HILFSAKTIONEN Festakt im Horrorschloß
Kommt her und tanzt, kommt alle und bewegt euch." Die Sonne steht schon tief hinter dem ehemaligen Jagdschloß des Grafen Tisza im rumänischen Cighid, als Lotzi, 19, das Mikrofon ergreift und der Menge einheizt. Dann wummern Disko-Beats durch die Nacht: "SOS for love".
Vor acht Jahren herrschte an diesem Ort auch an sonnigen Tagen die Nacht der Zivilisation. Lotzi war damals elf, eines von 109 Kindern, die in dem Heim im Nordwesten des ehemaligen Ceausescu-Reichs dem Tod entgegendämmerten. "Klein-Auschwitz" nannten es die Bauern in der Umgebung. "Irecuperabili" (die Unwiederbringlichen) hießen die hierhin Abgeschobenen offiziell - ein Begriff, der nichts verschwieg und doch alles verschleierte.
Seit Journalisten von SPIEGEL und SPIEGEL TV das Schloß des Grauens im Frühjahr 1990 entdeckten und eine großangelegte Hilfsaktion auslösten, ist Cighid zum Synonym für Euthanasie durch die Verhältnisse geworden. Waisen und Behinderte, Nutzlose im Terrorstaat eines ruchlosen kommunistischen Diktators, vegetierten hier, eingekerkert, inmitten von Kot, Urin und Erbrochenem in unbeheizten Räumen. Formal wurde das Tötungstabu respektiert, umgebracht wurden die Insassen dennoch. Ihre Gräber finden sich am Rande des Nachbardorfs: 139 Kinder waren in nur zweieinhalb Jahren durch systematische Verwahrlosung ums Leben gekommen.
Angela Fechete hat überlebt. Vor acht Jahren mußte sie ihre Tage in einem zwei mal zwei Meter großen Zwinger verbringen, weil sie aggressiv war und sich den Verhältnissen nicht anpassen wollte, wie die Wärter damals sagten. An diesem Juni-Wochenende taucht sie wie traumwandelnd in der Schar der Tanzenden ab und wieder auf, mit einem Lächeln im Gesicht. Es gibt etwas zu feiern. Vier neue Pavillons werden eingeweiht, Häuser für die Kinder von Cighid, die mittlerweile herangewachsen sind.
Das Heim, finanziert durch Spendengelder aus Deutschland, ist zu einem Vorzeigeprojekt geworden, mit dem sich die rumänische Regierung gern schmückt. Und so sind zur Einweihung der neuen Gebäude nicht nur Journalisten und Helfer gekommen, sondern auch Politiker und Honoratioren, die sich im Glanz der Modelleinrichtung sonnen wollen.
Immer wieder wird an diesem Wochenende das "Wunder von Cighid" beschworen, die Harmonie gepriesen, mit der alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Nur einer der Festtagsredner fällt aus dem Rahmen: Philip Skorochod, ein britischer Bauunternehmer, der in der Bezirkshauptstadt Oradea lebt und ausländische Investoren berät.
Ihm ist es zu verdanken, daß die Neubauten termingerecht fertiggestellt werden konnten. Er war eingesprungen, als die rumänische Staatsbaufirma sich geweigert hatte, die Bauarbeiten fortzusetzen, wenn nicht fast das Doppelte der vertraglich vereinbarten Baukosten gezahlt würde.
Begründung: die galoppierende Inflation. Daß die Auftraggeber aus Deutschland in Mark zahlten, die Inflation mithin kein Argument sein konnte, beeindruckte die Verantwortlichen nicht im mindesten. Rumänien ist noch immer ein armes Land, und Marktwirtschaft ist für viele nicht mehr als ein anderes Wort für Gier.
Skorochod nutzte das Fest zu einer fulminanten Anklage: Der Staat stehle das Geld der Wohlfahrtsorganisationen, Korruption, Vetternwirtschaft und politische Flügelkämpfe zu Lasten der Heiminsassen seien an der Tagesordnung.
Die versammelten Funktionäre und Honoratioren schwiegen betreten und wagten nicht einmal auf das hinzuweisen, was sie sich als Verdienst anrechnen können: die Abwehr der Rückübereignungsansprüche der Nachfahren des Grafen Tisza.
Als bekannt geworden war, daß das renovierte Heim mit 87 Grad heißem Thermalwasser beheizt wird, das unter dem Komplex in riesigen Mengen vorhanden ist, witterten sie das große Geschäft. Im Herbst des vergangenen Jahres klagten zwei Tisza-Enkel vor dem Kreisgericht in Oradea auf Rückgabe des Geländes. Angeblich wollten sie dort ein Kurzentrum errichten.
Das Verfahren durchlief drei Instanzen bis hin zum obersten rumänischen Gerichtshof in Bukarest. Dessen Richter entschieden vor wenigen Monaten, daß der Anspruch ungerechtfertigt sei, weil es sich bei dem Gebäude nur um ein Jagdschloß und nicht um eine ständige Residenz gehandelt habe.
Gyöngyi Brasa, 36, Pflegerin in Cighid, hat das Urteil mit Erleichterung aufgenommen. Sie war schon im Heim, als dort noch der Tod hauste. 1990 hatte sie gesagt: "Man hätte die Kinder töten sollen, als sie auf die Welt kamen."
Heute schämt sie sich für diesen Satz, der zynisch klingt und doch nie so gemeint war: "Wir waren völlig überfordert." Sechs Pfleger für über hundert Kinder, Verwalter des Elends und Verteiler spärlich bemessener Rationen in einem Land, das seine Bewohner systematisch entmündigt hatte, einem Land, in dem bereits das Fällen eines Baumes unter Strafe stand. Irgendwann hatten sie alle kapituliert und das Leid weggesperrt. "Die Kinder müssen doch ohnehin sterben" hieß die Formel, mit der sie ihre Schuldgefühle verdrängten.
"Alles, was ich tun konnte, war weinen", sagt die zierliche Frau. Zum Widerstand gegen das Grauen, das sie tagtäglich mitverantworten mußte, fehlte ihr die Kraft. Heute weiß sie: "Auch ich bin mit den Kindern gewachsen."
Und es scheint, als habe die Welle der Hilfe, die 1990 über Cighid hereinbrach, auch Gyöngyi Brasa zurück ins Leben gespült. Hingebungsvoll spielt sie mit dem 15jährigen Tiberius Varga. Der hatte vor acht Jahren jede Nahrungsaufnahme verweigert. Mit einer nahezu majestätischwürdevollen Geste wies der damals Siebenjährige jedesmal den Löffel von sich, mit dem das Personal ihn aus einem verschimmelten Blecheimer füttern wollte.
Daß Tiberius heute ein menschenwürdiges Leben führt, ist vor allem der unermüdlichen Arbeit Pavel Oarceas zu verdanken. Für ein paar Monate war er im Frühjahr 1990 im Rahmen der durch die Berichte angestoßenen Hilfsaktion nach Cighid gekommen. Und er ist immer noch da, obwohl ihm die Stelle als Kinderarzt in Oradea, die er damals hatte, freigehalten wird.
"Nur die Liebe der Kinder hält mich hier", sagt der von den ständigen Auseinandersetzungen mit den politisch Verantwortlichen gezeichnete Mann. Er teilt die Kritik des britischen Bauunternehmers und ist froh, daß die Probleme gerade beim Festakt so deutlich zur Sprache kamen. Längst ist die Beschäftigung mit den 105 Kindern, die hiergeblieben sind, sein Lebenswerk geworden. Und manchmal, wenn er müde ist und verzweifelt, kommen Robi oder Lilly, nehmen ihn an die Hand und fragen: "Was ist, Doktor? Geht es Ihnen nicht gut?"
Robi ist heute elf, besucht die Schule im Nachbardorf Ghiorac und möchte später einmal Arzt werden. "Für Kinder", sagt er, "und für Frauen" - und fügt nach einer kurzen Pause noch "für Menschen" hinzu. Auch Robi war 1990 mit seinen 7,7 Kilo "fast schon am Sterben". Heute, so Oarcea nicht ohne einen gewissen Vaterstolz, "hat er es faustdick hinter den Ohren". Robi gehört zu jenen Kindern, denen der Kinderarzt gute Entwicklungsmöglichkeiten attestiert.
Andere machen ihm mehr Sorgen. Tiberius Varga etwa hatte seinen größten Entwicklungssprung kurz nach der Befreiung aus dem Gitterbett, das sein Gefängnis war, gemacht. Schnell lernte er laufen, und Schritt für Schritt baute er seine motorische Unsicherheit ab. Doch heute, befürchtet Oarcea, könne er für "Tibi" nicht mehr allzuviel tun. Sieben Jahre Verwahrlosung sind auch durch noch so intensive Betreuung nicht ungeschehen zu machen.
In verschiedenen Phasen haben Oarcea und seine Mitarbeiter, mittlerweile arbeiten 102 Angestellte in Cighid, die Kinder ins Leben zurückgeholt. Hatten zuerst medizinische Hilfe geleistet, dann den Kindern Zuneigung gegeben und mit den zuvor Vernachlässigten gespielt. Danach brachten sie den Sieben- oder Achtjährigen Sprechen und Laufen bei, später rüsteten sie einige für die Schule.
"Wichtig war", so Oarcea, "den Kindern Vertrauen zu schenken, Vertrauen, das sie vorher nie entwickeln konnten." Wie Kaspar Hausers rumänische Geschwister purzelten sie damals in eine Welt voller Sanitäter und Behindertenpädagogen und entdeckten das Leben neu. Doch noch immer holt sie gelegentlich die Qual der Vergangenheit ein. Wenn im Winter einmal die Heizung ausfällt oder das Licht ausgeht, klammern sich die Kinder ängstlich aneinander.
Neulich entdeckten Pflegerinnen unter der Bettdecke von Angela Fechete versteckte Lebensmittel. Die Urangst, hungern zu müssen, hat das Mädchen auch im Jahre acht nach ihrer Wiedergeburt nicht verloren.