DEBATTE Der seufzende Kleinbürger
Es war wieder einer dieser Tage, an denen man stolz sein muss auf dieses Land. Es regnete nicht, die Sonne blinzelte gelegentlich durch das Glasdach der DZ Bank am Brandenburger Tor, über 500 festlich gekleidete Gäste lauschten den Reden der Sängerin, des Regisseurs und der Ministerin; Bürger aus Wiesbaden, Ahrensburg und Lingen bekamen Lob und Geld, das Damenorchester Salomé swingte, es gab Sekt und Schnittchen, es war ein Tag, an dem jeder im mächtigen Forum der Bank spürte, was dieses Land groß und stark macht.
Der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken hatte geladen, um die vorbildlichsten Bürger der Nation zu ehren, jene Bürgerstiftungen auszuzeichnen, die mit Einfallsreichtum und Ausdauer "die Gesellschaft im Kleinen verändern", die Geld sammeln, um Projekte in Kommunen, an Schulen oder in der Kultur zu initiieren. Ein guter Zweck, eine humane Bank, eine schöne Idee, ein gepflegtes Fest, eine emanzipierte Kapelle, ein mutiges Bauwerk und dann noch ein deutscher Weltbürger und Oscar-Preisträger als Laudator, der vom Bürgersinn der Deutschen schwärmte - was für ein schöner Tag, was für ein schönes Land.
Der Regisseur Volker Schlöndorff erzählte, während er lobte, von seiner Heimatstadt Wiesbaden und seiner schweren Kindheit in den fünfziger Jahren, von einem miefigen Klima in seiner Stadt, von Ängstlichkeit und Gedankenstarre, von Regeln und Enge, von amerikanischen Besatzern, amerikanischer Musik und amerikanischen Filmen, die in ihm die Sehnsucht weckten nach einem freien Leben; und er sprach von einem modernen Wiesbaden, das zwar immer noch ohne Universität sei, aber nun eine offene Stadt sei und eine aktive Bürgerschaft habe, die das gesellschaftliche Klima so lüfte, wie es damals die GIs getan hätten; und er pries den Preisträger, die "Wiesbaden Stiftung", eine von 21 Bürgern gegründete Initiative, die soziale und kulturelle Projekte finanziell ausstattet und beispielsweise Schul-Oscars vergibt für erfolgreiche Teams von Hauptschulen und Gymnasien.
Weil Schlöndorff die Welt kennt und das Leben, vergaß er nicht die Festgäste darüber aufzuklären, dass seine Laudatio auf die Entwicklung der Bürgerlichkeit in Wiesbaden und der Republik natürlich das sei, was man in seinem Gewerbe eine "Kinolüge" nenne: Um eine schöne Geschichte erzählen zu können, habe er übertrieben - in den Fünfzigern sei es nicht ganz so fürchterlich gewesen und heutzutage natürlich auch nicht ganz so toll.
Die neue Bürgerlichkeit ist eine hübsche kleine Kinolüge, und da sie vor allem in den Kulturteilen der Zeitungen zu besichtigen ist, könnte man sie besser Feuilletonlüge nennen, aber "Lüge" ist auch schon wieder eine Lüge, denn natürlich gibt es etwas in dieser Republik, das anders ist als vor ein paar Jahren.
Und wer immer das lobte - die Sängerin Katja Ebstein, die Ministerin Heidemarie Wieczoreck-Zeul oder der Regisseur Schlöndorff -, der betonte, dass im Land der Stifter und Schenker die Bürger nicht den Rückzug des Staates finanzieren sollten; jeder sprach letztlich darüber, ob der Staat für den Bürger da sei oder der Bürger für den Staat. Da der Staat immer weniger für den Bürger da ist, lauerte unter der Festtagsfreude über den wachsenden Bürgersinn die klammheimliche Furcht vor dem schrumpfenden Bürgerstaat.
Es ist dieselbe bürgerliche Angst, wenn auch nicht die Angst derselben Bürger, die das deutsche Volk schrumpfen sieht, die den Untergang der Familie beklagt, den Verfall des Glaubens und natürlich die Verdrängung der Vaterlandsliebe.
Mancher hatte gehofft, eine bürgerliche Regierung werde neue Antworten finden auf diese Ängste, doch seit die Wähler eine Große Koalition in die Verantwortung schickten, artikuliert sich diese Hoffnung vornehmlich im bürgerlichen Feuilleton. Die Debatten über neue Bürgerlichkeit, neuen Familiensinn und neuen Patriotismus appellieren an die Deutschen, ihr Land zu verteidigen gegen die Zumutungen der Globalisierung und den Werteverfall - wenn man nun eine Regierung hat, die nicht so kann, wie sie eigentlich müsste.
Aber, seien wir keine Kinolügner, es ist natürlich vor allem eine neue Kleinbürgerlichkeit, die sich da sorgt und regt. Der "Bürger" ist im 21. Jahrhundert ein Gespenst, er bildete ursprünglich (im 19. Jahrhundert) die Klasse der Besitzer der Produktionsmittel, als Unternehmer war er der Motor der Industrialisierung und der Entfaltung der Marktwirtschaft. Wenn der Einzelne seinen Vorteil sucht, dann wird der Markt dafür sorgen, dass es zum Vorteil aller ist, so dachte der Bürger, und deshalb wuchs unter den Bürgern das Bewusstsein, dass Selbständigkeit, Individualität und Eigenverantwortlichkeit nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich nützliche Tugenden seien. Sein beruhigender Besitz begründete die Kraft seiner Werte, und die Abwesenheit von eigener sozialer Angst schuf die großzügige wie praktische Einsicht, dass eine Gesellschaft besser funktioniert, wenn die Besitzenden das Gemeinwesen so ausstatten, dass auch die Besitzlosen angemessen und deshalb friedfertig leben können.
Das Wertesystem dieser Bourgeoisie war eine Mischung aus Eigensinn und Gemeinsinn, und es diente (natürlich) der Reproduktion der eigenen Klasse: Viele Kinder zu haben war wichtig, um das eigene Geschäft weiterzuführen und ausbauen zu können; gute Bildung war nötig, um das Unternehmen in qualifizierte Hände geben zu können; Zuverlässigkeit, Ordnung und Strebsamkeit waren lebensnotwendig, um im Wettbewerb bestehen zu können.
Das Gesellschaftsideal dieser Bourgeoisie war dem Marktmodell nachempfunden: eine sich selbst steuernde Gesellschaft freier, öffentlich diskutierender und vernünftig entscheidender Staatsbürger, die den Staat nur brauchen, um die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Abwehr äußerer Feinde zu gewährleisten.
So weit das Ideal oder, wie Schlöndorff sagen würde, die Kinolüge. In Wahrheit setzte der Markt dem Bürger zu, er machte ihn souverän, aber auch arm, er machte wenige sehr reich und stieß viele ins Kleinbürgertum, er ließ im Lauf des Jahrhunderts die Bourgeoisie schrumpfen. Neben dem industriellen Wirtschaftsbürgertum und dem kaufmännischen Stadtbürgertum etablierte sich das Bildungsbürgertum, das noch den Bildungsanspruch hatte, aber schon keinen Besitz mehr.
Gesellschaftlich wurde das Freiheits- und Solidaritätsversprechen der bürgerlichen Klasse immer wieder gebrochen, weil das freie Spiel der Kräfte zu Unfreiheit und Ungleichheit strebte; und politisch enttäuschte das Bürgertum immer wieder die Hoffnung, in Krisenzeiten könne es der Gesellschaft Halt und Orientierung geben. Besonders in Deutschland versagten die bürgerlichen Kräfte, demontierten sich selbst in der Weimarer Republik und lieferten das Land den Nazis aus, fanden nach dem Krieg nicht die Kraft zur entschlossenen Entnazifizierung und waren in der Bundesrepublik als Klasse gesellschaftlich im Hintergrund, wenn auch ökonomisch wieder stark.
Bürgerliche Werte, bürgerliche Bildung, bürgerliche Kultur wurden das Leitbild der Nachkriegsdeutschen, aber der soziale Träger dieser Leitkultur war das Kleinbürgertum, jene geheimnisvolle gesellschaftliche Kraft, die auch Mittelschicht genannt wird und zu der sich Gewerbetreibende, Selbständige, Handwerker, Manager, höhere und mittlere Angestellte, Beamte, Intellektuelle, Künstler zählen. Ursprünglich war das Kleinbürgertum jene schmale Klasse zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der Karl Marx den Untergang prophezeit hatte, sie werde zerrieben zwischen den beiden Hauptklassen; aber es kam alles ganz anders, sie wuchs unaufhaltsam und wurde zur meinungsführenden Klasse, besonders in Deutschland.
"Nivellierende Mittelstandsgesellschaft" nannten Soziologen diese deutsche Herrschaft des Kleinbürgertums, und die Mehr-heit der Deutschen (über 70 Prozent) sah sich in der Mittelschicht,
Ökonomische Grundlage dieser Selbsteinordnung war der langanhaltende Wohlstandszuwachs der Nachkriegsjahrzehnte. Das Bewusstsein der Bourgeoisie war geprägt vom Besitz an Produktionsmitteln, dem Kleinbürger diente der langanschwellende Besitz an Konsumtionsmitteln als Bestätigung seines sozialen Aufstiegs.
Bürgerlich zu leben hieß: ein Häuschen zu haben und ein Auto, ins Ausland zu reisen, sich gut zu kleiden, und diese Leitkultur der Mitte strahlte bis in die Unterschichten.
Die politischen Parteien wetteiferten mit Programmen ("Wohlstand für alle"), die den Wohlfahrtsstaat zu einem Instrument der sozialen Absicherung der Mittelschichten machten und die mit Bildungsreformen den Aufstieg von unten nach oben erleichterten.
In den sechziger und siebziger Jahren war die Kleinbürgerrepublik auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung, zumal der Deutsche sich auch vom Untertan zum Staatsbürger entfaltete, in die Parteien strebte, auf die Straße ging, zum Citoyen wurde, der sich beteiligte am Gemeinwesen, der Bürgerinitiativen gründete und mehr Demokratie wagte. "Wir sind alle Bürger dieser Bundesrepublik", schmetterte damals der Sozialdemokrat Herbert Wehner den Bürgerlichen entgegen, die immer noch glaubten, sie seien eine kleine Oberschicht, "die müssen schon einen besonderen Begriff von Bürgerlichkeit konstruieren, um uns auszuschließen". Und Helmut Schmidt sprach von sich - im Kanzleramt angekommen - als "leitendem Angestellten der Bundesrepublik", schöner konnte man die Macht im Mittelschichtenparadies nicht definieren.
Die Kinolüge von der klassenlosen Kleinbürgerrepublik fing allerdings an zu verblassen, seit das Wirtschaftswachstum zurückging, sich die Einkommensschere zwischen oben und unten wieder mehr öffnete und die bürgerlich konsumierenden Mittel- und Unterschichten vom Lebensziel des chronischen Aufstiegs abfielen. Das bürgerliche Leben und die bürgerlichen Werte verloren in diesen Kreisen an Anziehungskraft, zudem gewann die antibürgerliche Haltung vieler Bürgerkinder an Reiz.
In den achtziger und neunziger Jahren nahm die sozialökonomische Differenzierung in Deutschland - beschleunigt durch die Wiedervereinigung - so zu, dass konservative Soziologen wie Paul Nolte von einer "neuen Polarisierung zwischen Arm und Reich" sprachen, von einer "neuen Klassenbildung" und davon, dass "Klassenunterschiede unserer Gesellschaft fundamental und vielfältig prägen - vom Schulbesuch bis zur Gesundheitsvorsorge, vom Einkommen bis zur politischen Macht".
Die Einkommen sind auch im unteren Drittel der Gesellschaft real gesunken, die hohe Arbeitslosigkeit lässt immer mehr Arbeiter ins Lumpenproletariat unterhalb der Gesellschaft rutschen, aber auch die Mittelschichten spüren den Sog nach unten. Von 1992 bis 2004, ermittelte das Forschungsinstitut Zuma, sank die Zahl der Westdeutschen, die sich selbst zur Mittelschicht zählen, von 60,2 Prozent auf 53,5 Prozent (im Osten von 42 Prozent auf 39,4), gleichzeitig stieg die Zahl der Unterschichtsdeutschen von 27,8 Prozent auf 37 Prozent (im Osten von 55,3 Prozent auf 57,5). Wer sich selbst auf dem Weg nach unten sieht und glaubt, der Weg nach oben sei für immer verbaut, der denkt, lebt, konsumiert, erzieht anders. Wer glaubt, dem Sog nach unten widerstehen zu können, der wird sich abgrenzen, der wird anders denken, leben, konsumieren und erziehen. Und so kommt es, dass die einen aufhören, sich bürgerlich zu verkleiden und zu geben, während die anderen vor lauter Bürgerlichkeit platzen und es gar nicht dick genug vor sich her tragen können. So kommt es, dass die einen sich proletarisieren und dem Middle-Class-Trash hingeben (die Dieter-Bohlen-Fraktion), die anderen von Manieren, Werten, Glauben und Gemeinsinn schwärmen (die Peter-Hahne-Fraktion).
Am tiefen Riss im deutschen Kleinbürgertum drängeln sich die Kulturkritiker, Milieuforscher und Gesellschaftsanalytiker, sie befragen und durchleuchten die über 50 Millionen Deutschen der Mitte und versuchen sie zu kategorisieren. Klar ist: Der Oberschicht und oberen Mittelschicht der Republik lässt sich ein Fünftel des Volkes zuordnen, der Unterschicht ein Viertel.
Allein fünf verschiedene Milieus sehen die Forscher in den mittleren Mittelschichten: das traditionelle kleinbürgerliche Milieu, das aufstiegsorientierte kleinbürgerliche Milieu, das familiär ausgerichtete kleinbürgerliche Milieu, das moderne Arbeitermilieu und das hedonistische Milieu.
Quer durch diese fünf Milieus zieht sich die Angst, nach unten abzurutschen, in das "traditionslose Arbeitermilieu" und das "konsummaterialistische Milieu", das so genannt wird, weil sich dessen Angehörige durch demonstrativen Konsum im Unterschichtsdasein eingerichtet haben. Die Furcht in der Mittelschicht, arbeitslos zu werden, hat sich in den letzten 16 Jahren mehr als verdreifacht, auch in den oberen Mittelschichten, ermittelten die Sozialforscher des Wohlfahrtssurvey. Der Kleinbürger ist von Natur aus ein sehr ängstlicher Mensch, ihm fehlt - im Gegensatz zum Bürger - die Sicherheit des verlässlichen Besitzes, ihm fehlt - im Unterschied zum Proletariat - der Schutz der Solidarität. Hans Magnus Enzensberger hat in den siebziger Jahren den deutschen Kleinbürger massenpsychologisch als schwankendes Wesen beschrieben, das überall ist und doch nirgends, das kulturell dominiert, aber unsichtbar ist, das den Spießer als Abziehbild und den Bohemien als Zwillingsbruder erfunden hat, das sich für den Bürger hält und nie für den Arbeiter, das schreckhaft ist und nervös und leicht zu haben für Katastrophenphantasien.
Das schrieb Enzensberger, als Deutschland dem Kleinbürger zu Füßen lag, im Westen wie im Osten, und nun, seit dem Kleinbürger wirklich Gefahr droht, ist die Sehnsucht nach Angst in Panik umgeschlagen. Der weltweite islamistische Terror setzt ihm zu, die Globalisierung, die billige Konkurrenz, der Strom der Migranten; vor allem aber setzt ihm der Staat zu, sein Staat, der immer eine Einrichtung zur Absicherung der Mittelschicht war, dieser Staat hat begonnen, sich zum ersten Mal in der Geschichte der
In Deutschland, von der Mitte aus betrachtet, herrschen nun oben die Heuschrecken und unten die Sozialschmarotzer, der Kleinbürger sieht oben und unten Gefahren, er sieht die ganze Gesellschaft als Feind. Er ist für grundsätzliche Reformen, spricht sich im Umfragen zu 70 Prozent dafür aus, um in der nächsten Umfrage mit 70 Prozent gegen Reformen zu entscheiden, die seine soziale Sicherheit ein bisschen reduzieren.
Einst war "der Traum vom kleinbürgerlichen Glück" (Udo Di Fabio) der Motor des Wirtschaftswunders und des deutschen Aufstiegs, nun ist die Angst des Kleinbürgertums der lähmende Brei der Republik, viele der über 1900 Lobbyistenverbände arbeiten zum Wohle des Kleinbürgertums daran, es zu schützen vor Zumutungen und Unbill.
Vor lauter Angst setzen die Mittelschichten kaum noch Kinder in die Welt, die Mitte der Gesellschaft reproduziert sich nicht mehr, oben und unten wird gezeugt und geboren, in der Mitte wird verhütet und abgetrieben. Der Verzicht auf Kinder ermöglicht dem Kleinbürger, bürgerlich wohnen und bürgerlich konsumieren zu können.
Dagegen ist nichts zu sagen: Er folgt der wirtschaftlichen Vernunft, er verhält sich am Markt der Lebensentwürfe logisch, ganz im Sinne von Adam Smith, ganz rational. Und er lebt selbstbestimmt und souverän, ganz im Sinne des bürgerlichen Liberalismus, unbedrängt von Bevormundung, er wird nach seiner Fasson glücklich. Das freie Leben ist das Ziel jeder bürgerlichen Gesellschaft, das haben die Westdeutschen nach 1945 wieder lernen müssen und die Ostdeutschen nach 1989; nicht unwürdig zu leben und nicht untertan, darum ging es 1968, und diese neue Freiheit und die Pille haben viele Frauen und Männer aus den Mittelschichten genutzt, um kinderlos zu leben oder mit nur einem Kind. Diese Kleinbürger - vor allem Kleinbürgerinnen - müssen sich von Kleinbürgern wie Udo Di Fabio vorwerfen lassen, nicht wahrhaft bürgerlich zu leben, denn der Kern, der Sinn und das Ziel des bürgerlichen Lebens sei die Familie, die kinderreiche selbstverständlich. Ein Kleinbürger wie aus dem Otto-Katalog, dieser Familienvater; ein vorbildlicher deutscher Kleinbürger, und das soll nicht diffamierend klingen. Arbeiterkind aus Duisburg, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, Beamter in Dinslaken, Student der Rechtswissenschaften und der Soziologie, Bundesverfassungsrichter, verheiratet, erstes Kind mit 41, vierfacher Vater. Respekt! "Im Alltagsleben einer Familie", schreibt er, sei sein Buch "Die Kultur der Freiheit" entstanden, es wurde zum Katechismus des kleinbürgerlichen Kosmos, in dem die Denkfiguren all der neubürgerlichen Propheten zu besichtigen sind.
Jeder Kleinbürger liebt es, erstens, das, was ihm widerfährt, zu vergesellschaften; was er durchlebt und durchdenkt, ist ein Modell für alle.
Er sagt, zweitens, gern "Wir Deutsche", weil seine Klasse für alle Klassen spricht. Die Oberschicht weiß, dass unter ihr noch andere sind, die Unterschicht weiß, dass über ihr noch andere sind, der Kleinbürger hält sich für den Menschen schlechthin.
Er will, drittens, die Mitmenschen von "Werten" überzeugen, im Besonderen von "christlichen Werten", in jedem Fall von seinen Werten.
Weil er, viertens, davon überzeugt ist, der Staat solle nicht nur den Staatsbürger vor den Staatsbürgern schützen, sondern auch vor sich selbst, glaubt er an den Staat als moralische Erziehungsanstalt der Nation.
Er gibt, fünftens, immer Alarm. Die Deutschen sterben aus, die Singles unterwandern die Gesellschaft, die Mafia ist überall, die Schulen verrotten. Die oben wissen, dass die Aktienkurse wieder steigen, wenn sie fallen; die unten wissen, dass ihr Verein wieder aufsteigt, wenn er absteigt; für die in der Mitte ist immer Weltuntergang.
Er glaubt, sechstens, dass das Bewusstsein das Bewusstsein bestimmt, darum appelliert er, beschwört er, trommelt er; die oben und unten wissen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, und vertrauen auf die Überzeugungskraft der Dinge, die unten setzen auf die Propaganda der Tat, die oben auf die Botschaft des Geldes.
Der Bürger Ralf Dahrendorf hat dem Missionseifer des Kleinbürgers entgegengehalten, "man führt heute nicht so einfach Werte ein, weil die gestern einmal ihre Berechtigung hatten", und sich so gegen Hoffnungen gewandt, in Zeiten der Globalisierung könne das Beschwören bürgerlicher Traditionen Sicherheit und Orientierung geben.
Wer Kindersegen, Familienglück und Gottvertrauen herbeisehnt und herbeischreibt, muss - wenn er kein Heuchler sein will - sich und anderen klarmachen, warum die Geburtenrate tatsächlich gesunken ist, warum die (klein)bürgerliche Familie in den Sechzigern in die Krise geriet und warum die Kirchen immer leerer werden. Und wem die Deutschen nicht stolz genug sind, dem sollte mehr einfallen als der Appell, nun mal ganz entspannt das Land gern zu haben.
Wir schreibenden Kleinbürger - egal, ob wir dem "liberal-intellektuellen Milieu" angehören oder uns dem traditionellen, dem aufstiegsorientierten, dem familiären oder dem hedonistischen Milieu zuordnen - neigen dazu, auf der Suche nach Antworten die "neue Bescheidenheit" zu entdecken, den neuen Luxus, die neue Bürgerlichkeit, die neue Unübersichtlichkeit, den neuen Patriotismus, irgendetwas, was uns als moralische Hipster ausweist.
"Stets auf der Flucht vor dem Veralteten", hat Enzensberger erkannt, "hastet er hinter sich selbst her." Die Flucht vor dem Patriotismus der chauvinistischen Art treibt uns zum unschuldigen Fähnchenschwenken und zu der harmlosen Frage, warum wir uns über unser Land nicht so freuen dürfen wie die anderen.
Wir dürfen schon, aber - nun ist Schluss mit "uns" - die einen wollen, die anderen wollen nicht. Ich will, andere wollen nicht, ich habe nichts dabei gefunden, 1990 nach dem WM-Endsieg in Rom laut hupend die Hamburger Mönckebergstraße rauf- und runterzufahren.
Wem in Wiesbaden oder anderswo im Nachkriegsdeutschland danach war, stolz zu sein auf sein Land, der lobte das Wirtschaftswunder, die Mark, die Qualität deutscher Wertarbeit.
"Nation" war nach dem Krieg für die Bundesdeutschen nicht mehr Kulturnation und Schicksalsgemeinschaft, sondern Arbeitsgemeinschaft und Sozialversicherung. Die Nation als Versorgungseinrichtung, als Garant für Arbeit und Brot, als Arbeitsamt und Rentenbehörde - das wurde zum Kern des Wohlstandspatriotismus.
Der Traum vom unendlichen kleinbürgerlichen Aufstieg, the German dream, das ist die Idee und die Identität der Bundesdeutschen, und seit die Wiedervereinigung diesen Traum zerplatzen ließ, tun sie sich noch schwerer mit Nationaljubel. 74 Prozent der Deutschen sagen, vor der Einheit sei es ihnen besser ergangen; in keinem anderen europäischen Land blicken die Bürger düsterer in die Zukunft. Sogar unter den Jüngeren, unter den 16- bis 25-Jährigen, geben nur 44 Prozent an, stolz auf ihr Land zu sein.
Wem es gutgeht, der findet das Land toll, wem es nicht so gut geht, der findet's nicht so toll, leider ist es so simpel. Und darum rennt der, der mit stolzgeschwellter Brust durchs Land stürmt, Türen ein, die so offen sind wie das Brandenburger Tor.
"Man hat es oder hat es nicht", hat Martin Walser Kritikern geantwortet, die ihm Anfang der neunziger Jahre sein Nationalgefühl vorhielten, und darum laufen all die Kampagnen ins Leere, die den Deutschen Patriotismus einreden wollen. "Du bist Deutschland", "Land der Ideen", "Das Beste an Deutschland", dieser Trommelwirbel wurde sogar der nicht als deutschfeindlich bekannten "Frankfurter Allgemeinen" irgendwann zu viel: "Die letzten Hemmschwellen bei der Selbstdarstellung der Deutschen" seien in der Vorbereitung der Fußball-Weltmeisterschaft gefallen.
Über den peinlichsten Einfall - Florian Langenscheidts Buch "Das Beste an Deutschland, 250 Gründe, unser Land heute zu lieben" - schreibt die Zeitung, "allein die Existenz dieses Buches ist ein Beleg dafür, dass es mit unserer Heimat nicht zum Besten steht". Darüber, dass 41 Getränke und Speisen (Hipp, Underberg, Haribo) und über 80 Produkte und Marken (Fischer-Dübel, Schwartau, Nivea) Gründe sein sollen, Deutschland zu lieben, kann man noch lächeln; aber wer die Idee hatte, akkreditierten WM-Journalisten das Buch in englischer Sprache zu überreichen, kann es nicht gut meinen mit Deutschland, die Welt wird lachen über den seltsamen Stolzkatalog.
Als Langenscheidt kürzlich im Fernsehen in einer Talkshow über sein Heimatbild sprach, überboten sich die Gäste - unter ihnen nicht nur Dröhndeutsche - mit Superlativen. So hört sich gelassener neuer Patriotismus an: Wir sind die Ordentlichsten, Pünktlichsten, Ehrlichsten, Zuverlässigsten; wir haben die beste Bahn, die schönste Nationalhymne, die schönsten Frauen; kein Land ist weniger antisemitisch, hat weniger Rechtsradikale und bessere Autos. Und: "Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen." Sagt die Kanzlerin. Die Welt zu Gast bei Angebern, und dann gibt's noch den Deutschlandführer "Land der Ideen" in die Hand.
Dieser (harmlose) Chauvinismus ist es, der den Kleinbürger so lächerlich macht. Er will abgrenzen, übertrumpfen, sich über den anderen stellen, nach außen wie im Innern, ihm fehlt die Gelassenheit des Bürgers.
Jede Talkshow ist eine Propagandashow der Mitte, im kleinbürgerlichen Mainstream der deutschen Öffentlichkeit gibt es kein oben und kein unten. Sitzt der erfolgreiche deutsche Weltbürger bei Christiansen oder Illner, hört der Zuschauer im Land des Exportweltmeisters, wie man sich ohne Angst die Globalisierung untertan macht? Nein, das Kleinbürgertum sitzt sich gegenüber und zählt seine Sorgen. Und die Unterschicht? Dass Oskar Lafontaine und Gregor Gysi das Wort schwingen für die ganz unten, ist der endgültige Triumph des Kleinbürgers über die Arbeiterbewegung.
"Ein Plädoyer für mehr Klassenbewusstsein", das kommt nicht von den beiden Arbeiterführern, das formuliert der Konservative Nolte und will damit den Blick schärfen für "die Realitäten der sozialen Ungleichheit". Dieser kalte Blick schafft die Voraussetzung für ein neues Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürgern, das aufräumt mit der Illusion, der Staat könne länger ein Staat der Kleinbürger sein. Die da oben haben es immer schon gewusst, die da unten haben es begriffen, denen in der Mitte dämmert es langsam.
Die Wiesbadener Bürger, denen Volker Schlöndorff an jenem schönen Tag in Berlin den Preis überreicht, haben schon vor drei Jahren begriffen, dass die Zeiten sich ändern, dass man sich nicht mehr auf den Staat verlassen kann. Ein Teppichhändler, Kaufmann in der vierten Generation, tat sich mit zwei Gleichgesinnten zusammen, ein halbes Jahr später hatten sie 21 Bürger und 200 000 Euro beisammen. Die Stiftung, inzwischen eine Million Euro schwer, unterstützt begabte Zuwandererkinder mit Stipendien, restaurierte eine historische Verkehrsinsel und trieb Geld auf für den Kunstsommer im Kurpark.
Seit 1996 in Gütersloh die erste deutsche Bürgerstiftung gegründet wurde, sind so oder ähnlich in vielen Städten Bürgerstiftungen entstanden, initiiert nicht von Unternehmen, sondern von Bürgern, die ihre Stadt, ihre Kommune bürgerfreundlicher gestalten wollen. Das reicht noch nicht, um von neuer Bürgerlichkeit zu schwärmen, richtig ist auch, dass den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Parteien, allen möglichen gemeinnützigen Institutionen die Bürger weglaufen, aber - so war auf diesem ermutigenden Fest nahe dem Brandenburger Tor zu hören - in keinem anderen Land wachsen Zahl und Vermögen von Bürgerstiftungen so schnell wie bei uns.
Wir haben's geahnt, wir sind die besten Kleinbürger der Welt.