HERZ UND GALLE
Schon buchhändlerisch ist dieses Buch ein Trost: Es erscheint, ein sozusagen gesamtdeutscher Artikel, gleichzeitig in Frankfurt am Main und Ost-Berlin und wurde gesetzt, gedruckt, gebunden in Leipzig. Sein Autor allerdings, da er am von uns entfernten Ende von Berlin wohnt, wird landesüblich als ein "ostdeutscher" gebucht. Mich erinnert er nur daran, wie penetrant "ostdeutsch" "unsere angeblich "westdeutsche" Literatur doch längst ist. Bobrowskis Erinnerung nämlich führt in die gleiche Richtung wie die von Graß und Lenz, von Johnson und Faecke.
Westpreußen ist diesmal der Schauplatz der Erzählung, wieder eine der Gegenden, die unserer Erfahrung schon so fern gerückt sind, daß sich die erinnernde Phantasie - um so robuster und rücksichtsloser in ihr bewegen kann. Kein Wunder also, wenn auch hier vieles so exotisch schmeckt wie in früheren Romanen Danzig, die Grafschaft Glatz oder die Masuren. Doch "Levins Mühle" steht nicht nur weit im Osten, sie steht auch weit entfernt in der Zeit. Aus dem Kaiserreich in seiner ersten, schon faulen Frische, aus dem Jahr 1874 kommt Bobrowskis Geschichte zu uns.
Es war einmal, behauptet sie, ein Großvater, Bobrowskis oder der Erzählung oder eben beider Großvater, der hat damals Levins Mühle mit einem kunstvoll gestauten Schwall Frühjahrswasser weggeschwemmt. Sie störte ihn, als Mühlenbesitzer, als Deutschen und Baptisten: Levin natürlich ist Jude. Ein Gericht soll die sorgsam verdunkelte Geschichte ans Licht ziehen, doch es ist des Kaisers Gericht, sitzt unbequem zwischen deutscher Ehre und allgemeiner Gerechtigkeit. Also wirft sich die Volksstimmung, gespalten zwischen Polen, Kossäten, Zigeunern einerseits und den Kaiserdeutschen andererseits, wütend auf das Ärgernis. Es setzt Lieder und Schlägereien. Der Großvater leidet an der Galle, Levin am Herzen, doch leidend verlassen sie beide schließlich den Schauplatz. Das Gericht löscht die Akten.
Gemütlich im Tonfall, ungemütlich im Gegenstand, liegt die Geschichte sich selbst dauernd in den Haaren, und genau das will sie natürlich: Scharf soll die westpreußische, kaiserdeutsche Idylle schmecken. Tatsächlich spiegelt die Parabel, so klein und geheuer ihr Rahmen auch sein mag, viele spätere, durchaus ungeheure Bilder, allerdings nur verschwommen, sehr träumerisch. Levins Fall könnte durchaus Anlaß sein zu einer rabiat tragischen Geschichte, doch dieser Levin ist so wenig ein Shylock oder Kohlhaas wie Bobrowski ein Shakespeare oder Kleist. Sanft und melancholisch schleichen sie beide un den explosiven Kern des Erzählten. Nein, sie lassen sich nicht provozieren.
"Wir erzählen hier eine Geschichte",
sagt Bobrowski. "Es vergißt sich leicht." So sagt er einmal, doch so geht es ihm dauernd, und er genießt genau diese sehr zweckbewußte Zerstreutheit. Über einen schmalen, holprigen Weg führt er seine Fabel. Oft verliert sie die Spur, öfter springt sie, wie über Schlaglöchern, hoch in die Luft, und dem Erzähler behagen diese Luftsprünge, dieses Querfeldein genauso wie die häufige lyrische Rast am Wegrand. Schwalbenflug, Machandelgeschmack, Kalmusgeruch beschäftigen dann seine Sinne und Sätze. Für ihn kann jederzeit Pans Stunde schlagen, und am liebsten sieht er seine liebsten Figuren über einem Lied oder einer vollen Flasche beisammen sitzen. Die Anekdoten verschlingen ihm fast die Fabel, die Stimmungen den Vorgang. Ihm, der gemütlich ist, wird am ehesten ungemütlich in seiner Geschichte.
Bobrowskis Erzählweise liegt seltsam zwischen redselig und maulfaul. Brockenweise kommt das meiste zum Vorschein. Abschweifung andererseits, wie gesagt, steht auf der Tagesordnung. Manchmal flieht er in Sätze, die nichts sagen, die es aber schön sagen. ("Ob es Tag wird oder nicht, darüber befinden die Hähne.") Doch vor allem und am liebsten bricht diese Prosa immer wieder aus in Lied und Gesang, ganz wie im "Taugenichts". Schließlich sind auch Bobrowskis Vorzugsfiguren, die Vaganten, die Zirkuspolen oder Geigenzigeuner, die nirgends und an nichts haften, lyrische Stimmungszeichen eher als Personen. Nur im Lied, nur-singend und musizierend existieren sie eigentlich.
Eine lyrische Erzählung also, "nur" eine lyrische? Das wäre eine bequeme Antwort, denn wir kennen Bobrowski als Lyriker, und allzugern baut sich Kritik mit Amtsmiene auf zwischen den Gattungen und gestattet keinerlei kleinen Grenzverkehr. Wenn es nach ihr ginge, müßten Bobrowski oder Ingeborg Bachmann Lyriker bleiben auf Lebenszeit; und Martin Walser dürfte sich' nie mehr die feinmechanischen Hände verderben beim Zimmern von Stücken.
Doch Bobrowskis Mißtrauen gegen alles reine und ungebrochene Erzählen kommt von weiter her als aus seiner Lyrik. Mit allen Zweifeln der romantischen Ironie traktiert er Figuren und Begebenheiten. Eben noch hat er uns Briesen als seine Kreis- und Gerichtsstadt vorgeschlagen, und schon verrät er diese poetische Wahrheit an die amtliche: Die "richtige" Kreisstadt nämlich heißt Strasburg. Nur: "Briesen liegt, was die Straßenverhältnisse anlangt, erheblich günstiger für unsere Geschichte". und außerdem: "Strasburg ist langweilig."
"Unsere Geschichte", sagt der Erzähler gegen Ende, "befindet sich, gewissermaßen, in Liquidation." Doch in diesem Zustand befindet sie sich immer wieder. Sie fühlt sich keineswegs sicher im Gehäuse ihrer Fiktivität und des unumstößlichen "Es war einmal", dauernd blickt sie durchs Fenster nach draußen. Vielleicht, so überlegt der Autor zwischendurch und noch am Schluß, hätte man die Geschichte besser in ganz anderer Gegend ansiedeln sollen? Fortwährend zieht er uns ins Vertrauen. Wenn dabei die Geschichte unser Vertrauen verliert, so gewinnt er unsere Sympathie.
Um uns nahe zu kommen, um das Erzählte uns nahe zu rücken und zugleich in Schwebe zu halten, schreibt er im Präsens, das ja als unepisch gilt, als ein Medium ohne Distanz und Übersicht. Doch auf Bobrowskis Zunge wird gerade das scheinbar atemlose Präsens zur gemütlichsten Tonart. Es mischt ihn selbst in seine Geschichte hinein. Wie ein Kumpan unter Kumpanen steht er mitten unter seinen Figuren, wenn auch nur als ihr Zuschauer, und zugleich sitzt er, ein mündlicher Erzähler eher als ein Schriftsteller, mitten unter uns. Eigentlich lesen wir ihn gar nicht, vergessen fast, die Seiten umzublättern. Eigentlich hören wir ihm zu.
Nur anläßlich einer Geschichte spricht sich da eine Person vor uns aus, und wir vergessen eher die Geschichte als die Person. "Levins Mühle" gehört zum Schlag jener Nebenwerke, in denen sich die Autoren am deutlichsten sympathisch oder unsympathisch verraten, denn ein Werk, das kleiner ist als sein Autor, kann diesen nicht gut verbergen. Rechts und links hinter Levins Mühle sehen wir ihn immer wieder auftauchen, etwas verlegen, gut gelaunt, genau wie wir, seine Leser.
Johannes Bobrowski:
"Levins Mühle"
Roman
S. Fischer Verlag
Frankfurt am Main
296 Seiten
19,80 Mark
Bobrowski