ESOTERIK Mit einem Schlag ins Nirwana
Jill Bolte Taylor wollte verstehen, warum ihr Bruder in einer anderen Welt lebt. Der hält sich für Michael, den ersten apokalyptischen Reiter, und sagt, es sei ihm aufgetragen, die Menschheit zu retten. Das predigt er in Einkaufszentren und tritt dabei schon mal splitternackt auf.
Ihre Suche führte Taylor vom heimischen Indiana nach Boston, wo sie an der renommierten Harvard Medical School die Anatomie von Gehirnen studierte. Die Forscherin mit den langen Haaren zerkleinerte die weichen Gewebe und entwickelte Verfahren, bestimmte Botenstoffe darin zu bestimmen. Ein Teil der Gehirne stammte von normalen Leichen, das andere Material kam von verstorbenen Patienten, die - ähnlich wie ihr schizophreniekranker Bruder - ein gespaltenes Bewusstsein hatten.
Doch als die junge Doktorin eines Morgens in ihrer kleinen Wohnung erwachte, fand sie sich jählings in einem Experiment wieder, das ihr eigenes Gehirn betraf: Hinter ihrem linken Auge spürte sie einen stechenden Schmerz, ihr rechter Arm wurde taub, und als sie zu sprechen versuchte, war nur ein Lallen zu hören.
Die Hirnforscherin, gerade einmal 37 Jahre alt, hatte einen Schlaganfall erlitten.
Zwölf Jahre später ist ihr das nicht mehr anzusehen. Mit einem strahlenden Lächeln kommt sie aus dem Flugsteig A1 des Flughafens von Indianapolis und stellt sich bescheiden als Jill vor. Sie trägt die Haare lang wie damals sowie ein rosafarbenes Polohemd mit einem bunten Gehirn als Logo. Sie war gerade auf Vortragsreisen in Kalifornien, Florida und New York; jetzt endlich geht es zurück in die Kleinstadt Bloomington, wo sie zu Hause ist.
Auf der Fahrt dorthin im klapprigen Honda Civic erzählt Taylor, wie der Schlaganfall sie zu einem besseren Menschen gemacht habe: Aus der gestressten Forscherin sei eine erleuchtete Frau geworden. "Als ich die linke Hälfte des Gehirns verlor, verlor ich auch das Sprachzentrum mit all den Einzelheiten zu mir: Das ist mein Leben, diese Dinge muss ich heute noch erledigen, das sind meine Beziehungen, das ganze emotionale Gepäck", sagt Taylor. "Das alles war mit einem Mal weg - und ich war in Hochstimmung!"
Ihren Rausch führt Taylor zurück auf eine angeborene Fehlbildung der Gefäße ihres zentralen Nervensystems. Weil Arterien und Venen nicht richtig über Kapillaren miteinander verbunden sind, strömt arterielles Blut ungebremst in die Venen - und kann diese zum Platzen bringen.
An einem Dezembermorgen 1996 passierte genau das, und zwar in Taylors linker Hirnhälfte. In jener Hemisphäre also, erklärt sie weiter, die bei den meisten Menschen für die Sprache und das rationale Planen, aber auch für die Nöte und Ängste zuständig ist. Je mehr Blut in das Nervengewebe sickerte, desto stärker will sie ein Gefühl der Befreiung erlebt haben: "Es war eine großartige Erfahrung, den Ängsten und Zwängen der Welt entrinnen zu können. Ja, es gibt ein Nirwana!"
Das Wunderliche: Obwohl Taylors Gehirn nach der chirurgischen Entfernung der Missbildung vollständig genesen ist, glaubt sie seither, die linke, rationale Hirnhälfte ausblenden zu können, wann immer ihr danach ist. "Ich brauche bloß meine Stirn und meinen Unterkiefer zu entspannen, und schon breche ich die Macht des Sprachzentrums", ruft sie und schaut entrückt aus ihren blauen Augen. "Ich sorge mich weder um die Vergangenheit noch um die Zukunft. Jetzt bin ich hier und fühle mich gut!"
Die heimgekehrte Tochter, inzwischen 49, unterrichtet Medizinstudenten der örtlichen University of Indiana Gehirnanatomie und wohnt, ohne Mann und Kinder, in einem Holzhaus in einer ruhigen Straße. Finley, ihr Terrier, wälzt sich im Vorgarten, drinnen schnurren zwei Katzen.
Der Doktorin zufolge bedarf es aber keiner Hirnblutung, um den Übergang zur seligen Ruhe hinzubekommen. Jeder Mensch verfüge über dieses Modul und könne lernen, die linke Hirnhälfte auszuknipsen: "Es ist keine Frage, dass Wissenschaftler mit modernen Techniken diesen Schaltkreis für Frieden genau ermitteln werden."
Ihre Erkenntnisse hat Taylor schon vor einigen Jahren aufgeschrieben und als Buch veröffentlicht: im Eigenverlag, weil kein Publikumsverlag darauf ansprang. Ohne jede Werbung fand der im Oktober 2006 erschienene Band "My Stroke of Insight" ("Mein Schlag der Erkenntnis") Leserinnen und Leser und verkaufte sich in anderthalb Jahren 6000-mal.
Dann geschah das, wovon Autoren träumen. Eines der Exemplare geriet in die Hände eines Mitarbeiters der TED-Konferenz (für Technology, Entertainment, Design) in Kalifornien, eines vielbeachteten Jahrestreffens, auf dem Prominente wie der an den Rollstuhl gefesselte Physiker Stephen Hawking und der Politiker Al Gore ihre Weltsicht zum Besten geben.
Für die TED-Konferenz im Februar bekam Taylor 18 Minuten Redezeit eingeräumt - und flugs reaktivierte die Dozentin ihre linke Hirnhälfte: für eine systematische, kühl-rationale Planung ihres Vortrags. Sie schrieb ihn Wort für Wort auf, lernte ihn auswendig, hielt ihn vorab sechsmal vor jeweils verschiedenen Studentenklassen der Indiana State University.
Die Kritik dieses Publikums veranlasste Taylor, den Schluss zu ändern: Sie strich eine wissenschaftliche Passage und sprach nunmehr davon, wie "mein befreiter Geist wie ein riesiger Wal durch eine See stiller Euphorie glitt". Sie habe keinen Vortrag gehalten, erinnert sich Taylor voller Wehmut, "das war eine Aufführung".
Die tausend Zuschauer im Saal applaudierten minutenlang im Stehen, viele hatten Tränen in den Augen. Unerhört die Reaktion im Internet: Schon mehr als zwei Millionen Menschen haben sich dort bislang die Aufzeichnung von Taylors Auftritt angeschaut.
Gleich zwölf Verlagshäuser buhlten dann darum, Taylors Buch neu herauszubringen. Nun ist es, nahezu wortgleich, aber mit aufgepepptem Cover, bei Viking erschienen und steht in der Bestenliste der "New York Times". Eine deutsche Ausgabe soll im September kommen**.
Allerdings bietet Taylor nicht viel Neues. Ihre Tipps, wie das selig machende Ausblenden der linken Hirnhälfte zu bewerkstelligen sei, erscheinen beliebig und banal: Die Autorin empfiehlt, Duftkerzen anzuzünden, schöne Musik zu hören oder im Regen spazieren zu gehen. Eine gesunde Verdauung sei der Erkenntnis ebenfalls förderlich: "Wenn sich meine Därme regen", schreibt Taylor, "dann jubele ich meinen Zellen zu, weil sie den Abfall aus meinem Körper räumen."
Solche und ähnliche Botschaften stehen in unzähligen Heilsbringer-Ratgebern, die in Buchhandlungen viele Regale füllen. Doch nun kommt die Ware aus der Feder einer promovierten Hirnforscherin - und wird umso begieriger aufgenommen. "In unserem Herzen spüren wir, dass wir alle miteinander verbunden sind, aber die Naturwissenschaft könnte das bisher noch nicht beweisen", sagt Taylor. "Meine Geschichte bildet den Teil einer Brücke zwischen Wissenschaft und Spiritualität."
Ehemalige Weggefährten können nicht ganz folgen. Die Nervenärztin Francine
Benes, Leiterin der Harvard-Gehirnbank und damit ihre frühere Chefin, hält menschlich große Stücke auf Taylor. Jedoch sei es so, dass sie ihre "mystische Seite nicht zeigte, als sie in Harvard war".
In ihrem Buch deutet ebenfalls etliches auf eine Entfremdung von der reinen Wissenschaft hin. Im Uneigentlichen bleibt, wie krank Taylor überhaupt war. Der Klappentext der US-Ausgabe spricht aufbauschend von einem "gewaltigen Schlaganfall" - jedoch war die Hirnblutung offenbar so folgenreich nicht: Die Lähmung des Arms verschwand bereits nach wenigen Stunden. Auch war Taylor so fit, dass nicht einmal eine Ergotherapie erforderlich war.
Die Sprachstörungen werden dramatisch dargestellt; doch wie Taylor selbst schreibt, hat sie während der Hirnblutung ihre Hausärztin angerufen und mit ihr besprochen, in welches Krankenhaus sie gehen soll. Im Spital angelangt, wehrte Taylor sich zunächst gegen eine Operation, wie sie selbst protokolliert: "Ich machte es jedem unmissverständlich klar, dass ich es ihnen niemals erlauben würde, meinen Schädel zu öffnen."
Wie gelang das jemandem, der zugleich von sich sagt, damals das Sprechen, Reden und Schreiben verloren zu haben? Und wie kann man das Minutenprotokoll einer Hirnblutung schreiben, wenn die für das Erinnern zuständige linke Hirnhälfte just durch diese Blutung "zerstört" war?
Die von Jill Taylor vorgenommene Unterteilung des Gehirns in eine rationale linke und eine gefühlige rechte Seite ist ohnehin veraltet. Die Hemisphären haben zwar verschiedene Aufgaben, jedoch sind dies keine ausschließlichen Zuständigkeiten. Selbst was die Sprache angeht, das haben neuere Arbeiten offenbart, redet die rechte Hirnhälfte ein gehöriges Wörtchen mit.
Solche Einwände kann ja wohl nur eine linke Hirnhälfte hervorbringen, denkt sich Taylor, als sie das hört - und entgegnet mit ihrer sorgenbefreiten rechten Hemisphäre. "Ich kann ja nicht jeden glücklich machen", säuselt sie. Außerdem richte sich ihr Werk an Laien: "Darum schreibe ich keinen wissenschaftlichen Aufsatz."
Und darum interessiert sich nun auch Hollywood für das Epos. Sie habe bereits einen Vorvertrag über eine Verfilmung mit der Firma Image Entertainment geschlossen, erzählt Taylor. Anfang Juni hat sie demnach mit der Schauspielerin Jodie Foster in Los Angeles Jakobsmuscheln gegessen und darüber gesprochen, wie prima es wäre, wenn diese die Hauptrolle übernähme.
Nur einen lässt Taylors Geschichte noch völlig kalt: ihren Bruder. Weil sie ihm nicht abnimmt, dass er der erste apokalyptische Reiter ist, hört er der kleinen Schwester erst gar nicht zu, wenn sie ihm mit dem Nirwana kommen will. JÖRG BLECH