ZEITGESCHICHTE Brutale Genossen
Als die Völker Jugoslawiens in erbitterten Trennungskriegen übereinander herfielen, hatten ihre Führer eines nicht bedacht: dass sie nach nicht einmal zwei Dekaden nationaler Souveränität wieder gemeinsam unter einem Dach leben könnten - als Mitglieder der Europäischen Union. Slowenien ist seit 2004 Mitglied des europäischen Clubs, Kroatiens Beitritt wird nur noch durch einen Grenzstreit mit Slowenien aufgehalten, Bosnien, Montenegro und Serbien wollen bald folgen.
Doch das angestrebte Miteinander fällt schwer: Der Boden Jugoslawiens birgt nicht nur die Toten des Kriegs zwischen 1991 und 1999, es gibt noch weitere Altlasten, ohne deren Aufarbeitung ein gutes Verhältnis kaum vorstellbar ist.
Es geht um die "Killing Fields" des jugoslawischen Kommunismus, um die Massengräber zwischen Laibach, Belgrad und Zagreb, in denen die Leichen derer ruhen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geschafft hatten, sich in Sicherheit zu bringen: die verhassten Hiwis der Nazis. Mitglieder der kroatischen Ustascha, der königstreuen serbischen Tschetniks und der slowenischen Heimwehren. Insgesamt haben die Partisanen des späteren jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito Mitte der vierziger Jahre womöglich bis zu 300 000 politische Gegner umgebracht.
In Slowenien wird die Aufklärung der kommunistischen Verbrechen schon seit 1992 betrieben. Inzwischen sind 540 lange verschwiegene Massengräber bekannt. Allein in einem zugeschütteten Panzergraben aus dem Zweiten Weltkrieg südlich der Stadt Maribor könnten 15 000 Opfer verscharrt sein, fast doppelt so viele, wie 1995 in Srebrenica starben.
Nun hat die Debatte um die mörderischen Partisanenkommandos Serbien erreicht, wo der Mythos des "Völkervereiners Tito" vergleichsweise ungebrochen fortlebt. Trotzdem fordern inzwischen Tausende Familien eine Rehabilitierung ihrer Angehörigen, die als Kollaborateure oder Spione beschuldigt wurden und seither verschwunden sind. Hinweise aus der Bevölkerung liefern Spuren zu bislang ungeöffneten Gräbern.
Insider vermuten, dass nicht nur in den Wäldern um das Weiße Schloss, der ehemaligen Tito-Residenz im Belgrader Villenviertel, ermordete Partisanengegner verscharrt wurden, sondern auch auf der Badeinsel Ada Ciganlija im Save-Fluss. Bei Straßenarbeiten in der Hauptstadt stießen Bagger immer wieder auf menschliche Überreste. Doch alles Drängen auf staatliche Aufklärung war bisher vergebens.
Aber das brisante Thema lässt sich nicht länger unterdrücken. Ausgerechnet Titos einstiger Weggefährte Milovan Djilas wird nun beschuldigt, selbst zugegeben zu haben, als Partisanenführer auch katholische Priester ermordet zu haben. So jedenfalls steht es in dem Buch des serbischen Historikers Danilo Udovicki-Selb, der an der Universität von Texas lehrt.
Allerdings konnte bisher kaum ein Serbe das umstrittene Werk selbst lesen. Nach Protesten des Djilas-Sohns Aleksa, der darin eine böswillige Verleumdung seines Vaters sieht, erklärte sich der Verlag bereit, die bereits gedruckten 500 Exemplare der serbischen Ausgabe zu vernichten.
Seitdem diskutieren Belgrads Medien darüber, ob es sich dabei um Zensur oder
gar um eine Form von Bücherverbrennung gehandelt habe - der unterdrückte Vorwurf betrifft schließlich einen Helden der westlichen Welt.
Djilas, der 1911 in Montenegro geboren wurde, hatte seine Härte im Partisanenkampf nie geleugnet, im Gegenteil, sie war Teil seines Mythos. Sie gehörte zum Bild eines Kommunisten, der sich stets treu blieb, auch wenn ihn das Macht und Privilegien kosten würde. Denn mit seiner späteren Rebellion gegen Titos Hang zu opulentem Pharaonenleben und seiner gnadenlosen Entlarvung des totalitären Alltags im real existierenden Kommunismus, kam es 1954 zum Bruch zwischen den beiden Volkshelden. Djilas verlor seine Ämter und verbrachte insgesamt neun Jahre im Gefängnis.
Sein Buch "Die Neue Klasse" rechnete die "New York Times" zu den wichtigsten Büchern des 20. Jahrhunderts; lange vor Alexander Solschenyzin und Andrej Sacharow galt Djilas im Westen als Inbegriff des kommunistischen Dissidenten.
Der auch ein Kriegsverbrecher war? Das Magazin "Slobodna Bosna" zitierte jüngst eine Mitschrift aus Titos Archiv vom April 1977. Demnach soll der jugoslawische Staatschef bosnischen Genossen gestanden haben, dass ihm gegraut habe "vor den brutalen Tötungsmethoden des Kommandeurs Djilas".
Sein einstiger Freund sei ein Schurke gewesen, der im Ausland als Märtyrer gefeiert werde und in Deutschland Bücher veröffentlicht habe, welche die kommunistische Bewegung besudelten. Dabei habe er im Partisanenkrieg seine Opfer wahllos von hinten erschossen. Auch er, Tito, wäre beinahe zu einem Opfer von Djilas geworden, eine Kugel aus dessen Gewehr hätte seinen Kopf nur knapp verfehlt.
Allerdings ist der einstige Partisanenkommandeur Tito nicht der zuverlässigste Zeuge gegen den Partisanenkommandeur Djilas. Deshalb stellt sich die Frage, wem 29 Jahre nach Titos Tod die Zerstörung des Mythos Djilas so sehr am Herzen liegt. Der Schriftsteller Matija Beckovic, ein langjähriger Freund von Djilas, hat darauf eine Antwort: Er vermutet dahinter Tito-Anhänger, die sich mit dem Nachruhm des Dissidenten nicht abfinden können.
Ähnliches gibt es auch in anderen postkommunistischen Gesellschaften. Denn Dissidenten sind das verkörperte schlechte Gewissen der Mehrheit, sie halten ihr das eigene Mitläufertum vor Augen. Da tut es gut, wenn ein Held wie Lech Walesa plötzlich zum angeblichen Polizeispitzel schrumpft. Oder ein Milovan Djilas zum Priestermörder. RENATE FLOTTAU