ÄRZTE Ende der Wundertüte
Bei ihrem Hautarzt fühlte sich Gabriele Kreiseler gut aufgehoben. Die Praxis in der Hamburger Innenstadt hat die Aura einer Kunstgalerie, der Mann war ihr von einem anderen Arzt als Könner empfohlen worden.
Seit Januar ist Gabriele Kreiseler krank geschrieben. Ihre Schuppenflechte ist ihr unter die Fingernägel gewachsen, was nicht nur unansehnlich, sondern auch schmerzhaft ist. Alle zwei bis drei Wochen besuchte sie ihren Hautarzt, der sich jeweils eine Viertelstunde lang mit ihr beschäftigte: Er säuberte, kratzte, salbte und verschrieb Tabletten.
Vor zwei Wochen kündigte die Patientin ihrem Arzt das Vertrauen. Da sie nur Kassenpatientin sei, so hatte ihr der Mediziner mitgeteilt, verdiene er zuwenig an ihr. Gabriele Kreiseler solle bei ihrer Versicherung vorsprechen, um für ihn ein höheres Honorar herauszuholen; sollte das mißlingen, müsse sie selbst zahlen.
Das Kalkül des Mediziners schlug fehl. Nach dem ersten Schock wechselte die Diplomingenieurin den Arzt.
Rauh ist das Klima geworden in vielen Praxen Deutschlands. Das Thema Geld drängt sich zwischen Kassenpatient und Arzt, lautstark beschweren sich die Doktoren, daß sie zuwenig verdienten.
Kollektiv, so scheint es, wähnt sich die Branche der niedergelassenen Ärzte vor der Verarmung. Dabei können sich die Umsätze der rund 112 000 Vertragsärzte Deutschlands durchaus sehen lassen: Die gesetzlichen Krankenversicherungen, bei denen 90 Prozent der Bevölkerung unter Vertrag sind, zahlen ihnen allein in diesem Jahr über 40 Milliarden Mark, mehr als je zuvor. Noch einmal sechs Milliarden steuern die Privatversicherer bei. Dennoch lamentieren die Ärzte nicht mehr nur in ihren Standesblättern über ihr Einkommen, sie ziehen auch demonstrierend auf die Straßen. In Brandenburg halten sie regelmäßig Aktionstage ab, in München, Berlin, Hamburg, Köln und vielen anderen Städten haben Arztgruppen schon gestreikt.
Was ist dran am Medizinerelend und am angeblich epidemischen Praxensterben? Müssen sich Patienten darauf einstellen, ihrem Doktor künftig ein Handgeld mitzubringen, ähnlich wie nach dem Krieg, als der Arzt beim Hausbesuch gern noch ein Heizbrikett mitnahm? Wie die Statistik verrät, verdienen die Ärzte in der Regel immer noch weit mehr als der Durchschnitt ihrer Klientel: Jeder Allgemeinarzt kann im Schnitt allein mit seinen Kassenpatienten einen Praxisgewinn von gut 135 000 Mark brutto im Jahr verbuchen (siehe Grafik), weitere Tausender buttern die Privatpatienten zu.
Weder die Kassenärztliche Bundesvereinigung noch die Apotheker- und Ärztebank können bisher den vielbeschworenen Dr. med. Pleite benennen. Wer als Arzt Bankrott macht, schafft das nach wie vor fast nur, wenn er sich allzu hoch verschuldet oder nach einer teuren Scheidung hohen Unterhalt zahlen muß.
Statistiken indes neigen dazu, die Wahrheit zu verschleiern. Unter den Vertragsärzten gibt es noch immer Kassenlöwen, die im Quartal über 2000, manchmal 3000 Chipkarten einsammeln und Managerbezüge von mehr als einer Million Mark einheimsen. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Einzelkämpfer, die fast wie Barfußmediziner der Dritten Welt leben: Sprechstunde daheim im Arbeitszimmer, die arbeitslos gemeldete Ehefrau als Helferin, kein Gerät im Haus, wenige Patienten, kaum Geld.
Die meisten Ärzte leben zwischen beiden Extremen, und es geht ihnen noch leidlich gut dabei. Aber seit Jahren rücken viele dem Barfußmediziner zumindest tendenziell näher. Ihr Einkommen sinkt; um Kosten zu sparen, vertagen sie Investitionen und entlassen Personal - mindestens 12 000 Arzthelferinnen haben 1997 ihren Job verloren.
Nostalgisch blicken vor allem die Älteren unter den Ärzten auf die Zeit vor Horst Seehofer zurück. In jenen glorreichen Tagen konnte ein Arzt auch bei gröbstem Mißmanagement nicht pleite gehen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), die das Geld der Krankenkassen auf die Mediziner verteilen, zogen jeden mit, ob er 35 oder 95 Jahre alt war. Die Ärzte genossen das Privileg, ihr Einkommen weitgehend selbst zu bestimmen.
Der Name der Wundertüte lautete "Einzelleistungsabrechnung". Jeder Handgriff wurde einzeln bezahlt; wer mehr als nötig spritzte, salbte, testete und röntgte, der verdiente auch entsprechend mehr. Keine andere Berufsgruppe konnte ihr Einkommen nach dem Krieg so rasch steigern wie die Ärzte (und Zahnärzte); Mediziner zu sein war ein fast verbriefter Anspruch auf Villa, Ferienwohnung und Sportwagen.
Das ist vorbei. Dem Gesamthonorar aller niedergelassenen Mediziner hat Bundesgesundheitsminister Seehofer 1993 einen Deckel verpaßt. Seither steigt es nur noch so langsam wie die Beiträge der Versicherten - gleichgültig, wie viele Ärzte es sich teilen müssen.
Das ist gut für den Standort und die Versicherten, die Ärzte aber haben das Nachsehen. Denn die Zahl der Praxen schwillt stetig an. Allein 1993, ehe Bonn Medizinern den Sprung in die Selbständigkeit erschwerte, haben sich noch rasch 10 000 Ärzte eine eigene Praxis zugelegt, seither sind noch einmal 8000 gefolgt, weitere 5000 werden sich bis zum Jahr 2000 niederlassen. Schon jetzt steht ein Arzt weniger als 300 Einwohnern gegenüber, 1970 war das Verhältnis noch 1 zu 612.
Weitere Löcher reißt die Fortschrittsfalle in die Gewinnspannen. Immer mehr Praxen bieten aufwendige Verfahren wie Computertomographien oder Linksherzkatheter an. Die Kosten steigen, doch der Honorartopf wächst nicht mit. Die Gesamtheit der Ärzte blutet daher für jeden medizinischen Fortschritt, und weil jede Fachgruppe der anderen das Geld neidet, ist längst eine Art Bürgerkrieg in der Zunft ausgebrochen.
Fachärzte streiten gegen Allgemeinärzte, Kardiologen gegen Chirurgen, Pädiater gegen Internisten, jede Arztgruppe gegen den Rest der Welt. Sie ziehen ins Feld gegen Kollegen, Kassen, KVen und manchmal auch gegen die Kranken. Aus Furcht, Patienten zu verlieren, überweisen viele Hausärzte ihre Kranken nur ungern an Fachärzte, die Spezialisten wiederum tun alles, um die Chipkartenbesitzer nicht wiederhergeben zu müssen.
Besonders ärgerlich für die Mediziner ist, daß sie wegen des undurchsichtigen Abrechnungssystems in dem Moment, in dem sie einen Kranken verarzten, nicht wissen, wieviel sie an ihm verdienen werden. Der Grund: Das Arzthonorar wird zunächst nach Punkten berechnet, nicht nach Mark.
Die Punktzahlen für jede Arztleistung findet der Mediziner im EBM, dem "Einheitlichen Bewertungsmaßstab". In diesem Gebührenkatalog sind Tausende Positionen enthalten, von der kurzen bis zur eingehenden Beratung, von der Fruchtwasseruntersuchung bis zur Leichenschau.
Alle drei Monate legen die Doktoren eine Nachtschicht ein und schreiben ihre Punkte für alle Patienten auf. Die Aufstellung schicken sie der für sie zuständigen KV. Die teilt das zur Verfügung stehende Gesamthonorar durch die Anzahl der Punkte. Per Post erfährt der Arzt dann, was ihm eine vor drei bis sechs Monaten verabreichte Spritze eingebracht hat.
Meist war es weniger als erhofft. Wie besessen rechneten die Mediziner immer mehr Leistungen ab, doch in dem Maße, in dem der Eifer der Ärzte wuchs, sank der Punktwert: 1992 lag er noch bei zehn Pfennig, vergangenes Jahr war er bis auf unter sechs Pfennig abgestürzt. Um den Punkteverfall zu stoppen, haben die Standesfürsten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum 1. Juli 1997 das Honorarsystem um noch einige Windungen verkompliziert. Seither darf jeder Arzt pro Patient und Quartal nur noch eine begrenzte Punktzahl abrechnen.
Dieser neue "Fallwert" ist Gegenstand heftiger Empörung - und mancher Mär. Pro Chipkarte, so rechnen etwa Allgemeinärzte ihren verunsicherten Patienten vor, erhalten sie im Quartal nur 610 Punkte und 1220 Punkte für einen Pensionär, das entspricht durchschnittlich 50 beziehungsweise 100 Mark.
"Für den Preis einer Dauerwelle muß ich einen Patienten das ganze Quartal betreuen", klagen Allgemeinärzte auf Transparenten, die sie bei ihren Demonstrationen zur Schau stellen. Sie verschweigen dabei gern, daß ihr Umsatz je Behandlungsfall noch niemals über dem eines gehobenen Damenfriseurs lag.
Der Arzt, der behauptet, er könne einen Kranken nur für 50 Mark versorgen, für alles Weitere zahle er drauf, biegt die Wahrheit: Tatsächlich ist der Fallwert nur ein Durchschnittswert. So knapp bemessen das Budget auch klingen mag, die Masse der Patienten macht den großen Unterschied: Durchschnittlich versorgt ein Allgemeinmediziner im Quartal rund 1000 Patienten, ein Hautarzt fast dreimal so viele. Auch wer nur ein Rezept abholt, schlägt zu Buche.
Folge der Neuerung ist allerdings ein Wandel der ärztlichen Strategie. Gut verdient der Arzt nun nicht mehr, wenn er möglichst viel, sondern wenn er möglichst viele behandelt. Wirtschaftlich steht er am besten da, wenn er sehr viele Patienten hat, aber jedem einzelnen möglichst wenig Aufmerksamkeit zuteil werden läßt.
Getroffen sind davon solche Mediziner, deren Patienten zuwendungsbedürftiger sind als die des Durchschnittsarztes. Wer vor allem Junkies versorgt, geht unweigerlich in die Knie. Auch wer sehr viele Krebspatienten hat, kommt (trotz eines von den Kassenärztlichen Vereinigungen zugestandenen Extrabudgets) schwer über die Runden.
Von den wirklich Kranken kann kein Arzt mehr leben, er braucht eine große Zahl fast Gesunder, die einmal im Quartal kommen, ihre Chipkarte abgeben und sich erst im nächsten Vierteljahr wieder blicken lassen. "Praxismarketing" und "Fallzahlmanagement" empfehlen Unternehmensberater den Heilkundigen.
Vor wenigen Wochen flatterte den Medizinern die Abrechnung für das dritte Quartal 1997 ins Haus, das erste unter dem Deckel der Praxisbudgets. Je nach Wohnort und Fachgruppe der Mediziner war dieser Tag ein Fest oder ein Desaster.
Im Gebiet der KV Nordrhein zum Beispiel haben über die Hälfte der Mediziner Einkommenszuwächse erzielt, angeführt von den fachärztlichen Kinderärzten, die 18 Prozent mehr verdienten als im Vorjahrsquartal - ganz im Gegensatz zu den Hamburger Pädiatern, die 12 Prozent einbüßten (siehe Kasten Seite 184). Bei der KV Rheinhessen bekamen die Anästhesisten 14 Prozent mehr, die HNO-Ärzte mußten 14 Prozent abgeben.
An solchen Verlusten sind nicht so sehr die geizigen Krankenkassen schuld, wie von Medizinern unterstellt, sondern vor allem die Kassenärztlichen Vereinigungen. Jede der 23 KVen im Bundesgebiet verteilt das von den Kassen überwiesene Geld nach einem eigenen Schlüssel, dem "Honorarverteilungsmaßstab". Er ist eine der brutalsten Waffen im innerärztlichen Verteilungskampf. Allzuoft begünstigt er jene Arztgruppen, die in den betreffenden KV-Gremien die Übermacht stellen.
Ein Ziel hat KV-Chef Winfried Schorre mit den Praxisbudgets aber immerhin erreicht. Der Verfall des Punktwerts ist gestoppt. Darüber hinaus hat Schorre es geschafft, den Verteilungskampf der verschiedenen Ärzte untereinander neu zu entfachen und ihre Begehrlichkeit direkt auf das Portemonnaie ihrer Patienten zu lenken.
Eine Möglichkeit dazu bietet die "Igel-Liste" der "individuellen Gesundheitsleistungen", die Schorre kürzlich vorgestellt hat. Bestimmte, oft unnütze Untersuchungen, etwa die Sonografie der Halsschlagadern zur Bestimmung des Schlaganfallrisikos, bieten die Ärzte seither gegen Privatrechnung an (SPIEGEL 13/1998).
In Zukunft, darauf zielt das Igel-Konzept, werden die Mediziner versuchen, neue Leistungen aus dem Angebotskatalog der Krankenkassen fernzuhalten - um sie statt dessen im Igel-Katalog aggressiv zu vermarkten und privat zu liquidieren.
Eine weitere Geldvermehrungsstrategie vieler Mediziner ist die "Kostenerstattung", eine seit Juli letzten Jahres statthafte Form der Abrechnung. Dabei schreibt der Mediziner dem Patienten eine Rechnung nach der lukrativen Gebührenordnung für Privatpatienten. Der Kranke soll sie dann seiner Kasse zur Erstattung vorlegen.
Die Krankenkassen jedoch wehren sich dagegen, auf diese Weise das gedeckelte Gesamthonorar der Mediziner aufzublähen. Sie haben sich vorgenommen, Ärzten wie Patienten diese Abrechnungsweise durch geringe Kostensätze, zusätzliche Gebühren und bürokratische Schikanen zu vermiesen.
Die Kostenerstattung nutzt nur den Medizinern, das wissen diese sehr wohl. Dennoch finden sie viele nur gerecht. Eine Kölner Gynäkologin schimpft in der "Ärzte-Zeitung", gerade gutsituierte Versicherte müsse sie nicht "zum Sozialtarif behandeln". Ein Hamburger Urologe ließ seine Patienten per Zeitungsinserat wissen, daß er künftig nur noch Privatversicherte versorge, Kassenpatienten nur dann, wenn sie sich auf die Kostenerstattung einlassen.
Dabei bietet das deutsche Gesundheitswesen, das so reich ist an Widersinn, noch genügend Mittel und Wege für die Ärzte, das Konto zu füllen. Für Akupunktur in der Schmerztherapie zum Beispiel zahlen fast alle Kassen freiwillig, gleichgültig, ob den Patienten Migräne, Schulterpein oder Rückenschmerzen quälen. Weil Akupunktur aber nicht Bestandteil des allgemeinen Leistungskatalogs ist, wird sie nicht in Punkten über die KVen abgerechnet, sondern direkt und in harter Währung.
Das nicht immer seriöse Gewerbe mit den Nadeln ist ein glänzendes Geschäft: 15 Sitzungen à 50 Mark bezahlt etwa die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) anstandslos. Über diese Großzügigkeit kann sich der niedersächsische Internist Onno Buurman nur empören. "Die Kollegen, die das machen, stecken drei Nadeln in die Haut, und Schluß, und dann werden sie auch noch teurer bezahlt als ich für ein ganzes Quartal harter Arbeit am Patienten." Für Buurman ist klar: "Viele von den Kollegen sahnen ab."
Die wohl verlockendste Möglichkeit, an Geld zu kommen, ist aber der Betrug, den das undurchsichtige Abrechnungssystem immer schon leichtgemacht hat. Früher, in Zeiten der Einzelleistungsabrechnung, schadeten die Rechnungsfrisierer damit den Versicherten. Jetzt tun die Abzocker in Weiß nur noch ihren gedeckelten Kollegen weh - ein Umstand, der offenbar Kräfte der Selbsthygiene innerhalb der Medizinerschaft freisetzt: Ärzte, die sich von Konkurrenten geschädigt fühlen, erstatten vermehrt Anzeige.
[Grafiktext]
Ärzteeinkommen nach Fachrichtungen
Anzahl der Kassenärzte
Honorarausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen
Durchschnittseinkommen der Ärzte
[GrafiktextEnde]
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Ärzteeinkommen nach Fachrichtungen
Anzahl der Kassenärzte
Honorarausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen
Durchschnittseinkommen der Ärzte
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