GESCHICHTE / DURANT Die Welt ist schmutzig
Über vier Jahrzehnte war Will Durant unterwegs, durchquerte er, begleitet nur von seiner Frau, und über große Strecken ein Marschtempo von 1000 geschriebenen Worten pro Tag einhaltend, 110 Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte. Jetzt ist er angekommen: beim Sturm auf die Bastille 1789.
Simon and Schuster, der New Yorker Großverlag, meldete die Vollendung des zehnten und letzten Bandes der "Story of Civilization" (deutsch: "Kulturgeschichte der Menschheit"*), die zu schreiben Durant sich 1927 vorgenommen und 1935 mit der Herausgabe des ersten Bandes ("Das Vermächtnis des Ostens") eröffnet hatte.
Freilich, deutschsprachige Durant-Leser werden den zehnten Band ("Rousseau und die Revolution") erst zu Weihnachten 1968 kaufen können, dafür in diesem Jahr noch den auf deutsch erscheinenden neunten Band: "Das Zeitalter Voltaires". Bis zu zwei Jahren brauchen die Bearbeiter des Berner Francke-Verlages normalerweise, um die jeweils 600 bis 1200 Seiten umfassenden Bände des Amerikaners zu übertragen.
Als Durant den ersten Abschnitt seines Jahrtausende-Weges beendet hatte, hoffte er, "daß es Zeitgenossen gibt, die gern mit mir alt werden, wenn sie dabei etwas lernen", und versprach, sich mit dem Rest zu beeilen. Damals war er nahezu 50 Jahre alt, heute ist er 82, und seine Leser zählen nach Millionen.
Rund 3,2 Millionen sind es allein in englischsprachigen, etwa 300 000 in deutschsprachigen Ländern. Die Gesamtzahl der Auflagen der "Kulturgeschichte" -- sie wurde in Griechisch, Portugiesisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Hebräisch, Holländisch, Isländisch und Finnisch übersetzt -- vermag auch Simon and Schuster nicht zu schätzen.
* Will Durant: "Die Kulturgeschichte der Menschheit." Francke Verlag, München/Bern. Bd. I Das Vermächtnis des Ostens; 862 Seiten; 28,80 Mark;
Bd. II Das Lehen Griechenlands; 872 Seiten; 28,80 Mark;
Bd. III Cäsar und Christus; 736 Seiten; 28,80 Mark;
Bd. IV Das Zeitalter des Glaubens; 1214 Seiten; 44 Mark;
Bd. V Die Renaissance; 768 Seiten; 28,80 Mark;
Bd. VI Das Zeitalter der Reformation; 988 Seiten; 39,50 Mark;
Bd. VII Das Zeitalter der Vernunft hebt an; 744 Seiten; 34 Mark;
Bd. VIII Das Zeitalter Ludwig XIV.; 796 Seiten; 38 Mark;
Bd. IX Das Zeitalter Voltaires; ca. 800 Seiten; ca. 38 Mark.
Durants "Kulturgeschichte" endet mit der Französischen Revolution. Für die Beschreibung des 19. Jahrhunderts fühlen er und seine Frau, geborene Ida ("Ariel") Kaufmann -- sie zeichnet vom siebenten Band an als Ko-Autorin -, sich nun zu alt.
Aber auch so stellt die Durantsche "Kulturgeschichte" ein nahezu einzigartiges Einmann- oder doch Familien-Unternehmen dar, vergleichbar allenfalls mit Friedrich Christoph Schlossers 15bändiger (nach 1850 beendeter) oder Arnold Toynbees zehnbändiger Weltgeschichte, doch auch von diesen unterschieden durch die eingängige Sprache und die geschickte Komposition der Elemente: Religion, Politik, Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft und Sittenleben.
Rund 5000 Quellen-Werke hat Durant benutzt -- nicht einmal sonderlich viel angesichts des riesigen Geländes, das er zu beschreiben hatte. Tatsächlich hat es gelegentlich an Fach-Kritik nicht gefehlt. So verübelten ihm Musikliebhaber, daß er Glucks Opern-Arie "Ach, ich habe sie verloren" als die "immer noch lieblichste" bezeichnet.
Frank gesteht Durant selbst bei einigen Themen Wissenslücken -- in einem Kapitel über den Talmud im vierten Band ("Das Zeitalter des Glaubens") sogar "ökumenische Ignoranz": Diesen "Berg" habe er deshalb nur "anritzen" können.
Gleichwohl: Je weiter Durant bei seinem Werk vorankam, desto mehr häuften sich in den Rezensionen Vokabeln wie "monumental" und "bewunderungswürdig".
Vor allem ist Durant ein brillanter Erzähler. Skepsis gegenüber den Großen und den Gewaltigen, Mitleid und Verständnis für die Gemeinen und die Elenden geben seiner Darstellung einen ansprechenden Überzug von Ironie und Sentimentalität, ermutigen ihn auf jeden Fall zur Anekdote, zum Apercu und zum Detail. So haben seine Ansichten über Götter und Ganoven, Mythen und Maschinen, Produktion und Prostitution eine Tendenz zum gefälligen Mittelmaß.
Über den alternden, herrschsüchtigen Martin Luther urteilt er, der Reformator wäre besser jung gestorben -- über Jahwe, den Gott des Alten Testaments: dessen Gewissen sei "biegsam" gewesen, "wie das eines politisch tätigen Bischofs".
Durant hat einen sicheren Blick dafür, was den normalen Menschen inmitten epochaler Vorgänge trifft und verletzt. So zitiert er die Klage einer sumerischen Göttin aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus: "Der Feind ist mit Schuhen an den Füßen in mein Gemach eingetreten, der Feind hat mich mit seinen ungewaschenen Händen angefaßt."
Den Propheten Jeremia schildernd, der den Juden die Unterwerfung unter Babylon empfiehlt, stellt Durant sich die Frage, ob der Prophet wohl ein bezahlter Agent der Feinde aus dem Osten gewesen sei.
Über den unter Nierenkoliken leidenden Michel de Montaigne schreibt er, der Philosoph habe den Stein der Weisen gesucht und ihn in seiner Harnblase gefunden.
Von Cäsar berichtet Durant, der Diktator habe eines Tages von dem altrömischen Königsrecht Gebrauch gemacht, bei Eintritt des Senats sitzen zu bleiben. Der daraufhin aufkommende Verdacht, er wolle sich krönen lassen, sei jedoch falsch gewesen. Cäsar habe Durchfall gehabt und gefürchtet, seine Eingeweide in Bewegung zu setzen.
Für berichtenswert hält Durant auch, daß
> Buddha einen seiner Schüler vor gesprächigen Damen warnte ("Hellwach bleiben, Ananda!"),
> Frankreichs König Franz I., der Gegenspieler Karls V., "dort gestraft wurde, wo er gesündigt hatte" (er starb vermutlich an einer venerischen Krankheit),
> der mazedonische König Archelaos auf die Frage seines Friseurs, wie die Haare zu schneiden seien, antwortete: "Schweigend!",
> der abgeschlagene Kopf des Hobfernes auf Ludwig Cranachs Gemälde "Judith" "sauersüß zu seinem Schicksal lächelt", und
> Madame de Sévigné berichtete, eine Dame ihrer Bekanntschaft habe nach allzu reichlichem Kakao-Genuß "einen kleinen Knaben, schwarz wie der Teufel" geboren. Mit den Geschichten aus der Geschichte versucht Durant die Stimmung der Epochen, ihre Melancholie und ihren Zynismus, ihren Aberglauben und Heroismus einzufangen. Ohne Frage ist ihm das gelungen.
Dabei ist Durant ein hervorragender Kenner der Geistesgeschichte der Menschheit.
Ehe er sich an die "Kulturgeschichte" machte, hatte er eine Geschichte der Philosophie ("Große Denker") veröffentlicht, die heute in drei Millionen Exemplaren verbreitet ist und den Durants das Geld einbrachte, mit dem sie das Riesenunternehmen der "Kulturgeschichte" finanzieren konnten. Hans Driesch, der deutsche Natur-Philosoph, ehrte die Philosophie-Geschichte durch ein Vorwort zur deutschen Übersetzung.
Die Lektüre von Spinozas Werken hatte den jungen Durant der katholischen Kirche entfremdet, und die Spinoza-Darstellung des gereiften Durant im achten Band seiner Kulturgeschichte hat auch bei Fachleuten große Anerkennung gefunden.
Die Toleranz des jüdischen Apostaten Spinoza und dessen Verehrung für den Menschen Christus, dem, wie er schrieb, "der Heilsplan Gottes ohne Worte und Gesichte, ganz unmittelbar offenbart worden ist", gehören denn auch zu der Grundstimmung, mit der Durant die Weltgeschichte durchschreitet.
Obwohl ein abgefallener Katholik, zitiert er mit Zustimmung einen modernen jüdischen Historiker, nach dessen Ansicht das Judentum die Verfolgungen des Mittelalters nicht überstanden hätte, wenn ihm nicht die katholische Kirche zu Hilfe gekommen wäre.
In Durants Jahrhundert -- Report mischt sich sanfter Optimismus mit gemäßigtem Pessimismus. Mit Voltaire hofft er, daß die Menschheitsgeschichte "Schritte von der Barbarei zur Kultur" unternehme.
Vor Beginn der Arbeit an seinem letzten Band äußerte er jedoch: "Die Welt ist schmutzig. Sie war es immer. Sie wird es immer sein. Ich sehe keinen Grund für eine Änderung."