängers Vorschlag, wie dieser Aufbruch zu bewerkstelligen sei. In der schwäbischen Enge seiner altdeutsch möblierten Wohnstatt in Stuttgart-Echterdingen vermochte er in Gedanken "Lichtjahrtausende zu überbrücken".
Mitte der fünfziger Jahre konzipierte er die Photonenrakete, die den Menschen dereinst erlauben könnte, das ganze Universum zu durcheilen.
Raum und Zeit würden sich dabei für die Besatzung des Raumschiffes seltsam verschieben: Entsprechend den Formeln der Einsteinschen Relativitätstheorie, so errechnete Sänger, würden "Sternenweiten zu 'wenigen Reisejahren ... schrumpfen".
Phantastisch wirkte- die Idee des Photonenantriebs, sie wurde viel belächelt, aber sie war keine Phantasterei. Spätere Generationen von Technikern werden Sängers Photonenrakete bauen.
Des Sternenfahrt-Künders letztes Raumflug-Projekt freilich - ein von europäischen Nationen zu bauender erdumrundender Lastenschlepper - hat weit weniger Aussicht, verwirklicht zu werden.
Sängers letzte Vision - europäisch geeintes Raumfahrtstreben - war, allem Anschein nach, eine Utopie.