OTHELLO ALS HAMLET
Bedeutende Autoren verraten sich
nicht zuletzt durch Monomanie, durch ein einziges, eigensinnig festgehaltenes Thema. "Ich bin nicht Stiller", der erste Satz damals -, "Mein Name sei Gantenbein", der Titel jetzt -, jene Verleugnung und diese Verkleidung sind nur Stationen ein und derselben Flucht. Wieder einmal möchte und muß jemand im allerwörtlichsten Sinne "außer sich sein". Identität, die geforderte und doch versagte Übereinstimmung von Ich und Rolle, ist hier wie dort Thema.
Wäre ihm schon während der Niederschrift des "Stiller" dieses Stichwort "Identität" zugerufen worden, so hat Frisch einmal gestanden, er hätte den Roman womöglich nicht zu Ende gebracht. Kein Wunder also, wenn dem neuen Buch die Mühe anzumerken ist, im Rücken der verlorenen ersten eine zweite Spontanität zu gewinnen. "Gantenbein" ist ein Beicht- und Ichwerk, so rücksichtslos und riskant privat wie sonst nur Tagebücher, und doch
- mit virtuosem Aufwand zum Kunstmuster stilisiert, energischer als der "Stiller". Zwischen den Anstrengungen des Monologs und der Montage zwischen artistisch heller Laune und dem Druck der Emotion steht der Roman in Spannung, reich also, doch gefährdet.
Solche Behauptungen allerdings scheinen weit vorzugreifen. Denn zunächst und zuallererst wäre doch nachzuerzählen, was vor sich geht in diesem Roman. Schon hier schlägt die Tücke des Objekts zurück auf seine Beschreibung. Nicht Vorgängen nämlich, sondern Vorstellungen läuft der Roman hinterher. Der ihn erzählt, träumt, allerdings mit hellwachen Augen. Eine Phantasie, eine von Erfahrung verletzte Phantasie beginnt zu fabulieren.
Die vorausgegangene Erfahrung, als Anfang vor allen anderen Anfängen des Romans, scheint noch zu entziffern. Sie ist einfach, von strenger, melodramatischer Alltäglichkeit: Ein Mann und eine Frau haben sich getrennt. In der eben noch gemeinsamen Wohnung sitzt-der Erzählende. Noch scheinen die Gegenstände ringsum ihn zu erinnern, doch auf das Erinnerte selbst ist kein Verlaß mehr. Genau diese Lage setzt Phantasie frei. "Ich stelle mir vor", so intoniert der Erzählende, einmal, unzählige Male. Er schlägt vor, wie es gewesen sein könnte, was möglich wäre, was kommen mag. Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit manipuliert seine Imagination ununterscheidbar.
Man könnte, zum Beispiel, Liebhaber einer verheirateten Frau gewesen sein (oder eben: sein, oder auch: werden), einer Schauspielerin namens Lila, einmal ohne, dann mit Kind imaginiert, später statt Schauspielerin Contessa, zwischendurch Medizinerin, am Ende nichts als Hausfrau. Man könnte ihr Liebhaber sein, aber auch der Zuschauer dieser Affäre, oder aber: man könnte der Hahnrei selbst sein, Lilas betrogener Mann, und schließlich, wieder ein Vorschlag und Umschlag, ebensogut dessen Nachfolger, der eifersüchtige zweite Ehemann. ..Ich probiere", sagt der Erzählende, "Geschichten an wie Kleider."
Am liebsten und ausdauerndsten jedenfalls möchte er Gantenbein sein, ein Blinder, der durch Blindenbrille und trotz Blindenstock alles sieht, der Blindheit recht eigentlich vortäuscht. um desto besser sehen zu können, was die scheinbar Unbeobachteten um ihn und mit ihm spielen. Gantenbein natürlich ist der willkommene Partner in einer Welt des gesellschaftlichen Scheins, soll er doch alles, was man ihm vorsimuliert wortwörtlich "blindlings" glauben, auch etwa die Treue einer Frau namens Lila.
Alle diese Rollen und Lagen durchläuft der Erzählende, belegt sie mit Geschichten. Flüchtig, chamäleonfarben, wechselt er dauernd die Positionen. nennt sich Gantenbein, Enderlin. Svoboda, erzählt von jemandem in der dritten Person, der eben noch seine eigene, erste Person gewesen zu sein schien. Hermes, der täuschende Gott, wird nicht umsonst oft zitiert. Nichts hält hier lange, was es für einen Augenblick verspricht, alles scheint austauschbar, die Namen, die Zeiten, episches Ich und Er. Eine Episode, eben aus dem Nur-Möglichen ins Schon-Wahrscheinliche hineinfabuliert, fällt gleich wieder ins Bodenlose der reinen Phantasie, war auch nur Erfindung. Finte, Kulisse.
Geboten werden, so heißt es, "Entwürfe zu einem Ich". Denn hinter der verwegenen Partitur des Romans, der Geschichte gegen Geschichte setzt wie Punkt gegen Kontrapunkt, der dauernd vorschlägt und ebensooft zurücknimmt, der wie ein Strudel die Episoden herauftreibt auf seine Oberfläche und jäh wieder hinunterzieht ins Vergessen - hinter diesem schwindelerregenden Schwindel steht eine These über die Erfahrung und das Erzählen, die Frisch schon vor Jahren formuliert hat.
"Jede Geschichte", so behauptet diese These, "ist eine Erfindung." Wer sie erzählt, möchte nur den "zwei oder drei Erfahrungen", die er haben kann ("wenn's hochkommt"), ein Muster aufstülpen, um diese Erfahrungen lesbar, plausibel zu machen, um seinem Ich Unterkunft zu bieten in einer Rolle. Doch der hier erzählt, behauptet von sich, gerade er wüßte keine Geschichte, die sich reimt auf seine Erfahrung, keine Rolle für sein Ich. Also ist er: fortwährend unterwegs durch mögliche Rollen, also probiert er Geschichten an wie Kleider.
Kopflastig mag ein Roman sein, der so gewagte Hypothesen zu seinen Spielregeln erklärt, doch in seinen ersten, herrlichen Läufen beschämt er alle Vorbehalte. Nur allmählich verlieren die erstaunlich zusammenstürzenden, auseinanderfallenden Erzählmosaike an Reiz, vor allem: an Verbindlichkeit. Zufälliges und Beliebiges an Geschichten wird einmontiert, allzu flott perlende Variationen beuten selbst das Blinden-Thema aus. Und schließlich scheint unter den bunten Kleidern doch die Figur zu fehlen, die sie trägt, und es tröstet wenig, daß sie ja eben behauptet: keine Figur zu sein, sondern jemand ohne Geschichte. Rolle, Gesicht.
Auch eine quer durch die erste Romanhälfte geflochtene Liebeshandlung allzu säuberlich routiniert, nach "Homo faber"-Manier in Sequenzen geschnitten, trägt als Gerüst nicht, was sich rundherum an Parallel- und Gegenepisoden ansetzt. Im Gegenteil, ihr Pathos, das die schönen Gemeinplätze des Gefühls auf neuen Glanz sprechen möchte, stört nur den freien Auslauf der Phantasie in den benachbarten Geschichten, trübt deren präzisen und ausschweifenden Humor durch sentimentale Verschleierung.
So scheint es, gegen Mitte des Romans, als liefere der nur ein Perpetuum mobile von Kurzgeschichten, als sei er nichts weiter als ein Kleider- und Geschichtenständer und die erzählende Figur der stumme Diener, der sich geduldig alles überwerfen läßt, was einem
Fabulierer wie Frisch so reich wie beliebig einfällt. Doch eben von diesem toten Punkt weg, da die offene Form fast zur virtuosen Formalität erstarrt, kommt der Roman als Zusammenhang des Zerstreuten wieder ins Laufen. Denn darauf, daß zum Ende hin Beschleunigung und Geschlossenheit zunehmen, war in Frischs Büchern immer Verlaß, so auch hier.
Der Erzählende hatte es uns schon im voraus wissen lassen: So viele Kleider (also Geschichten) man auch anprobieren mag, sie werfen doch an immer derselben Stelle die gleichen Falten. Was schließlich auch seine Geschichten immer monotoner und intensiver verraten, was sie rechtfertigen möchten und nicht verwinden können, ist eine einzige Passion: Eifersucht.
Treuherzig, mit dem Brustton der Konvention, beschreibt der Roman Liebe, genaue:r Verliebtheit, doch deren Kehrseite, die Eifersucht, läßt ihn hellsichtig werden. Jetzt gerät sein Ernst scharf und graziös, statt tolpatschig, wehleidig wie vorher. Nur der Verdacht, Mißtrauen gegen die vorgespiegelte Realität, scheint noch eine verläßliche Muse für diesen Autor, nicht Hingabe und Übereinstimmung.
Leichtflüssig, in Aquarellmanier, arbeitet nämlich seine Prosa. Für pastosen Auftrag und Spachtelwerk, zu Pathos will sie nicht mehr taugen.
Selbst die andächtigen Porträts der jeweiligen Geliebten geraten ihr nur duftig, konturenlos wie gefälliger Dufy. Der Komödie des Zweifels und der Täuschungen aber, in dem die Figuren und Situationen ohnehin nur Vorschläge sind, luftige, durchlässige Schemen, ist diese Sprache leicht und bitter gewachsen. Da sprüht sie vor Ernst, und auch ihre Heiterkeit sinkt nie ab ins Gefällige.
Denn die Eifersucht, von der immer ausschließlicher erzählt wird, verrät ebenso ihre Größe wie ihre Lächerlichkeit. Aus allen Verschleierungen taucht endlich doch die erzählende Figur auf: ein Othello mit den Nerven Hamlets, ein tragikomischer Fall. Dieser Eifersüchtige geht durch die Welt wie durch Nebel, den sein Mißtrauen und seine Erfindungen mit Blitzschlägen erhellen möchten. Vielleicht ist er, der simulierte Gantenbein, tatsächlich blind? Verdacht jedenfalls wuchert ihm alle Realität zu. Zu Hause und folglich heimatlos ist er in allen Vermutungen, allen Rollen - nur, versteht sich, nicht in der Rolle der Frauen, das würde die blinde Eifersucht ja sehend machen.
"Ich lechze nach Verrat", in diesem Satz hat der Roman, gelesen als Protokoll der Eifersucht, einer tragikomischen Anstrengung des Mißtrauens und der Phantasie, endgültig sein Zentrum erreicht, die bundige Einsicht in sich selbst. "Eifersucht", heißt es dort, "ist die Kluft zwischen der Welt und dem Wahn ... Schock: die Welt deckt sich mit dem Partner, die Liebe hat mich nur mit meinem Wahn vereint."
Von hier aus knüpft sich auch der feste Zusammenhang mit "Stiller". Nicht nur, daß Erzählen hier wie dort durch die Dialektik von Sich-Verbergen und Sich-Enthüllen läuft, daß der Erzählende sich zwar in einen Maulwurfsbau von Geschichten eingräbt, unverhofft aber doch wieder ans Licht schaufelt. Beide Male wird auch die Geschichte eines der Welt entfremdeten, gegen die Entfremdung wütenden Bewußtseins erzählt. Stiller allerdings scheint dann der größere Fall, verglichen mit dem Erfinder des Gantenbein, der nur unter dem Druck der Eifersucht "außer sich" gerät, der den Schmerz einer phantastischen Zerstreutheit eher als den der hoffnungslosen Rebellion verrät.
Hier und da deutet der Roman selbst seine Verlegenheit an, eine vermeintlich so enge und private Geschichte so breit vorzutragen in einer Zeit, da etwa in Algier gefoltert wird, die penetrante "Ich-Geschichte" auszuspinnen, statt sich der Zeitgeschichte zu stellen. Verbindlich, das weiß auch Frisch sind solche Alternativen nicht.
Sicher, sein neuer Roman enthält auch ungleich weniger konkrete degenwart, etwa Berufswelt oder getroffenes Milieu, als die beiden voraufgegangenen Seine Gegenwärtigkeit und sein Engagement freilich hängen auch davon nicht ab. Sie verlieren sich immer nur dort, wo der privaten Not die Stellvertretung mißlingt, wo der Tagebuchton, ohne Resonanz, klingt wie belauschte Intimität.
Diese Spannung hält sich bis zum Ende. Einerseits steht dort eine Episode von nahezu Beckettscher Konsequenz, ein Wunschbild vollkommenen Untertauchens: Da treibt ein Toter anonym die Limmat hinab, um "abzuschwimmen ohne Geschichte". Andererseits folgt als letztes eine Idylle von schon konformistischem Schick, das Genrebild eines Déjeuners nahe den Etruskergräbern, Touristenbehagen, ausgegeben als Behagen in der Welt schlechthin.
Solche Risse laufen oft durch dieses Erzählgebäude. Der Kühnheit seiner Planung und seines Humors ist es nicht durchgehend gewachsen. Daß dieses Buch gerade durch seine Widersprüche, durch seine ästhetische wie humane Offenheit vertrauenswürdiger wird als so manches nur handwerklich, also nur fatal und scheinbar Runde ("Andorra" zum Beispiel), das muß sofort hinzugefügt werden. Hier wird unsere Imagination nicht bedient, sondern aufgestört, ein unbehagliches, ein unerschöpfliches Vergnügen.
Suhrkamp
Verlag
Frankfurt
496 Seiten
22 Mark
Baumgart
Frisch