GESUNDHEIT Pflegen in der Grauzone
Familie Walter aus Frankfurt am Main kann froh sein, dass sie sich mit ihren Nachbarn gut versteht. Denn gäbe es eine Kleingartenfehde über den Lattenzaun hinweg, hätten die Walters ein großes Problem: Marija. Eine 30-jährige Pflegekraft aus Polen, die für 1300 Euro im Monat die alte Frau Walter pflegt, 85 Jahre, dement.
Marija wohnt bei den Walters - und arbeitet schwarz. Eine Anzeige bei den Behörden würde die Walters in Schwierigkeiten bringen. Den echten Familiennamen wollen sie deshalb nicht angeben.
Die Walters haben sich trotz des Risikos für Marija entschieden, weil sie die legale Version der ambulanten Rundumbetreuung nicht bezahlen können. Dafür brauchten sie gleich mehrere Pflegekräfte. Denn eine Person allein darf in der Regel pro Woche nicht länger als 38,5 Stunden arbeiten. Rund 6000 Euro müssten die Walters dafür monatlich aufbringen. "Unmöglich", sagt Arno Walter, der sich als Krankenkassenangestellter nicht selbst um die Eltern kümmern kann. "Auf keinen Fall" wolle er seine Mutter ins Heim schicken.
Die Situation findet er "ganz fürchterlich", und genauso sehen es viele andere, die sich für eine osteuropäische Pflegekraft entschieden haben. Mehr als 100 000 Deutsche holen sich Schätzungen zufolge Hilfe aus Ländern wie Polen oder Rumänien. Dass sie dabei in Konflikt mit dem Recht geraten, ist fast unvermeidbar.
Auf Hilfe von Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) können die Betroffenen nicht hoffen. Dieser redet derzeit zwar ständig über Probleme in der Pflegebranche und plant eine Reform für 2011. Die Frage, wie die Arbeitssituation von Pflegekräften wie Marija verbessert werden kann, steht allerdings nicht auf der Agenda der Beratungen, die Anfang Dezember beginnen sollen. Zuständig sei hier das Arbeitsministerium, heißt es im Gesundheitsministerium (BMG). Aber auch Ministerin Ursula von der Leyen interessiert sich nicht für das Problem.
Das ärgert nicht nur die Walters, sondern auch die Sozialverbände und die Wissenschaft. Der Druck auf die Regierung wächst. "Die Politik kann nicht einfach ignorieren, dass immer mehr Menschen gezwungen sind, sich in einer rechtlichen Grauzone zu bewegen", sagt Heike von Lützau-Hohlbein, Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Auch der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell fordert, "dass sich die Politik mit der Realität in Deutschland auseinandersetzt".
Dem Statistischen Bundesamt zufolge werden im Jahr 2050 doppelt so viele Menschen pflegebedürftig sein wie heute. Schon jetzt fehlen Fachkräfte, und für viele Familien sind Frauen wie Marija die einzige Möglichkeit, ihren Angehörigen das Heim zu ersparen.
Zwar behauptet die Parlamentarische Staatssekretärin im BMG, Annette Widmann-Mauz (CDU): "Es gibt dafür legale Möglichkeiten." Doch diese sind so teuer und undurchsichtig, dass kaum jemand den offiziellen Weg über die Bundesagentur für Arbeit (BA) geht: Nur 1571 Haushalte waren es im vergangenen Jahr.
Wer jemanden wie Marija sucht und sich dabei nichts zuschulden kommen lassen will, kann sich an eine Vermittlungsagentur wenden. Diese schickt in Absprache mit der BA ihre Angestellten nach Deutschland. Das hat den Vorteil, dass die Helfer - zumindest auf dem Papier - in ihrem Heimatland sozialversichert sind. Jedoch dürfen sie normalerweise nicht länger als acht Stunden an Werktagen arbeiten, keine qualifizierten pflegerischen Tätigkeiten ausüben und müssen nach deutschen Standards bezahlt werden. Jede Aufgabe, die die Helferin übernimmt, muss vertraglich geregelt sein. Vergisst die Familie mit der ausländischen Firma auszuhandeln, dass Olga oder Elena auch mal mit der Oma ins Kino gehen soll, und schickt sie trotzdem los, dann hat sie das Arbeitsrecht verletzt.
Auch wenn die Familie ihre Hilfskraft direkt einstellen will, stößt sie an die Grenze des Legalen. Denn sobald die Frau nur für einen Haushalt arbeitet, ist sie scheinselbständig. Mehrere Alzheimerkranke gleichzeitig kann sie aber gar nicht betreuen.
Arbeitsmarktexperte Sell empfiehlt deshalb eine gesetzliche Sonderregelung für ausländische Pfleger, die eine begrenzte Zeit in Deutschland arbeiten. So müsse die Regierung "die Illusion" aufgeben, dass die Arbeitszeitbegrenzung von 38,5 Stunden umsetzbar sei. Auch zum Thema Scheinselbständigkeit fordert er eine Ausnahme. Im Gegenzug sollen sich die Beteiligten verpflichten, mit geprüften Pflegediensten zusammenzuarbeiten. "So hätten die Helferinnen professionelle Unterstützung, die ihnen bisher fehlt", sagt er.
Die Politik schreckt vor einem solchen Schritt zurück. Denn die Forderungen Sells sind heikel, würden sie doch bedeuten, dass für Osteuropäer offiziell schlechtere Arbeitsbedingungen gelten würden als für Deutsche. Die Politik müsse darauf achten, dass nicht eine Form des Lohndumpings legalisiert werde, sagt FDP-Gesundheitsexpertin Ulrike Flach.
Ein Argument, das Experten und Betroffene nicht gelten lassen wollen. "Mit einer Legalisierung der Arbeitsverhältnisse würde nicht nur den Familien eine Last genommen, sondern auch den Helferinnen", sagt Sell. Die könnten so eine Krankenversicherung einfordern und hätten die Möglichkeit, sich an die Behörden zu wenden, wenn es Probleme gibt. Wie es Menschen wie Marija in Deutschland eigentlich geht, das weiß von offizieller Seite bisher niemand.