VENEZUELA Der Stein der Liebe
Im Zentrum Berlins, gleich hinter dem Brandenburger Tor, liegt ein Findling aus rotem Sandstein. Er wiegt 35 Tonnen, sieht aus wie ein gestrandeter Wal und stammt aus dem venezolanischen Nationalpark Canaima; der deutsche Künstler Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld, 78, hat den Stein vor über zehn Jahren nach Berlin gebracht.
Nicht nur ihn. Aus allen Kontinenten hat Schwarzenfeld tonnenschwere Kaventsmänner und Monolithen zusammengetragen, die jetzt verstreut im Tiergarten liegen - als "Global Stone"-Projekt, wie Schwarzenfeld sein Kunstwerk nennt. Zu jedem Block gibt es einen Schwesterstein irgendwo auf der Welt. Er habe alle Steine so geschliffen, dass sie am 21. Juni die Sonnenstrahlen reflektierten und miteinander in Verbindung träten, sagt Schwarzenfeld. Jedes Steinpaar steht für einen Schritt zum Weltfrieden: Afrika ist die Hoffnung, Asien die Vergebung, Europa das Erwachen, Australien der Frieden.
Der Stein aus Venezuela steht für die Liebe. Schön und harmlos sieht er aus, niemand würde vermuten, dass er die deutsch-venezolanischen Beziehungen belastet: Hugo Chávez, der exzentrische Staatschef, verlangt, dass der Findling nach Venezuela zurückgebracht wird.
Caracas besteht darauf, dass dies noch vor dem Winter geschieht. Der Stein sei ein Heiligtum der Pemonen-Indianer, die im Nationalpark von Canaima leben, "Schwarzenfeld hat ihn entführt", sagt Héctor Torres, Direktor des Nationalen Kulturinstituts. Venezuelas Außenminister lud Indianervertreter, Kulturfunktionäre und Sympathisanten zu einer Solidaritätsveranstaltung ein. Ende Juli ließ Präsident Chávez ein Schreiben an den deutschen Botschafter Georg Dick überbringen, in dem die Forderung stand: Gebt "Kueka" zurück! So nennen die Indianer den Findling, es heißt "Versteinerung".
Hinter der Affäre verbirgt sich ein Beziehungsdrama. Denn neben Kueka lag im Nationalpark ein noch größeres Exemplar; die beiden Steine sollen entstanden sein, als ein Blitz vor 50 000 Jahren einen großen Felsblock spaltete.
"Sie bildeten ein Paar", sagt Melchor Flores, der Dorfvorsteher von Mapaurí, einer Pemonen-Siedlung nahe der Fundstelle. Er führt den Besucher zu seiner Großtante Lucía Rivera Flores. Die alte Dame mit grauen Strähnen und zerfurchtem Gesicht erzählt Kuekas Geschichte.
Vor zigtausend Jahren habe sich ein junger Mann aus Mapaurí in ein Mädchen vom Stamm der Macuxi verliebt, der heute in Brasilien lebt. Macunaima, der oberste Gott der Indianer, habe die Hochzeit verboten, doch die Liebe sei stärker gewesen, sagt sie: "Zur Strafe hat Macunaima die beiden in Steine verwandelt."
Die Pemonen verehrten die Felsen seither als "Großmutter" und "Großvater". "Vor jeder Hochzeit haben wir sie um Erlaubnis gefragt", sagt Frau Flores, "die beiden waren unzertrennlich." Bis Schwarzenfeld kam. "Ich wusste nicht, dass er den Indianern so viel bedeutet", versichert er.
Der Künstler und Abenteurer lebt gut 8500 Kilometer von den Pemonen entfernt, er ist ein großer Mann, Haare und Bart sind schlohweiß. Tagsüber ist er in einem Steinbruch bei Bautzen zu finden, dort hat er gerade einen zwölf Tonnen schweren Granitblock poliert, der sein Lebenswerk krönen soll.
1997 war er in Südamerika auf Steinsuche gegangen. Die Naturschutzbehörde verwies ihn auf den Nationalpark, dort stieß er auf Kueka. Als er mit einem Tieflader anrückte, protestierten die Indianer, doch Venezuelas damaligem Präsidenten, Rafael Caldera, waren die Ureinwohner schnuppe.
In der ersten Nacht nach Kuekas Abtransport hätten grelle Blitze die Nacht durchzuckt, ein Feuer habe am Himmel geflackert, behauptet Rivera Flores. Eines Nachts sei dann dem Dorfältesten im Traum ein bärtiger Mann erschienen. "Wo ist meine Frau?", habe er gefragt. "Da wurde uns klar: Der Deutsche hat unsere Großmutter entführt."
Lange kämpften die Indianer vergebens für Kuekas Rückkehr, bis sich Chávez der Sache annahm und Schwarzenfelds Tat als Kulturimperialismus geißelte. Die Regierung ließ farbige Faltblätter drucken: "Enapök köwai apatase'dak", das ist Pemonen-Sprache und heißt "Großmutter, kehre an deinen Ort zurück".
Die Verhandlungen mit Berlin gingen gut voran, versichert der Kulturbeamte Torres, offen seien nur noch logistische Fragen. Die Venezolaner wollen in den nächsten Wochen mit Kran und Tieflader im Tiergarten anrücken. Als Gegenleistung habe sich Caracas bereit erklärt, vier neue Steine nach Deutschland zu liefern.
Eigentlich kein schlechtes Geschäft für Berlin. Doch Botschafter Dick dämpft den Optimismus: "Der Stein ist Teil eines Gesamtkunstwerks, wir müssen alle Beteiligten konsultieren."
Künstler Schwarzenfeld bestreitet, dass er Kueka entwendet habe, er hat die Ausfuhrgenehmigung ins Internet gestellt. Völkerkundler stehen ihm bei. "Die Geschichte der Indianer ist erfunden, sie kennen keine Heiligtümer", versichert der Ethnologe Bruno Illius, der die Kultur der Pemonen studiert hat: "Der Streit ist ein Propagandacoup von Hugo Chávez."
Schwarzenfeld will den Stein nur wieder hergeben, wenn Caracas ihn dafür bezahlt. "Ich habe meine Lebensarbeit in das Projekt gesteckt", sagt er. Er wäre auch bereit, den Großvater-Stein zu polieren, der bis heute unberührt in der Nähe der brasilianischen Grenze liegt: "Er kann dann mit seiner Frau kommunizieren."