MASERN Schützender Schrotschuß
Die meisten Eltern", klagt die amerikanische Gesundheitsbehörde, "glauben noch immer, daß die Krankheit, nicht besonders ernst zu nehmen sei und daß sie einfach dazugehöre, wenn Kinder groß werden - wie schmutzige Finger oder aufgeschlagene Knie." Beide Ansichten indes seien falsch: Masern, die häufigste und ansteckendste Kinderkrankheit, sind nicht harmlos, und sie sind nicht länger unausweichlich.
Erst während der letzten Jahre haben umfängliche britische und amerikanische Studien aufgedeckt, daß bei der fiebrigen Kinderkrankheit, wie jüngst das Fachblatt "British Medical Journal" berichtete, "ernste Komplikationen weit häufiger sind, als allgemein angenommen wird".
Mitunter kann die als gefahrlos verkannte Krankheit sogar zum Tode führen. Allein in der Bundesrepublik starben, wie unlängst der Frankfurter Medizin-Professor Otto Bonin ermittelte, von 1952 bis 1959 alljährlich im Durchschnitt 160 Kinder und Jugendliche an Masern - ebenso viele, wie damals (also noch vor Beginn der Reihen-Impfungen gegen diese Krankheit) an Kinderlähmung (Polio) starben.
Mittlerweile ist durch Schutzimpfungen die Polio nahezu ausgerottet worden (SPIEGEL 7/1964). Und nun haben die Mediziner auch gegen Masern den Kampf aufgenommen. Anfang dieses Jahres erteilte die amerikanische Lebensmittel- und Medikamentenbehörde (Food and Drug Administration) ihr Plazet für einen neuen, wirksamen Impfstoff gegen Masern. Und am vorletzten Wochenende gaben die Behring-Werke in Marburg erstmals bekannt, daß auch in ihren Labors, in Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Virologin Gisela Enders-Ruckle, ein Masern -Impfstoff entwickelt worden sei, der vom nächsten Jahr an westdeutschen Kinderärzten verfügbar sein soll.
Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war der Erreger der ansteckenden Krankheit - ein Virus, ähnlich wie bei Grippe oder Polio - unentdeckt geblieben. Erst im Jahre 1954 gelang es dem amerikanischen Virusforscher und Nobelpreisträger John Franklin Enders, Masern-Viren im Laboratorium zu isolieren und zu züchten.
Seit Ende der fünfziger Jahre wurde durch mehrere großangelegte Studien auch zunehmend deutlich, wie folgenreich die so lange als harmlos erachtete Krankheit sein kann, von der rund 95 Prozent aller Kinder befallen werden. Die Ärzte stellten fest:
▷ Kinder, die Masern durchgemacht haben, sind zwar gegen eine erneute Ansteckung mit dieser Krankheit immun, neigen aber dazu, für andere Krankheiten anfällig zu sein.
▷ Nicht in einem von 1000 (wie bislang angenommen), sondern in einem von 15 Masern-Fällen kommt es zu - teilweise bedrohlichen - Komplikationen, wie etwa Ohren- oder Lungenentzündung; die gefürchteten Gehirn-Komplikationen, bei denen die Ärzte machtlos sind, treten allerdings wesentlich seltener auf (in 0,1 Prozent der Fälle).
▷ Bei fast der Hälfte von 245 im Verlauf einer Studie beobachteten masernkranken Kindern wurde "noch ein Jahr nach der überstandenen Krankheit", wie 1964 das amerikanische Fachblatt "Journal of Pediatrics" berichtete, "ein allgemein schlechterer Gesundheitszustand" festgestellt als bei vergleichbaren Kindern, die noch keine Masern durchgemacht hatten.
▷ Bei etwa 50 Prozent der untersuchten Masern-Kinder beobachteten die Mediziner, daß während der Erkrankung die Hirnstromkurven (EEG) gestört waren. Zwar normalisiert sich das EEG-Bild mit dem Abklingen der Krankheit, doch halten es die Ärzte für denkbar, daß geringfügige Hirnschädigungen zurückbleiben - möglicherweise Ursache für Lernschwierigkeiten und geistige Entwicklungsstörungen.
Je deutlicher sich herausstellte, welche Gefahren die unterschätzte Kinderkrankheit birgt, um so zielstrebiger arbeiteten die Virusforscher an der Entwicklung eines Impfstoffs. Jahrelang züchtete Harvard-Professor Enders den im Labor gewonnenen Masern-Virenstamm weiter - mit dem Ziel, die Viren so weit abzuschwächen, daß sie in Körper des Impflings nur eine ganz leichte, kaum merkliche Form von Masern, aber dennoch genügend Abwehrstoffe (Antikörper) gegen künftige echte Masern-Infektionen erzeugten. Anfang 1962 meldete Nobelpreisträger Enders erste Erfolge.
Zunächst verabreichte der Forscher den Impflingen eine Vakzine aus abgetöteten (inaktivierten) Masern-Viren. Dies war die gefahrloseste Methode; aber der Impfschutz, der dadurch hervorgerufen wurde, war nur äußerst schwach. So wagte Enders, von 1963 an, auch die Impfung mit lebenden Erregern, die freilich - über insgesamt 52 Zuchtgenerationen - in ihrer Wirkung stark-abgeschwächt worden waren. Aber die Impfung mit dieser Lebend-Vakzine blieb nicht ohne unangenehme Nebenwirkungen: Bei etwa 50 Prozent der Impflinge zeigten sich Masernflecken auf der Haut, bei rund 30 Prozent stellte sich Fieber ein.
Ende Januar dieses Jahres nun meldete der amerikanische Chemie-Konzern "Dow Chemical Company", ein neuer Masern-Impfstoff sei einsatzbereit, entwickelt von dem Dow-Forscher Anton J. F. Schwarz. In sechsjähriger Arbeit hatte Schwarz die bereits in 52 Generationen abgeschwächte Enders-Vakzine über weitere 84 Generationen fortgezüchtet. Erfolg: Der neue Schwarz-Impfstoff, in Verbindung mit einem noch weiter mildernden Zusatz-Medikament (Gamma-Globulin) eingespritzt, rief nur mehr bei drei Prozent der geimpften Kinder Fieber und Masernflecken hervor.
Vier Monate nach Schwarz, Anfang Juni, trat nun auch die westdeutsche Pharma-Industrie mit einem eigenen Masern-Impfstoff auf den Plan. Das Behring-Team unter der Leitung von Professor Walter Hennessen hielt sich indes an den zwar nicht ganz so erfolgssicheren, dafür aber gänzlich nebenwirkungsfreien Weg: Der Impfstoff aus Marburg, der schon in mehreren Großversuchsreihen, vor allem in Afrika, erprobt wurde, besteht nicht aus lebenden, sondern aus inaktivierten Masern -Viren. "In Übereinstimmung mit dem Bundesgesundheitsamt", so erläuterte Vorstandsmitglied Dr. Hans von Behring, "haben wir uns für die größere Sicherheit entschieden."
Daß der Marburger Impfstoff nicht, wie das Schwarz-Präparat, nur jedem Kind einmal, sondern in etwa monatlichen Abständen dreimal eingespritzt werden soll, um hinreichenden Impfschutz zu bewirken, halten die Behring -Forscher nicht für einen gravierenden Nachteil. Sie wollen ihre Masern -Vakzine mit einem (schon entwickelten) Mischserum, das ohnehin dreifach verabfolgt werden muß, zu einer Art Impf -Schrotschuß zusammenfügen: Der vorgesehene Fünffach-Impfstoff (Markenname: "Quintovirelon") soll Westdeutschlands Kinder gleichzeitig gegen Masern, Keuchhusten, Kinderlähmung, Diphtherie und Wundstarrkrampf wappnen.