SPIEGEL-GESPRÄCH „Warum ausgerechnet ich?“
SPIEGEL: Monsieur Piccoli, Sie haben 1956 in Ihrem ersten großen Spielfilm, "Der Tod in diesem Garten" von Luis Buñuel, einen Landpfarrer gespielt. Nun, mit 85, sind Sie in Ihrem jüngsten Film "Habemus Papam" ein Kardinal, der gegen seinen Willen zum Papst gewählt wird.
Piccoli: Ein ganz schöner Aufstieg, nicht wahr? Und ich kann mir lebhaft vorstellen, was Buñuel dazu gesagt hätte: "Wie schrecklich!"
SPIEGEL: Wieso denken Sie das?
Piccoli: Weil er mir manchmal erzählt hat, er träume davon, den Papst zu erschießen. Das war so eine seiner Ideen.
SPIEGEL: Was hat Sie daran gereizt, einen Papst zu spielen, der sein Amt nicht antreten will und aus dem Vatikan flieht?
Piccoli: Ein Grund, die Rolle zu übernehmen, war natürlich der Regisseur, Nanni Moretti, ein Freund von mir. Dann reizte mich die Rolle, diese Person, die auf der Höhe der Macht einfach nein sagt. Ich finde eine solche Haltung intelligent, dass jemand am Ende seines Lebens, kurz bevor er den größtmöglichen Ruhm erlangt, abhaut und lieber Schauspieler werden will.
SPIEGEL: Ihm wird auch klar, dass man einen Papst nicht spielen kann.
Piccoli: Genau, er ist verstört, nachdem er im Konklave gewählt worden ist. Er ist gläubig und aufrichtig, ein Mensch, der merkt, nein, ich kann das nicht.
SPIEGEL: Sollten sich mächtige Menschen nicht öfter Selbstzweifel leisten?
Piccoli: Ich glaube, sie geben sie nicht zu. Und das macht sie noch überheblicher, sie begehen Fehler, um gut dazustehen.
SPIEGEL: Vom Aussehen, dem Alter, von Statur und Mimik sind Sie die Idealbesetzung für diese Rolle. Sind Sie eigentlich katholisch aufgewachsen?
Piccoli: Ja. Meine Mutter war bis zu einem bestimmten Punkt sehr gläubig. Sie hatte zehn Geschwister und elf Kinder. Und dann ereigneten sich zwei Unglücke, die meine Mutter nicht verwunden hat. Ein Bruder meiner Mutter, den sie sehr geliebt hatte, fiel im Ersten Weltkrieg. Und dann starb ein Bruder, der vor mir geboren worden war, im Alter von drei Jahren. Das war für sie ein Schock. Sie sagte danach: "Kommt mir bloß nicht mehr mit dem lieben Gott."
SPIEGEL: Und so hatten Sie keine religiö-se Erziehung.
Piccoli: Das hat mich nicht gestört. Ich habe sehr gut verstanden, warum sie sich von der Religion abgewendet hat.
SPIEGEL: Sie würden sich heute nicht als gläubig bezeichnen?
Piccoli: Ich brauche Gott nicht, um das Leben verstehen oder um es lieben zu können. Ich sehe aber ein, dass manche Menschen ein höheres Wesen brauchen.
SPIEGEL: Eine, wenn man so will, letztlich vernünftige Haltung.
Piccoli: Im Gegenteil: Ich finde diese Einstellung gefährlich. Eine Tante von mir hatte schon zwei Söhne verloren, als auch noch ihre Tochter starb. Meine Mutter sagte ganz mitfühlend zu ihr: "Es ist schrecklich, nun sind schon drei Kinder gestorben." Meine Tante antwortete: "Ach, die Kleine ist jetzt bei ihren beiden Brüdern." Was soll man da noch sagen?
SPIEGEL: Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Piccoli: Ich glaube, wirklich glückliche Kinder sind selten. Es ist in der Kindheit doch manches beunruhigend, wenn man mitbekommt, wie die Erwachsenen sich streiten und anschreien. Das macht einem Kind Angst. Eltern und Kinder, das ist selten das reine Glück. Als mein Bruder gestorben war, habe ich ihn quasi ersetzen müssen. Für meine Eltern war der Kleine natürlich ein wunderbares Kind gewesen, aber ich fühlte mich als sein Ersatz keineswegs wunderbar, verstehen Sie?
SPIEGEL: Sie sollen mit Puppen gespielt haben.
Piccoli: Das stimmt. Damals wirkte das befremdlich, dass ein Junge mit Puppen spielt. Man dachte, ich könnte homosexuell werden. Dabei war der Grund ganz einfach. Ich hatte eine Cousine, deren Familie sehr reich war. Ich mochte das Mädchen sehr. Sie hatte Puppen über Puppen und ich so gut wie kein Spielzeug. Also spielten wir mit ihren Puppen. Ich bin übrigens trotzdem ganz normal geworden.
SPIEGEL: In Ihren Rollen jedenfalls wirken Sie sehr männlich.
Piccoli: Männlich. Und vielschichtig. Ich liebe die Komplexität des Lebens. Ich habe als Kind übrigens so gut wie nicht gesprochen. Das wurde erst besser, als ich ungefähr neun Jahre alt war und Schauspieler werden wollte. Eines Tages bekam ich in der Schulaufführung eines Theaterstücks sogar eine Hauptrolle.
SPIEGEL: Da mussten Sie sprechen.
Piccoli: Und das Beste war: Die anderen mussten schweigen und mir zuhören, etwas, was sie vorher nie getan hatten.
SPIEGEL: Als Sie 14, 15 Jahre alt waren, besetzten die Deutschen Frankreich.
Piccoli: Ich liebe die deutsche Sprache. Ich verstehe kein Wort, aber ich mag den Klang, herrlich.
SPIEGEL: Änderte sich dies, als Deutsch die Sprache des Feindes wurde?
Piccoli: Die Menschen waren schlimmer als ihre Sprache. Ich hatte Freunde, die in der Résistance waren und wirklich etwas gewagt haben. Zufällig hörte ich dann am 18. Juni 1940 die berühmte Ansprache General de Gaulles an die Franzosen, in der er im Radio dazu aufforderte, die Flamme des Widerstands nicht erlöschen zu lassen. Von dem Moment an war ich Gaullist. Und wenn wir Hitler im Radio hörten, war da gar nichts von der Schönheit dieser Sprache zu erkennen. Ich wurde sehr antideutsch. Ich habe sogar die Truppenbewegungen der Roten Armee auf einer Landkarte verfolgt. Meinen Eltern machte das Sorgen, die Deutschen könnten mich verhaften.
SPIEGEL: Sie sind davongekommen.
Piccoli: Einmal war es ganz knapp. Meine Mutter hatte mich nach Dieppe geschickt, in die Normandie, um Butter zu besorgen. Sie hatte dort eine Freundin, die wunderbare Butter machte. Ich war schon fast da, als ich in eine Kontrolle der Deutschen geriet. Sie riefen "Papiere, Papiere!" Ich hatte keine, also setzten sie mich fest. Eine ganze Nacht lang war ich bei der SS. Die haben rumtelefoniert und mich dann schließlich freigelassen.
SPIEGEL: Brachten Sie die Butter heim?
Piccoli: Ja, ein sehr heroischer Akt des Widerstands, nicht wahr? Ein deutscher Soldat sagte zu meiner Mutter: "Ihnen ist klar, dass Ihr Sohn etwas Schlimmes getan hat." "Nein", gab sie zurück. "Er hat etwas Verbotenes getan." Nach diesem Erlebnis ging ich zu unserem Nachbarn, der in der Résistance war. Ich bot ihm meine Hilfe an, aber er sagte, ich sei noch zu jung, ich war noch nicht volljährig. Was blieb, war mein Hass auf die deutsche und die französische Politik.
SPIEGEL: Auf die Kollaboration.
Piccoli: Ja, genau. Die Kollaboration war entsetzlich, natürlich nicht so schlimm wie die KZs. Aber beides hatte dieselbe Wurzel.
SPIEGEL: Haben Sie deshalb nach dem Krieg mit der französischen Linken sympathisiert?
Piccoli: Meine Sympathie für die Linken hängt vielleicht wirklich mit dem Krieg zusammen.
SPIEGEL: In den fünfziger Jahren haben Sie in der DEFA-Produktion "Ernst Thälmann - Führer seiner Klasse" einen französischen Kommunisten gespielt. Wie kam ein französischer Jungschauspieler in die DDR?
Piccoli: Die Rolle ist mir angeboten worden, und ich habe sie angenommen. Das hatte keine politischen Gründe. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nur in West-Berlin gedreht.
SPIEGEL: Sie sprechen in dem Film viele Sätze auf Deutsch. Zum Beispiel: "Wir könnten alle Brüder sein."
Piccoli: Ich bin vor vielen Jahren mal zu Probeaufnahmen nach Wien gereist und musste dort ein paar besonders dumme deutsche Sätze sagen, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann. Von Paris nach Wien reisen und dummes Zeug reden - da begann ich zu verstehen, dass Schauspielerei ein ziemlich bizarrer Beruf ist. Haben Sie mein Deutsch in dem Thälmann-Film verstehen können?
SPIEGEL: Sehr gut.
Piccoli: Ich war nie Kommunist, auch wenn ich im Krieg auf die Befreiung durch die Rote Armee gehofft hatte. Politik hat mich aber immer beschäftigt.
SPIEGEL: In einigen Ihrer Filme spielen Sie bornierte, dekadente Großbürger. Sie mögen die Bourgeoisie nicht sonderlich, oder?
Piccoli: Die französische Bourgeoisie wähnt sich allen überlegen, die nicht zu ihrer Klasse gehören. Hitler musste ihr den Antisemitismus nicht beibringen. Die Bourgeoisie neigt zur Ausgrenzung anderer, dabei spielt es keine Rolle, ob man ein reicher Bourgeois ist oder ein armer. Hauptsache Bourgeois.
SPIEGEL: Das ist noch immer so?
Piccoli: Aber ja. Diesen Standesdünkel der Bourgeoisie gibt es immer noch. Bei Ihnen in Deutschland nicht?
SPIEGEL: In Deutschland spielt die Klassenzugehörigkeit keine so große Rolle.
Piccoli: Ich sollte Deutscher werden.
SPIEGEL: Sie haben immer wieder gesagt, dass Sie nach Projekten und Menschen suchen, die verrückt sind.
Piccoli: Ja, sonst ist es nicht interessant. Es muss verrückt sein, eine kontrollierte Verrücktheit.
SPIEGEL: Sie haben immer wieder sehr unsympathische Figuren gespielt, einen mordenden Rechtsanwalt, der seine Opfer in Säure auflöst, oder einen Arbeiter, der Polizisten tötet und aufisst. Hatten Sie je Angst vor einer Rolle?
Piccoli: Mag sein, dass das Publikum Angst vor diesen Figuren hatte, doch ich habe sie genossen. Das meine ich mit Verrücktheit.
SPIEGEL: Sie haben mit vielen hundert Schauspielern vor der Kamera gestanden. Bei wem fanden Sie eine ähnliche Verrücktheit?
Piccoli: Vor allem bei den Italienern, bei Marcello Mastroianni oder Ugo Tognazzi. Auch bei Gérard Depardieu. Die englischen Schauspieler habe ich dagegen eher für ihr großes Können bewundert. Irgendwann mal habe ich den Regisseur Peter Brook gefragt, warum die alle so gut sind. Er antwortete: "Weil sie wissen, was Scham ist." Großartig, nicht wahr?
SPIEGEL: Sie haben sechs Filme zusammen mit Romy Schneider gemacht.
Piccoli: Sie war eine sehr gute Schauspielerin, damit mal angefangen. Und die Franzosen waren stolz, dass diese großartige Schauspielerin von Deutschland nach Frankreich gekommen war. Die Franzosen prahlen gern, nun konnten sie damit prahlen, dass Romy bei ihnen war.
Ich habe sie immer "chleuh" genannt, um sie zum Lachen zu bringen.
SPIEGEL: Ein französisches Schimpfwort für Deutsche.
Piccoli: Ja, aber ihr hat es gefallen. Sie hat sehr an Deutschland gelitten, war eine sehr unglückliche Frau. Das spürt man auch in ihren Filmen, an der Art, wie sie redet, wie sie blickt. Sie wusste, wie man lacht, aber das reichte nicht. Ich habe sie sehr gemocht.
SPIEGEL: Dennoch haben Sie immer wieder betont, dass Sie Ihre Regisseure letztlich mehr lieben als Ihre Schauspielerkollegen.
Piccoli: Ja, das stimmt. Vom Regisseur mache ich abhängig, ob ich eine Rolle übernehme. Ich versuche herauszufinden, warum er das Drehbuch geschrieben hat, warum er ausgerechnet mich für seinen Film haben will. Wenn ich das verstanden habe, weiß ich, was ich zu tun habe. Als ich mit Marco Ferreri "Das große Fressen" drehte, hat er nur gesagt "Jetzt aufstehen" oder "Bitte setzen", das war alles. Ich hatte das Glück, einige sehr schweigsame Regisseure zu treffen.
SPIEGEL: Wie war das bei Hitchcock? Der war auch nicht für seine Redseligkeit bekannt.
Piccoli: Das war eine kuriose Erfahrung. Er hat für meinen Geschmack tatsächlich etwas zu wenig geredet. So bin ich letztlich nie dahintergekommen, warum er mich für "Topas" haben wollte. Ich habe immer wieder nachgefragt, aber es kam von ihm so gut wie nichts.
SPIEGEL: War er wirklich ein Franzosenhasser?
Piccoli: Er war Engländer, er hat sich über jeden lustig gemacht! Als ich meinen Wohnwagen betrat, war ich sauer, dass er kein Badezimmer hatte. Ich forderte von Hitchcock eine Erklärung, doch er sagte einfach nur: "Geld."
SPIEGEL: Warum blieb "Topas" Ihr einziger Hollywood-Film?
Piccoli: Ich bekam keine Angebote, aber das fand ich nicht schlimm. Die Amerikaner haben genug gute Schauspieler.
SPIEGEL: In diesem Monat werden Sie 86.
Piccoli: Sollte mir das was ausmachen?
SPIEGEL: Ihre Begeisterung für die Schauspielerei ist ungebrochen?
Piccoli: Ja, aber ich könnte mir vorstellen, die Schauspielerei durchs Schreiben zu ersetzen.
SPIEGEL: Wollen Sie Ihre Memoiren schreiben?
Piccoli: Nein, Drehbücher. Ich habe schon mehrere Filme inszeniert und würde in diesem Bereich gern weitermachen.
SPIEGEL: Kein großes, letztes Werk als Schlussakkord Ihrer Karriere?
Piccoli: Schlussakkord? Ich bin Künstler. Künstler sind für die Ewigkeit!
SPIEGEL: Monsieur Piccoli, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.