DOKUMENTATIONEN Der Straßenjunge
Zwei Männer haben sich gerade nichts zu sagen. Der eine ist Wladimir Putin, Russlands starker Mann, der andere Hubert Seipel, deutscher Dokumentarfilmer. Eben noch haben sie gutgelaunt für die Kamera geplaudert, sehr telegen in einer Regierungslimousine, die durch die abgesperrten Straßen von Moskau rast. Putin ist in aufgeräumter Stimmung, lächelt viel. Dann stockt das Interview, das Gespräch läuft wie auf eine Sandbank auf. Schweigen. Draußen ziehen die Häuser der Hauptstadt vorbei. Putin blickt angestrengt aus dem Fenster, presst die Lippen aufeinander. Seipel greift sich ans Kinn. Verlegenheitsgesten.
Die Szene dauert nur ein paar Sekunden - und Seipel wird sie nur für die Langfassung seines Films verwenden -, aber sie zeigt perfekt, wie schwer den zwei Männern, die außer diesem Film nichts verbindet, die plötzliche Intimität fällt. Der Versuch, Putin näherzukommen, ist für beide Seiten anstrengend.
Es ist das erste von mehreren langen Interviews, die Seipel für seinen Film "Ich, Putin" (ARD, 27. Februar, 22.45 Uhr) mit dem mächtigsten Mann Russlands führt. Jedes ist ein Balanceakt. Beide versuchen, die Nähe für sich zu nutzen. Und beide wissen, dass der andere diese Nähe für sich nutzen will.
Bisher gibt es keine einzige filmische Nahaufnahme des mächtigen Russen. Schon gar nicht aus der Sicht eines westlichen Journalisten, der die Dinge so zusammenschneidet, wie es ihm passt. Nähe gewährt der Premier Journalisten eigentlich nicht. Sie sind nicht mehr als Erfüllungsgehilfen für seine aufwendigen Propagandainszenierungen, seine Showeinlagen in Formel-1-Autos und Kampfflugzeugen.
Bei Putins öffentlichen Auftritten begleitet ihn der sogenannte Kreml-Pool, ein Tross von mehr als zwei Dutzend handverlesenen Journalisten. In seiner Residenz vor den Toren Moskaus vertreiben sie sich mit stundenlangem Billardspielen die Zeit, wenn sie wieder mal auf den chronisch zu spät kommenden Putin warten. Mancher von ihnen beäugte voll Neid, wie der Premier Seipel Tor und Tür öffnete und sich Interviews stellte, in denen es - außer Privatem - kein Tabu gab.
Der TV-Mann kommt dem Premier, der wieder Präsident werden will, sehr nahe, ohne ihm auf den Leim zu gehen. Es gelingt ihm, die Inszenierung, die sein Gegenüber vielleicht im Sinn gehabt hat, zu durchbrechen. Putin spielt den Starken - und Seipel zeigt, welche Schwäche und Traurigkeit darin liegt, das dauernd nötig zu haben.
Zweieinhalb Jahre hatte Seipel auf diesen Film hingearbeitet. Er schrieb Anfragen an das Pressesekretariat im Kreml, und er nutzte zugleich einen zweiten vertraulichen Kanal zu einem, der wiederum das Vertrauen Putins hat. Zwei Jahre geschah nichts. Dann lud Putin ihn zu sich ein.
Seipel ist ein erfahrener politischer Filmemacher. Er hat Dutzende Dokumentationen zu komplizierten Themen gemacht, vom Kosovo-Krieg bis zur VW-Affäre. Er hat den Grimme-Preis und den Deutschen Fernsehpreis gewonnen.
Und nach anfänglichen Kindereien ließ sich Putin auch ganz allmählich auf den Film ein, und der kommt weg von den sattsam bekannten offiziellen Bildern, hin zu denen, die in die Kulissen der Macht schauen und die Frage beantworten: Wie ist es eigentlich, Putin zu sein?
Die Szenen, die Seipel zusammenträgt, geben eine klare Antwort: einsam. Da ist Putin nachts allein beim Eishockeytraining in menschenleerer Halle. Putin morgens im Schwimmbad, wieder allein, nur begleitet von Labrador-Hündin Koni, die dem Premier durchs Gesicht schleckt. Putin wieder beim nächtlichen Eishockey, diesmal in der Mannschaft seiner Bodyguards gegen die Leibwächter Medwedews (ohne Medwedew). Putin in der Pause des Spiels, alt und erschöpft, allein sitzend, wieder mal. Allein auf dem Weg zum Kabinett. Egal, wo er auftaucht, selbst beim männermäßigen Jagen im tiefsten Sibirien mit lauter Kumpeln - alle halten eine Art Sicherheitsabstand. Putin sitzt immer für sich.
Der Premier will sich als fit mit 59, sportlich, kraftstrotzend, männlich zeigen, als immer noch virilen Gegenentwurf zu seinem Vorgänger im Präsidentenamt, dem erschlafften Säufer Jelzin. Das ist ja auch der tiefere Sinn all dieser inszenierten Bären- und Lachsjagd-Bilder, die man so kennt.
Doch bei Seipel wirkt das nicht mehr viril, sondern anstrengend und freudlos, wie da einer verbissen gegen seinen körperlichen Verfall ankämpft. Vor allem, wenn die Inszenierung misslingt. Beim Judo in seinem alten Verein in St. Petersburg legt eine junge Frau Putin aufs Kreuz, was der so gar nicht locker nehmen kann. Er muss sich sofort revanchieren, und schleudert sie grimmig auf die Matte.
Putin, sagt Seipel, "will verstanden werden und kann nicht verstehen, warum wir ihn nicht verstehen". Sein Film interessiert sich vor allem für die Psychologie des Premiers. Ein Schlüsselsatz ist dessen Antwort auf die Frage, warum er eigentlich Judo trainiert habe in seiner Jugend. Das war ein "Instrument", sagt Putin, "um die Position im Rudel zu behaupten".
Putin, das ist bei Seipel ein Straßenjunge, clever und zur Not brutal, der zwar an die Spitze vorgestoßen ist, aber nicht zur Elite passt. An dem Abend, an dem in Moskau das Bolschoi-Theater wiedereröffnet wird, sieht man Medwedew in der Zarenloge über den im Parkett sitzenden Reichen der Hauptstadt thronen. Und was macht Putin? Er schiebt sich allein durch die Eishalle und übt sich darin, den Puck zu treffen.
Gewöhnlich hält Putin von Journalisten nichts. "Er neigt zu Verschwörungstheorien und hält jeden Journalisten für käuflich", sagt der bekannte Fernsehjournalist Nikolai Swanidse. Als der Premier vor einem Monat die einflussreichsten Chefredakteure einbestellte, kanzelte er den Chefredakteur des kritischen Radiosenders Echo Moskau Alexej Wenediktow ab, der ihn von "morgens bis abends mit Scheiße übergieße". Am vergangenem Dienstag wurde Wenediktow auf Druck des Kreml aus dem Aufsichtsrat des Senders geworfen.
Dass er mit einem Reporter des deutschen Fernsehens so nicht umspringen kann, weiß Putin. Er gibt sich also offen. Aber in manchen Interviews mit Seipel ist zu spüren, wie genervt er von den ewigen Fragen nach der Kritik des Westens an seiner Politik ist. "Das hatten wir schon", sagt er dann.
Putin hat den Filmemacher auf seine Weise umgarnt. Er war nicht kumpelig. Aber er signalisierte Sympathie, lud den Filmemacher auch mal einfach so und ohne Kamera zum mehrstündigen Feierabend-Nachtmahl zu zweit. "Er ist politisch Lichtjahre von mir entfernt", sagt Seipel. "Ich habe auch erst im Laufe der Arbeit allmählich verstanden, wie er tickt. Dass er mir als Mensch unsympathisch war, kann ich trotzdem nicht sagen."
Einmal ließ Putin seinen Tross irgendwo draußen vor Moskau stoppen und winkte Seipel und seinen Kameramann aus dem Wagen. Er wolle ihnen etwas Besonderes zeigen, sagte er und führte sie über einen schmalen Weg bis zu seiner Privatkapelle. Dort sprach er über seinen Glauben und wie ihn seine Mutter heimlich taufen ließ. Die Verführung, diese Bilder des ganz privaten Putin groß auszustellen, muss enorm gewesen sein. Doch Seipel war die Szene zu nah. Er ließ sie in seinem Film einfach weg.