Ludwig Marcuse über Southern/Hoffenberg: „Candy“ DIE PARSIFALSCHE LIBIDO
Sie heißt Candy und ist, in unseren Sechzigern, eine der prominentesten jungen Damen der Sex-Literatur. In Amerika sind viele hunderttausend abgesetzt (oder eingesetzt) worden. Die anderen Atommächte zögern; aber nicht die weniger Mächtigen, die sich deshalb mehr leisten können: Japan, Italien, Schweden, Holland, Dänemark. Jetzt ist Deutschland an der Reihe. Herzlich willkommen!
Um sie im Reich der Dichter, Denker und Engagierten gebührend vorzustellen, muß sofort erwähnt werden: Alte asiatische Weisheit wird hier zitiert, Plato wird genannt, Aristoteles, Mallarmé. Dada, "La Belle et la Bete"; außerdem gibt es für die mehr wissenschaftlich Interessierten "Erogene Zonen", auch das "Id" und das "Ego" (ein Index fehlt). On top of it ist Candy auch noch eine Engagierte, wenn auch nicht gerade intolerant. Jedenfalls ist ihr An-Liegen nicht ihr einziges Anliegen.
So vereint dies college girl aus Mittelwest die Liebe zum Menschen. die Liebe zur Liebe und die Liebe zur Bildung, weshalb sie mit einem ihrer Professoren beginnt und mit einem heiligen Weisen aus Kalkutta endet (falls nicht eines Tages Band II folgt).
Autoren und Kommentatoren taten noch ein übriges, um diese Geschichte ins Geistige zu heben. Am Anfang steht ein Voltaire-Zitat, der exzellente Kritiker Dwight Macdonald rückte "Candy" in die Nähe von Byrons "Don Juan"; und der sehr gründliche, gebildete Martin Esslin fand, in antiamerikanischer Zeit, hier ein Manifest gegen die heutige amerikanische Gesellschaft und außerdem noch eine "Parodie auf einen pornographischen Roman".
Ich war dreiundzwanzig Jahre in den Staaten, habe aber nie (wie Esslin) diese Tante Livia mit ihren eindeutigen Zweideutigkeiten dort getroffen; hingegen unzählige Onkel Liviusse in aller Welt. Dies ist ein "zutiefst moralisches Buch", heißt es in Esslins Nachwort. Vor allem das "zutiefst" wird die Deutschen sehr beruhigen. Aber auch die Germanen? Zuviel Verteidigung schwächt den Verteidiger. Soviel Plädoyer wird auch in Deutschland nicht mehr nötig sein, wenn es dem großen Vorbild des kleinen Dänemark folgt: keine Anklagen mehr gegen Obszön.
Dann bat man diese Art Literatur nicht mehr anzuprangern und nicht mehr zu rechtfertigen. Es gibt nicht mehr Prüde und nicht mehr Aufklärei. Die Prüden liegen unter der Erde. Schlüpfer und Büstenhalter kann man im Fernsehen mit zugehörigem Fleisch täglich genießen. Das Erröten aus den Jahrzehnten der Viktoria wurde institutionalisiert; die Bürochefs mehr oder minder heiliger Organisationen nehmen stellvertretend Anstoß. Die Gemeinde braucht gar nicht mehr zu lesen, nur noch Skandal zu machen.
Auch die Aufklärer hoben ihre Funktion verloren. Korporationen kann man nicht aufklären; alles, was man noch kann, ist: Staatsanwälte, die nicht Literaturgeschichte studiert haben, mit einem "künstlerisch wertvoll" ins Bockshorn jagen. Wie der Teufel vor dem Kreuz retiriert so ein Ankläger vor dem "künstlerisch" oder gar "wissenschaftlich". Leider haben die Liberalen ein Jahrhundert lang nie versucht, den Ankläger zum Lachen zu bringen, gar zum Genuß.
Die bildungsbeflissene, genießende, gütige Candy ist bisweilen etwas repetetiv. Ich glaube ihr dies Mitleid für die Männer in Sexual-Not, ihr "O du mein armer Engel", "O wie du meine Wärme brauchst, mein Baby" nur kommt es zu oft. Viele denken an die Courths-Mahler, die auch ein Herz für die Armen hatte; und schon damals war die parsifalsche Libido realistisch. Nur wurde einst dies verliebte Mitleid über zwei Meter Entfernung gehaucht; in unseren Tagen aber in Positionen, die nicht einmal das Kamasutra registriert hat: Einerseits dringt ein heiliger, von Dreck strotzender Inder ein, andererseits die Nasenspitze einer niedergestürzten Buddha-Büste.
Ihr Parsifalsches zeigt Candy am überzeugendsten in der Szene mit dem Krüppel: An ihm will sie wiedergutmachen, was alle Beleidigten und Beladenen gelitten haben. So versucht sie, den am meisten Gekränkten, den Buckel, zum Hauptakteur avancieren zu lassen. Das ist nicht die "Parodie auf einen pornographischen Roman"; das ist pointierter Realismus, grotesk.
Die Autoren Southern und Hoffenberg haben die Kommentatoren angeregt, "Candy" mit "Candide" in Beziehung zu bringen. Welch vornehme Verwandtschaft! Nur gibt es viel naive Abenteurer auf der Welt; im Entscheidenden haben die beiden nichts miteinander zu tun. "Candide" war vor Hegel eine Satire auf ihn und die Seinen; schließlich aber zieht sich der global Hoffnungsvolle auf einen winzigen Teil des Erdballs zurück, um hier was zu leisten. Candy hingegen bleibt "Klein-Candy". Sie lernt nichts zu. Sie lebt eine sexuelle Utopie, wie sie nicht (nach Esslin) von Amerikanern, sondern von Deutschen in Amerika aufgebaut worden ist.
Es wird sich einbürgern, dies Buch als "Satire" zu verkünden. Gelegentlich versuchen sich die Autoren wirklich, wenn auch recht unglücklich, in dieser Gattung: wenn der Vater im Zimmer seiner Tochter einen nackten Mann trifft und Papa nichts Stärkeres einfällt als: "Du... du... du KOMMUNIST." Bißchen antiquiert!
Dies Buch ist vielmehr eine Groteske: eine durch Verzerrung erst merkbar gemachte Wirklichkeit. Vielleicht werden viele Leser am meisten über den Psychiater und sein Buch "Onaniere jetzt!" (im Original: "Masturbation now") lachen. Einen Partner läßt dieser Forscher nur als Verstärker des Monologs zu. Unter diesen Szenen liegt eine mächtige, nicht geschriebene Literatur. Hier dürfte man von Aufklärung reden.
Wäre dies Buch gesellschaftskritisch oder völkerpsychologisch oder gar eine "Parodie auf die Sex-Literatur" (neuerdings liebt man es, Pornographie anzuklagen, um sie zu wagen), so hätte es nicht in die Sprache des deutschen Barock übersetzt werden dürfen, in die Wortschätzchen der Hofmann von Hofmannswaldau, Daniel Casper von Lohenstein, Christian F. Hunold ... Sie haben das deutsche "Candy"-Vokabular geprägt: "Das goldene Vließ", "Das Gewürzbüchschen", "Die Zuckerdose", "ihr süßes geöffnetes Erdbeermäulchen". Four letter words tauchen nur selten auf; sie gehören nicht zu Candy.
Ist dies süße Schulmädel ein Symptom? Ist eine Mode passé? Wird die harte Welle abgelöst von einer weichen? Beliebt waren zuletzt die Pärchen, die, während sie dabei waren, wacker aufeinander eindroschen. Candy drischt nicht, sie labt.
Und nun die Gretchen-Frage. Ist dies Buch "wertvoll": künstlerisch? gesellschaftskritisch? völkerpsychologisch? Oder ist es ttt Pornographie?
Daß man doch dies Wort neutralisierte -- und unterscheide zwischen sehr anspruchsvoller, pubertärer, altherrenabendlicher usw. usw. Pornographie! In jedem Fall ist auch sie eine Sublimierung. Der sehr verehrte Freud hat vielleicht nicht gesehen, daß alles Geschriebene, Gemalte, Gelesene (gut oder schlecht) die Aktivität der Triebe ablenkt.
Die Reflexion auf die Sex-Literatur braucht neue Kategorien; etwa: aufregend (wie einige Seiten Henry Millers), derb (wie nicht wenige Sentenzen Luthers), langweilig (wie Goethes Arcana), amüsant (wie vieles zwischen Petronius und dem "Hundertdollar Mißverständnis"). "Künstlerisch wertvoll" ist aber schon deshalb problematisch, weil Kunst sowohl dämpfen als auch stacheln kann.
Ein amerikanischer Kritiker meinte, "Candy" sei ein "shot in the arm". Die Fragen sollten jetzt lauten: Für wen? Für wen nicht? Für wen hier und da? Die Deutschen lieben zu spekulieren statt zu investigieren (daher auch die Verachtung für Kinsey). Sollte "Candy" ein deutscher Bestseller werden, so lohnte sich eine Doktorarbeit: Wie viele haben das Buch (nicht gekauft, sondern) gelesen? Wie viele mit geheimem Vergnügen? (Definieren Sie diese Reaktion!) Und wie viele Ordnungshüter haben sich einen Chor engagiert, der nach Ordnung schreit?
Es wäre schon gut, wenn statt "Schmutz" und "moralisch wertvoll" einmal andere Prädikate ins Feuer geführt würden. Noch besser wäre, wo es schon allenthalben brennt: dies Feuerchen erstickte -- wie in Dänemark.