SPIEGEL-GESPRÄCH „Und immer ein Atrium!“
Ein Mann mit wehendem dunkelgrünen Mantel - fast zwei Meter groß, drahtig, kahler Kopf, Gesicht wie ein Raubvogel - durchmisst mit großen Schritten die Hamburger HafenCity. Vom SPIEGEL-Gebäude am östlichen Entree zum neuen Stadtteil hält er Kurs auf den Bau der Elbphilharmonie ganz im Westen. Zwei Assistenten und zwei Kultur-Redakteure haben Mühe, ihm zu folgen. Rem Koolhaas redet ohne Pause.
Wir hatten den niederländischen Architekten eingeladen, um mit ihm die Hafen-
City zu begehen und ihm das neue Verlagshaus zu zeigen. Ob die HafenCity, Europas größtes Stadtentwicklungsprojekt, gelungen ist - daran gibt es inzwischen Zweifel. Aber auch über das SPIEGEL-Gebäude des dänischen Architekturbüros Henning Larsen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Koolhaas selbst hatte 2006 vergeblich versucht, sich den Auftrag zu sichern, und auch in der HafenCity sollte er bauen, das sogenannte Science Center, doch das Projekt kommt nicht voran.
Koolhaas, 67, ist umstritten. Seinen vor zwei Jahren fertiggestellten spektakulären Bau für das chinesische Staatsfernsehen CCTV in Peking hat der Architekturkritiker der "New York Times" als wichtigstes Gebäude dieses Jahrhunderts bezeichnet; gleichzeitig geriet Koolhaas in Erklärungsnot, weil er einem diktatorischen Staat zu seinem mächtigsten baulichen Symbol verholfen hat. Jetzt ist von Koolhaas (zusammen mit dem Kurator Hans-Ulrich Obrist) das Buch "Project Japan" über die erste nicht-westliche Avantgarde-Bewegung in der Architektur erschienen(*).
Die japanischen Metabolisten hatten in den sechziger Jahren eine Architektur entwickelt, die anders als heute nicht die Interessen privater Investoren und Bauherren in den Vordergrund stellte, sondern die Bedürfnisse des Gemeinwesens - womit man wieder bei der HafenCity wäre. Der Rundgang dauert eine Stunde und endet, wo er begann, im SPIEGEL-Haus, das erst vor wenigen Wochen eingeweiht wurde.
SPIEGEL: Willkommen, Herr Koolhaas, das also ist das neue Gebäude des SPIEGEL, wir stehen hier im Atrium.
Koolhaas: Warum flüstern Sie denn so?
SPIEGEL: Ist uns gar nicht aufgefallen.
Koolhaas: Ich weiß. Die Akustik in diesem Atrium hat Ihnen signalisiert, dass Sie besser flüstern.
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf?
Koolhaas: Die Akustik schluckt den Schall. Die Stille schüchtert Sie ein. Fühlen Sie sich wohl hier?
SPIEGEL: Manche fremdeln noch.
Koolhaas: Das kann daran liegen, dass dies ein sehr ambitioniertes Gebäude ist. Sehen Sie, wir, also mein Büro und ich, arbeiten in einem völlig unscheinbaren Gebäude in Rotterdam. Es könnte nicht gewöhnlicher sein. Es ist aus den sechziger Jahren, es ist ein offener Raum mit einem schönen Blick. Wir sind dort fast ekstatisch glücklich. Warum? Wir können dort alles machen. Wir können diesem Gebäude unsere Persönlichkeit aufdrücken. Bei einem ambitionierten Gebäude wie dem Ihren kann es umgekehrt sein.
SPIEGEL: Man hat das Gefühl, dass der Bau mächtiger ist als die, die darin arbeiten.
Koolhaas: Sie sind ja erst ein paar Monate hier. Sie machen jetzt erst mal einen Lernprozess durch. Wahrscheinlich werden Sie mit der Zeit lernen, Ihr Gebäude zu verstehen. Umgekehrt lernt das Gebäude, Sie zu verstehen.
SPIEGEL: Klingt ein bisschen esoterisch.
Koolhaas: Ist aber so. Unser Gebäude in Rotterdam hat weniger Charakter als Ihres, es hat null Charakter. Wenn ein Gebäude Charakter hat, kann das großartig sein, aber auch ein Hindernis. Es kann Sie einschränken. Ich habe da gemischte Gefühle.
SPIEGEL: Eben in der HafenCity, als wir in der neuen Unilever-Zentrale des Architekturbüros Behnisch standen, sagten Sie, dass Hässlichkeit ein Gebäude offener machen kann.
Koolhaas: Ich finde nicht, dass die Unilever-Zentrale hässlich ist. Aber der Bau ist unordentlicher, chaotischer. Und Unordnung kann stimulierend wirken. Es bietet dem Menschen einfacheren Zugang als die strenge Form. Außerdem war es dort lauter. Aber mit der Zeit werden auch Sie hier lauter werden. Sie scheinen ein bisschen unglücklich zu sein mit diesem Gebäude, das für Sie gebaut worden ist. Und Sie sind skeptisch, wenn es um dieses neue Viertel geht, in dem das Haus steht. Ich habe das Gefühl, Sie brauchen von mir weniger ein Interview als eine Therapiestunde.
SPIEGEL: Ist Skepsis nicht angebracht?
Koolhaas: Vielleicht. Aber ich kann Sie nicht trösten. Heute sind wir überall in einer Situation, in der vieles zusammenspielt und Ergebnisse wie dieses Gebäude oder diese HafenCity hervorbringt, völlig egal ob in Hamburg, Dubai oder China. Es wäre zu einfach zu sagen: Der Architekt hat versagt. Oder die Stadt hat versagt. Oder das böse Investorenkonsortium ist schuld. Nein, es ist das Zusammenspiel all dieser Bedingungen, die seelenlose Bauten hervorbringen.
SPIEGEL: Was sind das für Bedingungen?
Koolhaas: Es gibt heute weniger individuelles Engagement, wenn ein Gebäude errichtet wird. Nehmen Sie das alte SPIEGEL-Gebäude von Werner Kallmorgen. Da kann man davon ausgehen, dass Rudolf Augstein dieses Haus als sein persönliches Statement sah. Für ihn stand etwas auf dem Spiel, als er es bauen ließ. Es sollte die Identität des Magazins spiegeln. Aber heute sind Sie als Bauherr in einer viel abstrakteren und undurchsichtigeren Situation. Das Geld ist wichtiger geworden. Viel mehr Leute reden mit. Ein Gebäude wie dieses ist heute vor allem ein Entwicklungsprojekt. Auch typisch: Ihr Gebäude hat einen Doppelgänger als Nachbarhaus. Der SPIEGEL spiegelt sich. Natürlich öffnet das Tür und Tor für eine Persönlichkeitskrise. Und immer muss es ein Atrium geben! In seiner Leere bildet es die eigentliche Substanz der eigenschaftslosen Stadt.
SPIEGEL: Seelenlose Gebäude in eigenschaftslosen Städten? Kein Trost.
Koolhaas: Seelenlos meint, dass es schwierig ist festzustellen, was ein Gebäude mitteilen möchte. Es ist schwer, die Elemente zu lokalisieren, die den Unterschied machen. In meinem Essay "Die Stadt ohne Eigenschaften" habe ich versucht, diese Seelenlosigkeit zu ergründen, allerdings in Hinblick auf ganze Städte, nicht auf Häuser. Wir bauen heute Fließbandstädte und Fließbandhäuser. Standardisierte Häuser und Städte.
SPIEGEL: Dann ist die HafenCity, die wir uns vorhin angesehen haben, die typische Stadt ohne Eigenschaften?
Koolhaas: Ja. Diese unheimliche Vertrautheit. Als wäre man dort schon mal gewesen. War man aber nicht. Es sind all die vertrauten Bausteine, die immer wieder neu zusammengestellt werden. Allein wenn man aus Ihrem Haus die Hauptader der HafenCity hinunterschaut - diese Straße erzählt die ganze Geschichte der Architektur der letzten zehn Jahre: keine klaren Ambitionen.
SPIEGEL: Wir haben die Kontrolle über unsere Städte aus der Hand gegeben?
Koolhaas: Es gibt immer noch einen Grad von Restkontrolle. Also den Versuch, über gleiche Höhen, gleiche Materialien und ein ähnliches bauliches Vokabular eine Einheit zu schaffen. Das sollen Respektsbezeugungen sein. Und obwohl hier nur etablierte Architekten zugelassen wurden, sind die Resultate enttäuschend. Trotz allen Aufwands. Und das ist überall so.
SPIEGEL: In "Die Stadt ohne Eigenschaften" stellen Sie die Frage, ob es nicht vielleicht gewollt ist, dass unsere Städte immer gleicher, immer gesichtsloser aussehen.
Koolhaas: Ja. Und die Antwort könnte lauten: Die traditionelle Stadt ist sehr von Regeln und Verhaltenscodes besetzt. Die Stadt ohne Eigenschaften aber ist frei von eingefahrenen Mustern und Erwartungen. Es sind Städte, die keine Forderungen stellen und dadurch Freiheit schaffen. Eine Stadt wie Dubai hat 80 Prozent Einwanderer, Amsterdam 40 Prozent: Ich glaube, für diese Bevölkerungsgruppen ist es einfacher, durch Dubai, Singapur oder die HafenCity zu laufen als durch schöne mittelalterliche Stadtkerne. Denn die strahlen für diese Menschen nichts als Ausschluss und Zurückweisung aus. In einem Zeitalter der massenhaften Immigration muss es vielleicht auch zu einer massenhaften Ähnlichkeit der Städte kommen. Diese Städte funktionieren wie Flughäfen: Die immer gleichen Geschäfte sind an den immer gleichen Stellen. Alles ist über die Funktion definiert, nichts über die Geschichte. Das kann auch befreiend sein.
SPIEGEL: Der Philosoph Peter Sloterdijk hat Ihren Aufsatz "Die Stadt ohne Eigenschaften" als eine "Stunde null der Architekturgeschichte" bezeichnet. Wie kamen Sie auf die Idee, die Verwechselbarkeit als eine gezielte Entwicklung zu beschreiben?
Koolhaas: Weil wir ja immer nur jammern. Sie doch auch: Warum sieht das alles hier so austauschbar aus? Nun, weil es vielleicht Menschen gibt, die das so mögen. Ich habe immer Porträts über einzelne Städte erstellt. "Delirious New York" war mein erster Aufsatz.
SPIEGEL: Er hat Sie schlagartig berühmt gemacht als Architekturtheoretiker. Das war 1978, bevor man Sie überhaupt als Architekten kannte.
Koolhaas: Später habe ich Städte wie Atlanta, Singapur und Lagos analysiert. Ich habe mich immer mit sehr besonderen und einzigartigen Städten beschäftigt. Doch plötzlich fiel mir auf, dass die Unterschiede dieser Städte gar nicht so interessant sind. Ich wollte ihre Gemeinsamkeiten erkennen. Der Text "Die Stadt ohne Eigenschaften" sollte sich auf jede Stadt anwenden lassen.
SPIEGEL: Man könnte das Antlitz unserer Städte auch als das Gesicht des Neoliberalismus bezeichnen.
Koolhaas: Unter dem Neoliberalismus verlor die Architektur ihre Rolle als entscheidende und grundlegende Artikulation einer Gesellschaft.
SPIEGEL: Wie artikuliert sich denn eine Gesellschaft?
Koolhaas: Der Plattenbau, zum Beispiel. Egal wie fehlgeleitet sich das alles am Ende herausstellte, war das doch eine ziemlich klare Artikulation. Der Neoliberalismus aber hat Architektur zu einer "Cherry on the cake"-Angelegenheit gemacht. Hierfür ist die Elbphilharmonie das beste Beispiel. Das ist ein Sahnehäubchen. Ich sage nicht, dass der Neoliberalismus die Architektur zerstört hat. Aber er hat ihr eine neue Rolle zugewiesen und ihren Spielraum eingegrenzt.
SPIEGEL: Immer mehr Städte haben in den vergangenen Jahren Grundstücke an internationale Investoren verkauft. Die haben dann Architektur nicht städtebaulich, sondern rein ökonomisch betrachtet.
Koolhaas: Es ist noch ein bisschen komplizierter. Denn gleichzeitig hat das politische System versucht, einen Anschein von Kontrolle aufrechtzuerhalten, indem es viele Regeln aufgestellt hat: Welche Höhe eingehalten werden soll, welche Materialien benutzt werden müssen, welche gestalterische Sprache die Fassaden sprechen sollen. Damit wurde darüber hinweggetäuscht, wie sehr die Macht über die Nutzung den Investoren überlassen wurde. Der kommerzielle Impuls gepaart mit bürokratischen Regeln führt dann zu diesen sehr unbefriedigenden Ergebnissen: Man hat weder die Strukturen eines uneingeschränkten ökonomischen Drangs, die New York oder London so aufregend machen, noch die klare Planung der deutschen Städte aus der Gründerzeit.
SPIEGEL: Wünschen Sie sich wieder eine stärkere staatliche Lenkung? Diese Sehnsucht scheint durch in Ihrem neuen gigantischen Buch über die Metabolisten, eine im Westen weitgehend unbekannte japanische Architektengruppe.
Koolhaas: Richtig. Der Staat war nicht immer jene hoffnungslose und machtlose Einheit, als die er heute im Westen oft wahrgenommen wird. Das lernt man von den Metabolisten, die 1960, von der Regierung beauftragt, die strukturellen Schwächen ihres Landes bekämpfen sollten: Erdbeben, Tsunamis, die Parzellierung des Landes. Interessant an der metabolistischen Bewegung ist außerdem: Ihre Mitglieder waren zwar große Individualisten, sie agierten aber als Gruppe. Diese Möglichkeit existiert heute nicht mehr. Der Zwang zum Wettbewerb hat die Architekten vereinzeln lassen.
SPIEGEL: Erstaunlich, Sie selbst haben doch sehr von dem Starsystem profitiert, das die Großprojekte der internationalen Architektur heute beherrscht?
Koolhaas: Wir Architekten bekommen heute mehr Aufmerksamkeit, das stimmt. Dafür werden wir auch weniger ernst genommen. Vielleicht ist dies dann doch der therapeutische Moment unseres Gesprächs: Ich weigere mich nämlich, eine Krise einzugestehen. Ist die HafenCity wirklich Ausdruck einer Krise? Möglich, dass da nur die oberen zehn Prozent wohnen. Das mag man kritisieren. Aber: Wenn diese oberen zehn Prozent mit dieser Art von Architektur vollauf glücklich sind, sollten wir das vielleicht zumindest registrieren.
SPIEGEL: Interessiert das einen Stararchitekten wie Sie überhaupt, ob die Leute jammern, die in Ihren Gebäuden leben oder arbeiten? Wie ist das bei Ihrem Gebäude für das chinesische Staatsfernsehen CCTV in Peking?
Koolhaas: Das nehme ich sehr ernst. Ich bin immer noch einmal im Monat in Peking. Sogar in China werden die Nutzer des Gebäudes in den Prozess einbezogen. Wir hören sie und ihre Vorschläge an. Das ist sogar dort ein sehr demokratischer Prozess.
SPIEGEL: Vor zehn Jahren mussten Sie sich entscheiden, ob Sie in den Wettbewerb für die Neubebauung von Ground Zero einsteigen oder sich um den Bau des CCTV-Turms bewerben. Sie haben sich für China entschieden. Lässt es sich dort einfacher bauen als in den westlichen Demokratien?
Koolhaas: Es ist niemals einfach zu bauen. Chinesen zu überzeugen, ist genauso schwer, wie Amerikaner oder Deutsche zu überzeugen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Verantwortlichen in China Mitte dreißig sind. In den USA sind sie Mitte siebzig.
SPIEGEL: Ein autoritärer Staat bietet der Architektur mehr Möglichkeiten?
Koolhaas: Sie werden mich nicht dazu bringen, das zu unterschreiben. Ich bin nicht pessimistisch, wenn es um die Perspektive des Westens geht: um die demokratische Gesellschaft und die Möglichkeit, hier starke Statements zu bauen. Ich habe nur auf den Ground-Zero-Wettbewerb verzichtet, weil mir der Vergangenheitsbezug dieses Projekts zu deutlich war. In China gibt es eine größere Bereitschaft zum Experiment. Dort wird so viel gebaut, ganze Städte, dass notwendigerweise größere Risiken eingegangen werden. Scheitern ist dort keine Katastrophe.
SPIEGEL: Stimmt es, dass nur fünf Prozent Ihrer Entwürfe gebaut werden?
Koolhaas: Ja.
SPIEGEL: Muss frustrierend sein.
Koolhaas: Das ist unser schmutziges Geheimnis. Wir Architekten werden als Helden gefeiert, dabei ist Erniedrigung unser Alltag. Der größte Teil unserer Arbeit für Wettbewerbe und Ausschreibungen verschwindet automatisch. Kein anderer Berufsstand würde solche Bedingungen akzeptieren. Diese Entwürfe aber darf man nicht als Verschwendung betrachten, es sind Ideen. Sie werden in Büchern überleben.
SPIEGEL: Sie haben vor ein paar Jahren einen spektakulären Entwurf für ein Wissenschaftsmuseum hier in der HafenCity präsentiert, das sogenannte Science Center. Gebaut wurde es bisher nicht.
Koolhaas: Lange nichts mehr gehört davon.
SPIEGEL: Wie lange haben Sie an dem Entwurf gearbeitet?
Koolhaas: Drei Jahre vielleicht.
SPIEGEL: Und dann?
Koolhaas: Dann hörte man plötzlich nichts mehr. Man erreicht niemanden mehr. Das Letzte, was wir hörten, war: Eine junge Frau versuche nun, aus unserem Entwurf für ein Museum ein Wohnhaus zu machen.
SPIEGEL: Ist so etwas normal?
Koolhaas: Ziemlich typisch. Irgendwann hat man sich nichts mehr zu sagen. Die Gelder sind eingefroren, das Projekt ist in der Warteschleife, und beide Seiten verlieren langsam die Lust.
SPIEGEL: Haben Sie eine Telefonnummer, die Sie mal anrufen können?
Koolhaas: Ja, aber der Verantwortliche aus der Stadtbehörde hat auch schon zweimal gewechselt. Ich glaube, uns kennt da gar keiner mehr.
SPIEGEL: In der HafenCity stehen 14 Prozent der Büroflächen leer, Wohnungen hingegen werden gebraucht: Wie entsteht solche Fehlplanung?
Koolhaas: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte: 1980 hatte ich das Angebot, in einer Industriegegend in Amsterdam Sozialwohnungen zu bauen. Die Idee war es, den sozialdemokratischen Traum vom modernen Wohnen zu verwirklichen: Großzügige Bauten, keine kleinteilige kommerzielle Nutzung. Fünf Jahre später, genau in dem Jahr, als die Bauten fertig wurden, fuhr eine Delegation derselben sozialdemokratischen Partei, die uns beauftragt hatte, nach Baltimore. Dort war man dabei, den Hafen zu gentrifizieren, Wohnungen für Mittel- und Oberschicht wurden gebaut und schicke Geschäfte eröffnet, ein bisschen wie hier in Hamburg. Die Sozialdemokraten kamen wieder und wollten von unseren Sozialwohnungen nichts mehr wissen: Diese karge, sozialistische Architektur fanden sie auf einmal schrecklich.
SPIEGEL: Das bedeutet?
Koolhaas: Als Architekt bewegt man sich in einem instabilen ideologischen Umfeld. Was heute gilt, kann in 5 Jahren total falsch sein, und in 25 Jahren ist es das ganz bestimmt. Lächerlich.
SPIEGEL: Trifft Sie die Kritik? Man kann Sie ja auch dafür angreifen, dass Sie einer Diktatur wie China das Symbol ihrer Macht hingestellt haben.
Koolhaas: Ich habe jede Kritik in dem Zusammenhang ernst genommen. Meine Antwort war immer: Was aus China wird, betrifft auch uns. Deswegen ist es wichtig, dass wir dort mitmischen. Ich habe bestimmte Hoffnungen für China, aber ich bin mir auch des Risikos bewusst, dass das Land sich in eine ganz andere Richtung bewegen könnte.
SPIEGEL: Ist es nicht merkwürdig, dass dieses neue selbstbewusste China einen westlichen Architekten beauftragt?
Koolhaas: Als ich den Auftrag bekam, 2002, war für kurze Zeit ein Fenster offen. Ich glaube nicht, dass sie den Auftrag heute immer noch an einen westlichen Architekten vergeben würden.
SPIEGEL: Sind Sie traurig, dass Sie den Auftrag für das SPIEGEL-Haus nicht bekommen haben?
Koolhaas: Wissen Sie, man kann viel entwerfen und bauen als Architekt, aber es gibt nur eine Handvoll Gebäude, die man unbedingt machen will. Weil man das Gefühl hat, dass es für das eigene Leben eine unmittelbare Relevanz hat. Ich war selbst Journalist bei einem Wochenmagazin, und ich bin bis heute ein Bewunderer des SPIEGEL.
SPIEGEL: Aber?
Koolhaas: Wir haben immer wieder unser Interesse bekundet. Dann trafen wir uns mit der Person, die die Ausschreibung geleitet hat, weil wir einen direkten Auftrag bekommen wollten.
SPIEGEL: Sie wollten nicht an dem Wettbewerb teilnehmen?
Koolhaas: Nein. Wir glauben, dass Direktaufträge zu besseren Gebäuden führen. Bei Wettbewerben sind Sie zu Kompromissen gezwungen.
SPIEGEL: Mögen Sie unser Gebäude jetzt oder nicht?
Koolhaas: Sie werden sich daran gewöhnen. Aber ich glaube, Sie müssen die Lobby für sich erobern. Kaufen Sie sich zwei Teppiche, nähen Sie die beiden Teppiche zusammen, kaufen Sie einen dritten, und deklarieren Sie die Lobby als besetzt. Occupy SPIEGEL!
SPIEGEL: Herr Koolhaas, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.