RUMÄNIEN Aufbruch ins Leben
Der Doktor ist zurück. Jubelnd werfen sich die Heimbewohner auf den Kinderarzt, fast erdrücken sie ihn mit ihrer Kraft: Groß sind sie geworden und stark. Pavel Oarcea, ein kleiner Mann von 63 Jahren, geht beinahe unter in diesem Pulk, aber er genießt die Zuneigung seiner früheren Schützlinge.
Er sagt noch immer "meine Kinder", obwohl sie längst erwachsen geworden sind: die Bewohner von Cighid, einem ehemaligen Jagdschloss im Westen Rumäniens, rund 60 Kilometer von der Kreisstadt Oradea entfernt.
Pavel Oarcea war im Frühjahr 1990 zum ersten Mal hierhergekommen. Der Sturz des Diktators Nicolae Ceauşescu lag nur wenige Monate zurück, eine Gruppe aus Partei, Armee und Sicherheitsorganen hatte sich an die Spitze des Volksaufstands gesetzt und das Regime hinweggefegt. Am 25. Dezember 1989 wurden Ceauşescu und seine Frau hingerichtet. Es war jene Zeit, in der sich der Vorhang erstmals lüftete, der jahrzehntelang sein Schreckensreich umgeben hatte - unfassbare Bilder gelangten dabei an die Öffentlichkeit. Auch aus Cighid.
SPIEGEL und SPIEGEL TV berichteten damals über jenes Haus, das bald als "Schloss des Grauens" bekannt wurde: ein Heim für überwiegend behinderte Waisenkinder. Mehr als hundert vegetierten in Cighid dahin: verwahrlost, unterernährt, schutzlos der Kälte ausgesetzt.
Viele der Kinder waren in einem "Isolator" festgehalten worden - einem Verlies mit einem schweren Riegel davor. Andere wurden in einem Zwinger gehalten. In zweieinhalb Jahren waren in Cighid 139 Kinder gestorben, die Leichen hatte man auf einem Acker verscharrt.
Der Bericht über Cighid - "Nacht der Zivilisation" hatte ihn der SPIEGEL genannt - löste ein gewaltiges Echo aus. Viele Menschen wollten helfen, 3,1 Millionen Mark an Spendengeldern gingen damals in wenigen Monaten auf einem Spendenkonto ein. Sanitäter und Kinderpsychologen machten sich auf den Weg.
Für zwei weitere Heimbewohner kam diese Hilfe zu spät, sie starben, noch bevor die ersten Ärzte erschienen. Die anderen aber konnten gerettet werden. Gut 21 Jahre später lässt sich sagen: Es war diese überwältigende Hilfsbereitschaft, die den Kindern half, ins Leben zurückzufinden, sie haben die Hölle von Cighid überstanden.
Doktor Oarcea, ein renommierter Kinderarzt aus Oradea, hat einen großen Anteil daran. Er wurde damals von rumänischer Seite in das Waisenheim geschickt, denn auch in Bukarest hatten die Berichte Empörung ausgelöst.
Mit Behinderten hatte Oarcea bis dahin nichts zu tun gehabt, aber er machte sich sofort an die Arbeit. Er stellte neues Pflegepersonal ein und versuchte, eine Beziehung zu den völlig verstörten Kindern zu finden. "Ich bin in dieser Zeit ein anderer Mensch geworden", sagt Oarcea heute, "ich konnte nicht mehr fort." 17 Jahre lang leitete er das Heim, das inzwischen saniert und modern ausgestattet worden ist. Die Kinder von damals blieben als Gruppe zusammen, die meisten von ihnen sind noch heute in Cighid.
Angela Fechete gehört zu ihnen, eine inzwischen 33-jährige Frau, die sich lachend an den Doktor schmiegt. Damals, im Frühjahr 1990, saß Angela in einer Art Stall, der mit einem Vorhängeschloss versehen war, sie kauerte auf dem Boden und bewarf Besucher mit Kot. Jeden Abend wurde sie mit Chlorpromazinhydrochlorid ruhiggestellt, einem starken Psychopharmakon. Das Mädchen galt als besonders aggressiv; gefüttert wurde Angela Fechete aus einem Blechtrog, in dem sich ein ranziger Brei befand.
"Sie konnte nicht mal weinen", erinnert sich Pavel Oarcea. "Ich war geschockt: Selbst das Weinen mussten die Kinder von Cighid erst lernen." Viele der unter ähnlichen Bedingungen eingepferchten Heimbewohner konnten nicht aufrecht gehen, weil ihre Beinmuskulatur verkümmert war, andere konnten nicht sprechen, weil jahrelang kaum mit ihnen geredet worden war. Sie stießen schwerverständliche Laute aus, warfen sich im Bett hin und her und schlugen sich den Kopf blutig.
"Irecuperabili", die Unwiederbringlichen, wurden sie genannt. "Man hätte die Kinder töten sollen, als sie auf die Welt kamen", sagte Pflegerin Boros Gyöngyi, 27, im Frühjahr 1990 in die Kamera von SPIEGEL TV. Schuldgefühle hatte sie nicht, obwohl allein ein paar Decken und ein geheizter Ofen Kinderleben gerettet hätten - selbst im verwahrlosten Heim von Cighid, in dem sich sechs Pflegekräfte um 109 Kinder kümmern mussten.
Das Jahr 1990 war für viele von ihnen das Jahr der Wiedergeburt. Kaum aus ihrem Kerker befreit, machte auch Angela Fechete Fortschritte. Bald konnte sie weinen, bald lachen, später begann sie sogar zu sprechen.
Heute teilt sie sich mit anderen Behinderten ein helles und gepflegtes Zimmer in einem der Häuser, die in den vergangenen Jahren in Cighid neu erbaut worden sind. "Sie kommt fast allein zurecht", sagt Heimleiterin Daniela Nistor, 46. "Sie macht selbst ihr Bett, putzt sich die Zähne und wählt die Kleider aus, die sie anziehen will." Sie koche, nähe und putze gern und kümmere sich rührend um eine Mitbewohnerin, eine Autistin, die außer Angela Fechete niemanden an sich heranlasse.
"Die Kollegen haben damals praktisch bei null angefangen", sagt die Psychologin Mirela Saupe, 34, die gemeinsam mit Sozialarbeitern, Logopäden und Pflegern einige der Cighid-Kinder ins Leben führte. "Wir haben ihnen beigebracht, wie man sich wäscht, wie man einkauft oder über die Straße geht und wie man auf andere Menschen eingehen muss."
Die Kinder hätten "kein Ich-Gefühl, keine eigene Identität" gehabt, sagt die Psychologin: "Es war, als wären ihre Seelen zerstückelt gewesen - wir mussten sie wie bei einem Puzzle mühsam wieder zusammensetzen."
Wie im Zeitraffer holten die Kinder nach, was sich Gleichaltrige längst angeeignet hatten. Einige schafften es in die Dorfschule und wurden dort sogar Klassenbeste. Cighid, lange Jahre ein Ort des Grauens, wurde zum Musterheim und weckte Neid in der Nachbarschaft.
Fast schon vergessen ist, dass die Kinder von Cighid 1990 dem Tode geweiht waren. Sie wurden Opfer eines Systems, das einerseits die Frauen zum Gebären anhielt, sich um kranke und behinderte Kinder aber nicht kümmern mochte: um solche, die missglückte illegale Abtreibungsversuche überlebt hatten, aber schwer behindert zur Welt gekommen waren; um Kinder von Roma, die nicht die Mittel hatten, sich um ihren zahlreichen Nachwuchs zu kümmern; oder um die geschädigten Nachkommen von Alkoholikern.
Die besonders Schwachen kamen nach Cighid, wo viele wegen der katastrophalen Zustände an heilbaren Krankheiten starben. Lungenentzündungen rafften sie dahin, Durchfälle, Abszesse. Es war die rumänische Variante von Euthanasie.
Die Kinder von Cighid werden heute individuell betreut. Die schweren Fälle sind in einer Einrichtung im Ort Tinca untergebracht, die mittelschweren wie Angela Fechete in Cighid, wo sich Heimleiterin Nistor mit 53 Angestellten um ihre Schützlinge kümmert. Die anderen leben in Wohngemeinschaften in Oradea oder führen ein eigenständiges Leben, das sich kaum von dem Gleichaltriger sonst wo auf der Welt unterscheidet.
So wie Iosif Balog, 26. In dem ersten Beitrag, den SPIEGEL TV 1990 sendete, ist der Fünfjährige zu sehen, wie er hilflos in einem Gitterbett kauert. "Wenn die Helfer damals nicht gekommen wären, wäre er längst tot", glaubt Doktor Pavel Oarcea.
Heute kommt Iosif allein zurecht. Er arbeitet seit sechs Jahren in einer Schuhfabrik in Oradea und hat eine eigene Wohnung. Sein Chef Ionel Baciu schätzt seinen jungen Mitarbeiter: Iosif sei bislang kein einziges Mal zu spät gekommen, sagt Baciu. Und er tue seinen Kollegen gut, er strahle etwas Positives aus: "Er ist jung, er kann es bei uns noch weit bringen."