TIKAL Tausendjähriges Reich
Urwald überwucherte das Heiligtum. Fünfzig Meter hoch wuchsen die Zedrelen und Mahagonibäume im tropischen Sumpfdickicht Nord-Guatemalas, die das Geheimnis bargen. Die Eingeborenen mieden die gespenstische Stätte, die den Namen "Tikal" trägt der Ort, wo die Stimmen der Geister zu hören sind".
Jetzt haben amerikanische Archäologen freigelegt, was den Altertumsforschem jahrzehntelang als das verlockendste Mysterium des mittelamerikanischen Urwalds galt: In einer der aufwendigsten Grabungsaktionen der modernen Archäologie förderten die US -Wissenschaftler aus überwachsenen Trümmerhügeln die Relikte eines versunkenen Weltwunders zutage - die monumentalen Tempel- und Palastbauten von Tikal, dem Kultzentrum des Maya-Volkes.
Unfaßbar scheint den Forschern, welch grandiose Bauwerke jenes einst hochkultivierte Indio-Volk, das gleichwohl nur steinerne Werkzeuge kannte, zum Himmel aufgetürmt hat: Kernstück der Tempelanlage von Tikal sind fünf kolossale, steil aufgeblockte Pyramiden von der Höhe zwanzigstöckiger Häuser. Hundertstufige Freitreppen führen zu den steinernen Heiligtümern hinauf, die auf den Pyramiden-Plattformen errichtet wurden, überragt noch von einst bunt leuchtenden Mosaik -Mauern.
Elf Jahre lang hat das zeitweilig bis zu 90 Mann starke - Archäologen-Team der Pennsylvania-Universität in Philadelphia im Urwald Guatemalas geschürft.
Fast vier Millionen Mark verwandten die Amerikaner auf das "bislang großartigste und sorgfältigste Unternehmen der Altamerika-Forschung" (so der Hamburger Amerikanist Dr. Wolfgang Haberland).
Noch dieses Jahr sollen die Grabungsarbeiten in Tikal abgeschlossen werden. In einem Forschungsbericht, der von der Pennsylvania-Universität jetzt veröffentlicht wurde, zog der Leiter des Ausgrabungsprojekts, der Archäologe Dr. William R. Coe, eine vorläufige Bilanz der wissenschaftlichen Großtat:
Mehr als 40 Bände soll die endgültige Dokumentation der Ausgrabungsfunde füllen; acht Jung-Archäologen fanden Stoff für ihre Doktorarbeit. Nahezu 350 Bauwerke wurden freigelegt, dazu eine große Zahl reichverzierter steinerner Altäre und Bildsäulen. Und um die reiche Ausbeute an Hausgerät, Schmuckstücken und Skulpturen - einstweilen katalogisiert auf 50 000 Photos - unterzubringen, mußte eigens ein Lagerhaus errichtet werden.
Mit weiteren dreieinhalb Millionen Mark will nun die Regierung von Guatemala die von den US-Forschern ausgegrabenen Maya-Monumente restaurieren und vor weiterem Verfall bewahren lassen.
Schon jetzt besuchen alljährlich einige tausend Wissenschaftler und Touristen den Fundort im Urwald: Die Tempelstadt Tikal, so formulierte Expeditionsleiter Coe, "ist einer der spektakulärsten archäologischen Schauplätze der Welt" - freilich, wie Coe hinzufügt, auch einer der rätselvollsten.
Noch immer herrscht Ungewißheit über Ursprung und Geschichte des Maya-Reichs, das zwischen dem dritten und zehnten nachchristlichen Jahrhundert aufblühte und wieder verging.
Unerklärlich scheint, wie inmitten des unzugänglichen und zivilisationsfeindlichen tropischen Regenwaldes zwischen dem Golf von Mexiko und der Karibischen See eine Hochkultur entstehen konnte - in einer, wie Coe konstatiert. "ökonomisch aussichtslosen Situation".
Unvermittelt und fast ohne Anregung durch andere Hochkulturen, so fanden die Altertumsforscher, hat sich die glanzvolle Maya-Kultur entfaltet - ein Vorgang, der in der abendländischen Welt kein Beispiel hat. Noch widersprüchlicher mutet an, was die Amerikanologen über den zivilisatorischen Leistungsstand des Maya-Volkes erkundeten:
- Maya-Gelehrte ersannen Schriftzeichen und Zahlen; sie vermochten sogar (lange vor ihren Kollegen in
der Alten Welt) mit der Zahl Null zu rechnen - aber sie verstanden nicht, eine Mais- oder Fleischportion zu wiegen.
- Maya-Priester maßen die Zeit nach einem Kalender-System, das "Großjahre" ("alautun") von 23,04 Milliarden Tagen umspannte und das genauer war als der damals in Europa gültige Julianische Kalender - aber die Mayas schleppten Lasten auf schürfenden Schlitten voran, die Stirn in die Zugseile stemmend; denn sie wußten das Rad nicht zu nutzen, obwohl sie es, wie der deutsche, seit elf Jahren in Mittelamerika ansässige Maya-Forscher Dr. Wolfgang Cordan vermutet, als Kinderspielzeug sehr wohl kannten.
- Maya-Architekten entwarfen Pyramiden und Paläste in vollkommener Geometrie, Maya-Handwerker türmten Bauwerke von 70 Meter Höhe
- aber sie erkannten
nicht die überlegene Tragfähigkeit des Gewölbes und des Rundbogens, die in Europa schon fast ein Jahrtausend zuvor genützt worden war.
So wuchtig und zugleich formvollendet ragen im Maya-Heiligtum Tikal die Tempelpyramiden auf, daß
die Archäologen, als sie die Bau-Wunder erstmals kartographierten, Benennungen der abendländischen Antike entlehnten: "Nördliche Akropolis" nannten sie jenen aus vier turmhohen Riesenpyramiden und nahezu einem Dutzend kleinerer Tempelbauwerke gefügten Kult-Bezirk, der offenkundig das Zentrum des mehr als 17 Quadratkilometer umfassenden Tikal-Areals darstellte.
Größer noch als der Petersplatz in Rom ist die gepflasterte, von reichverzierten Altären und Steinsäulen (Stelen) flankierte "Große Plaza", um welche sich die aus Kalkstein -Quadern aufgeschichteten Maya-Wolkenkratzer in grandiosen Zwillings-, Dreier - und Fünfer-Gruppen ordnen - errichtet zu einer Zeit, da in Mitteleuropa die Pfalz-Baumeister Karls des Großen eben anfingen, den Stein als Baumaterial zu beherrschen.
Auf der Plaza, am Fuße der Zwillingsbauten "Tempel des Großen Jaguar" und "Tempel der Masken", sammelten sich alltäglich, wie die Maya -Forscher mutmaßen, Scharen von Gläubigen, um den religiösen Zeremonien beizuwohnen, die federgeschmückte Priester auf den himmelwärts entrückten Weihe-Plattformen der Pyramiden zelebrierten.
Eingebrannt in die Bodenplatten der erhabenen Tempel fanden die US-Forscher Reste des Maya-Weihrauchs Kopal. Der Rauch des heiligen Harzes stieg nicht zu einem freundlichen Olymp auf. Im Pantheon der Mayas fehlten
Gottheiten der Liebe; die Fruchtbarkeitsbeschwörungen, in späterer Maya -Zeit von grausigen Menschenopfern begleitet, galten einem männlichen Schreckenswesen, das eine Axt führte - dem Regengott und Donnerer, dessen Antlitz der Schnauze eines Tapirs glich,
Erstmals konnten die amerikanischen Wissenschaftler aufgrund der reichen Grabungsfunde rekonstruieren, wer die geheimnisvolle Tempelstadt Tikal einst bewohnt hat. Mindestens 10 000 Menschen, so nehmen die Ausgräber an, lebten zur Blütezeit Tikals in der Tempelresidenz. Beherrscht wurde die Maya-Polis offenbar von einer aristokratischen Priesterkaste - auf keiner der Steintafeln und Fresken sind Bauern oder Handwerker abgebildet.
Offenbar wurden Tikals Tempelherren von dienstwilligen Urwaldbauern versorgt, die von weit her auf Trampelpfaden ihren Zehnten heranschafften - seltsamerweise ist die Tempelstadt, in deren Innern sich ein ganzes Netz von Pflasterwegen fand, durch keine einzige Straße mit der Außenwelt verbunden.
Ungelöst blieb für die amerikanischen Wissenschaftler auch das Rätsel, das seit Beginn der Maya-Forschung die Gelehrten fasziniert und peinigt:
Allmählich, in kaum merklicher Degeneration, verloren die Hochkulturen des Abendlandes und des Orients nach Zeiten der Blüte ihre Kraft. Unvermittelt hingegen, gleichsam von einem Tag zum anderen, erlosch der Glanz der Maya-Metropolen. "Herrschergewalt und Glaubensmacht der Priesterdynastien", so berichten die US-Forscher aus Tikal, "zerbrachen jäh." Wissenschaft und Kunst verfielen, kühn konzipierte Bauwerke blieben unvollendet. Paläste und Tempel verödeten, oft, wie es scheint, innerhalb weniger Wochen oder Monate.
Alles Erdenkliche haben die Maya -Forscher als mögliche Ursachen dieses Zusammenbruchs erwogen, der auf das zehnte Jahrhundert datiert wird: Seuchen oder Hungersnöte, die ganze Stadtvölker dahingerafft, Aufstände, die das Volk seiner Elite beraubt hätten, Naturkatastrophen oder ruinierende Machtkämpfe innerhalb der herrschenden Kaste - aber für keinen dieser möglichen Gründe ließen sich eindeutige Anzeichen entdecken. Auch die Entzifferung der Maya-Hieroglyphen, die womöglich über diese Frage Aufschluß geben könnten, steckt, wie der auf diesem Gebiet am weitesten vorgestoßene Maya -Forscher Cordan jüngst in der Schweizer "Tat" resümierte, noch in den Anfängen.
Fest steht, daß ein rapider Bevölkerungsschwund den Verfall der Maya -Kultur markierte. Gleichsam als Fremdlinge im eigenen Haus wußten die wenigen Überlebenden der Katastrophe das Überkommene nicht länger zu bewahren. In den Palästen Tikals", so notierte Archäologe Coe, "wurde nun auf offenem Feuer Essen gargekocht. Grabräuber plünderten die Totenkammern ihrer einstigen Herrscher. An Freitreppen und in Tempelnischen häuften sich Trümmer und Unrat." Doch auch die Lebensspuren der Maya-Epigonen wurden noch überwuchert - vom Dickicht des tropischen Regenwalds.
Mehrmals waren, teils schon im vorigen Jahrhundert, Forscher-Expeditionen durch das Sumpfdickicht zu den Resten der tausendjährigen Tempelstadt Tikal vorgedrungen - alle Ausgrabungsversuche aber hatten scheitern müssen: Träger und Maultiere vermochten nur unzulängliches Gerät heranzuschaffen.
Erst das technische Aufgebot der Mitte dieses Jahrhunderts erschloß den Archäologen Zugang zur einstigen Metropole des Maya-Reiches. Einziges Transportmittel der Pennsylvania -Archäologen waren Flugzeuge der guatemaltekischen Luftwaffe.
"Tempel des Großen Jaguar" in Tikal: Akropolis im Urwald