ARCHITEKTUR / HABITAT 67 Wohnliche Würfel
Die Siedlung gleicht einem dalmatinischen Bergnest, dessen graues Mauerwerk, verwinkelt und übereinandergeschachtelt, einen Küstenhang überwuchert hat.
Doch nicht am pittoresken Gestade des Mittelmeers wuchs das Schachteldorf empor, sondern am Ufer des kanadischen St.-Lorenz-Stroms -- auf dem Gelände der Montrealer Weltausstellung "Expo 67". Und nicht Willkür und Zufall würfelten die Häuserquader zusammen: Den scheinbaren Wirrwarr der winkligen Siedlung ordnet der Bauplan des israelisch-kanadischen Architekten Moshe Safdie, 28.
Safdies pyramidenförmig hochgetürmte Wohnsiedlung "Habitat 67" gilt bereits jetzt als "bleibendes Symbol der Expo 67" ("New York Times") -- vergleichbar dem Kristallpalast und dem Eiffelturm der Weltausstellungen von 1851 und 1889. "Habitat", so rühmte die "New York Herald Tribune" das Bauwerk, "bedeutet wohl den ersten wirklichen Sieg der modernen Architekturrevolution."
In der Tat bedeutet das Wohn-Werk des Architekten Safdie, der in Israel geboren wurde und an der Montrealer McGill University studiert hat, eine Abkehr von den Traditionen der Baukunst -- technisch wie ästhetisch.
Seit seinen Studententagen beschäftigt sich der jugendliche Baumeister mit Problemen des modernen Städtebaus im Zeitalter der Bevölkerungsexplosion. "Monat für Monat", so notierte Safdie, müsse in Kanada "eine Stadt für 70 000 Einwohner erbaut werden" -- ein Bedarf, den nur eine radikal neue Architektur und Bautechnik stillen könne.
Mit Habitat 67, seinem ersten Auftragswerk, gab Safdie eine "dramatische Demonstration" ("New York Times") zeitgemäßen Wohnungsbaus. Im Bestreben, "die Herstellungsmethoden der Automobil- und Flugzeugproduktion auf das Bauwesen anzuwenden" (Safdie), konstruierte der Architekt eine Wohnmaschine, die aus standardisierten und vorfabrizierten Fertigteilen zusammengesetzt wird.
Grundelemente des Fertigbaus in Montreal bilden 354 Betonboxen -- Bodenfläche: fünf mal elfeinhalb Meter; Höhe: drei Meter -- mit Fenster- und Türöffnungen. Die 80 Tonnen schweren Kästen wurden in einer eigens konstruierten Fabrikanlage gegossen. Anschließend versah eine Installationsfirma die Boxen mit Isolierungen, Kücheneinrichtungen, Fensterrahmen, Toiletten und Waschbecken. Eine weitere Firma baute in die Fertiggehäuse -gleichfalls vorgeformte -- Kunststoff-Badezimmer ein. Erst dann transportierten Spezialfahrzeuge die Boxen zur Baustelle.
Dort ließ Safdie die Kästen mittels riesenhafter Baukräne zu einer waghalsig anmutenden, gestuften Pyramide aufstapeln. Gleich Legobausteinen wurden die Gehäuse durch Betonbolzen und -pfosten miteinander verfugt. Einige der unregelmäßig versetzten Boxen in dem zwölfstöckigen Bauwerk sind so kühn eingepaßt und aufgehängt, daß sie mit drei Vierteln ihrer Grundfläche ins Freie ragen.
Ein ausgeklügeltes System von Brücken und Treppen sowie zwei halbseitig überdeckte Straßen -- auf der sechsten und zehnten Etage -- verbinden die Habitat-Kästen miteinander und geben dem Wohnhügel zusätzlichen Halt. Als statische Fixpunkte fungieren die drei Aufzugtürme des Kasten-Gebirges, das bei einer Gesamt-Frontlänge von dreihundert Metern in drei Sektionen unterteilt ist.
Die luftigen Stege und Straßen bilden zwei voneinander getrennte Verkehrssysteme: Nirgends kreuzen die beiden sogenannten Versorgungsstraßen für den Fahrzeugbetrieb die Fußgängerwege, die -- über Stufen und Nebenstraßen -- zu den Wohnungen führen.
Am Rande der Fußstege, die teilweise über oder unter den Fahrzeugstraßen verlaufen, liegen Kinderspielplätze und Terrassen-Gärten mit Ruhebänken. Die Versorgungswege münden auf der Rückseite der Pyramide in Parkplätze für Besucher und Habitat-Bewohner.
Zu allen Wohnungen des Stufenbauwerks gehören Terrassen und Dachgärten, die auf den Dächern der tiefer gelegenen Boxen eingerichtet und mit Sträuchern und Rasen bepflanzt wurden. Eine automatische Anlage bewässert und düngt die Gärten, und ein Heizsystem hält einen Teil der Treppen, Brücken und Verbindungsstraßen schnee- und eisfrei.
Aus den 354 Betonboxen konstruierte Habitat-Architekt Safdie 158 Wohneinheiten. Obwohl allen Behausungen die gleichen genormten Bauelemente zugrunde liegen, enthält die Siedlung fünfzehn verschiedene Wohnungstypen -- vom Ein-Zimmer-Appartement bis zur Luxuswohnung mit einer Fläche von etwa 160 Quadratmetern.
Die großen Appartements -- mit bis zu drei Terrassen in verschiedenen Ebenen und Himmelsrichtungen -- gleichen einer zweigeschossigen Villa, in der Wohntrakt und Schlaf räume durch Innentreppen miteinander verbunden sind. Außer kompletten Kücheneinrichtungen enthalten die meisten Wohnungen Einbauschränke und in die Wände versenkte Leuchtkörper -- und alle sind der Sonne zugewandt.
Das ganze Jahr hindurch versorgt zudem eine Klima-Anlage jede Wohnbox mit Frischluft. Gebläse, die in Hohlräume unter dem Fußboden eingebaut wurden und mit kaltem oder warmem Wasser gespeist werden, pressen durch feine Schlitze im Boden feuchte Luft in die Räume.
Habitat 67, so erklärte Safdie, sei der Versuch, dem modernen Städtebau neue "Maßstäbe zu setzen". In der Tat könnte das Schachtel-Bauprinzip ein Doppelübel heilen helfen, das nahezu alle Großstädte bedrängt: Während im Weichbild trostlose Wohnblocks entstehen, wuchern am Stadtrand formlose Eigenheimkolonien.
Habitat dagegen verbindet die Vorzüge flächensparender Hoch-Bauweise mit den Annehmlichkeiten eines Einzelwohnhauses -- und vermeidet zugleich die Nachteile beider Siedlungsformen: Obgleich die Wohnungen gedrängt beisammenliegen, können sie von Anwohnern nicht eingesehen werden, und das Fehlen gemeinsamer Wände schützt gegen nachbarlichen Lärm.
Vorerst freilich haftet Safdies mausgrauen Wohnwürfeln ein entscheidendes Manko an: Sie sind zu teuer. Trotz rationeller Serienfertigung verschlang der Habitat-Bau rund 50 Millionen Mark. Durchschnittliche Kosten pro Wohneinheil: 320 000 Mark. Gegenwärtig beträgt der Mietpreis für ein Habitat-Appartement etwa 2500 Mark; nach Beendigung der Expo allerdings sollen die Mieten gesenkt werden.
Ein Teil der Bausumme wäre eingespart worden, wenn Moshe Safdie sein Bauwerk zwei Jahre später errichtet hätte. Aber der drängende Expo-Eröffnungstermin zwang ihn, Habitat ohne ausreichende Vorbereitungszeit in knapp elf Monaten zu erbauen -- zu rasch, so daß kostspielige Irrtümer und Fehlberechnungen nicht vermeidbar waren. Die Hälfte der Pannen, so entschuldigte sich Safdie, konnte nicht vorausgesehen werden. selbst wenn Leonardo da Vinci es gemacht hätte.
Zudem könnten die Kosten für eine Habitat-Wohnung erheblich gesenkt werden, wenn die Siedlung -- wie ursprünglich geplant -- statt 158 rund tausend Appartements umfassen würde. Denn erst bei solch hoher Auflage. so schätzt Safdie, beginnt die Serienfertigung rentabel zu werden. Allein für das Montreal-Projekt wurden zuvor Produktionsanlagen im Wert von etwa zwanzig Millionen Mark errichtet.
Eine Würfel-Pyramide aus tausend Wohnungen, sechsmal so groß wie Habitat 67, würde rund 120 Millionen Mark kosten -- knapp zweieinhalbmal soviel wie Safdies teure Prototyp-Siedlung.
Wunschtraum des Bau -- Revolutionärs freilich ist es, aus seinen Fließband-Boxen eine ganze Stadt zu bauen -- mit Schulen und Kirchen, Büros, Parks und Ladenstraßen.
Befürchtungen der Kritiker, die Stadt aus genormten Bauklötzen werde zu monoton wirken, beirren den Baumeister nicht. Safdie: "Ich denke, es wird bunt genug aussehen, wenn erst Leute darin leben."