Moritz Pfeil AXEL DOHRN UND DIE FOLGEN
Daß der Bürger Gesetzeslücken nicht büßen muß - diese in einem Rechtsstaat selbstverständliche Maxime hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Berlin deutschen Bundesanwälten und Generalstaatsanwälten anläßlich des Falles Axel Dohrn in die Conduite geschrieben. Der inflationären Entwertung des Rechts, zu der auch der Bundesgerichtshof selbst einige rechtsschöpferische Analogien zweifelhaftesten Wertes beigesteuert hat, sticht diese höchstrichterliche Entscheidung zu begegnen.
Daß der Bürger nur Gesetze beachten muß, die er kennen kann, daß die Tat bestimmbar sein muß und nicht erst im Nachhinein konstruiert werden darf - wer hätte den Elementar-Unterricht nötiger als die höchsten Strafverfolger in Karlsruhe und einigen Oberlandesgerichtsbezirken? Daß auch die Staatsanwaltschaft an gewisse "gute Sitten" gebunden ist und daß sie die bürgerliche Existenz der Verdächtigen nicht ohne Not gefährden oder gar vernichten darf - wie notwendig scheint die Lehre in der Bundesrepublik!
Fünf Jahre hat Axel Dohrn gegen Unverstand und Rechthaberei eines Generalstaatsanwalts ankämpfen müssen, obwohl von der subjektiven Seite her feststand, daß er nicht verurteilt werden konnte, weil der zuständige Oberstaatsanwalt in Hannover sich eben aufgrund Dohrns subjektiver Einstellung strikt geweigert hatte, Anklage zu erheben. Der Prozeß mußte stattfinden, weil Sitte, Moral und Anstand wiederhergestellt werden sollten, Begriffe, an deren rechtsphilosophischer Kautschuk-Bedeutung die bundesgerichtshöfliche Rechtsprechung nicht unschuldig ist.
Weil die Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus Richtern und Staatsanwälten der ersten Instanz angesichts der lauteren Motive des Angeklagten unangemessen hoch erschien - der Freispruch in Berlin statuiert "erwiesene Unschuld" -, schlugen sie sich ihre eigenen Schneisen durchs Gesetz: Anstatt der Zuchthausstrafe für eine vielfache Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten, aber gegen die guten Sitten, griffen sie willkürlich eine Mindeststrafe heraus, die in einem Fall von Tötung auf Verlangen gilt: sechs Monate Gefängnis.
Aber Dohrn hatte nicht getötet, und
niemand hatte es von ihm verlangt. Der Landgerichtsdirektor der ersten Instanz konnte sich freilich auf jenen 1. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs berufen, der einem Kläger, strikt gegen Wortlaut und Sinn des Gesetzes, Ersatz immateriellen Schadens zugesprochen hatte (im sogenannten Herrenreiter-Urteil), weil die rechtswidrige Abbildung des spannkräftigen Reiterkörpers zu Reklamezwecken "Freiheitsberaubung im Geistigen" sei, und für Freiheitsberaubung, die einem Körper widerfährt, sieht das BGB den Ersatz
immateriellen Schadens ausnahmsweise vor.
Kaum irgendein Gesetz könnte nicht in sein Gegenteil verkehrt werden, wenn man den Richter derart freizügig schalten ließe. Freilich, die Bundesregierung in Bonn hat die Zivilrichter des Bundesgerichtshofs in Fragen der Ehescheidung und des Ehrenschutzes jahrelang ermuntern lassen (prominentester Ermunterer: der wegen der SPIEGEL-Affäre unrühmlich aus dem Dienst geschiedene Staatssekretär Walter Strauß), durch verfassungskonforme Auslegung" der Gesetze jene rechtspolitische Ernte einzubringen, für deren Aussaat eine Mehrheit des Bundestags nicht zu gewinnen war.
Dr. Fall Dohrn konnte (ebenso wie
der SPIEGEL-Fall eines "literarischen Landesverrats") nur bis zum bitteren Ende durchgespielt werden, weil der Bundestag in semer Verantwortungsscheu sich konsequent weigert, die notwendige und überfällige Begriffsentwirrung vorzunehmen. Zwar, die überwiegende Mehrheit des Bundestags würde nicht gebilligt haben, wenn Axel Dohrn zu zwei Jahren Zuchthaus oder auch nur zu Gefängnis verurteilt worden wäre. Aber keine der drei Parteien mit ihren 521 nur ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten hat es für zwingend gehalten, eine gesetzliche Regelung vorzuschlagen.
Sogar im Regierungsentwurf für jene wohl erst 1970 wirksam werdende Strafrechtsreform ist die Sterilisierung nicht geregelt, sowenig wie der "literarische Landesverrat": Ersteres aus Angst vor der katholischen Kirche nicht, letzteres nicht aus Angst vor den Pressionen der CSU.
Freilich, es gibt zahlreiche und schwerwiegende Bedenken gegen Dohrns Praxis, sie müssen nicht unbedingt mit der Bibelstelle "Seid fruchtbar und mehret euch" zu tun haben Der Bundesgerichtshof hat klargemacht, daß die Parteien sich dem Problem entweder stellen müssen - auf die Gefahr hin, mit der katholischen Kirche zu kollidieren
- oder daß sie weiteres Sterilisieren
in Kauf zu nehmen haben. Tertium non datur.
Wie unser Staat mit manchen unbescholtenen Bürgern umgeht, hat in doppelter Funktion Rechtsanwalt Dr. Augstein erfahren: Einmal als nahezu kohlhaasiger Verteidiger des Arztes Dr. Axel Dohrn, dem er gegen einen verrannten Justizbeamten Recht verschafft hat; dann aber, nachdem er schweren Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden unternommen hatte, als grundlos Verhafteter und Beschuldigter eines nun allerdings wirklich nicht verfassungskonform angelegten Verfahrens wegen Landesverrats.
Justiz, Regierung und Parlament hätten Grund, das Recht zu achten und in den ihm gebührenden Rang wieder einzusetzen.