Amerikas Alptraum
Das Konzept von "Jersey Shore" ist denkbar einfach: acht junge Leute, die eine Zeitlang zusammen wohnen und gern feiern. Ein Haus voller Kameras und Kamerabegleitung, wenn sie ausgehen. Keine Aufgaben, die bewältigt werden müssen, kein Rauswählen von Langweilern, keine nervigen Moderatoren.
In diesem kleinstmöglichen Setting erzählt die Reality-TV-Serie, deren inzwischen fünfte Staffel jeden Samstag auf MTV im amerikanischen Original zu sehen ist, von der Zukunft der Arbeiterklasse. Davon, was passiert, wenn die einfachen Jobs weg sind, wenn eine Schicht, deren Lebensunterhalt einmal auf körperlicher Arbeit basierte, nichts mehr zu tun hat. Wenn das, was früher Freizeit war, zur Hauptbeschäftigung wird.
Hauptfigur ist Nicole "Snooki" Polizzi, 24, ehemalige Tierarzthelferin, anderthalb Meter klein, Krawallschwester Nummer eins. Unberechenbar, komisch und frei von jeder Impulskontrolle.
Als "Jersey Shore" 2009 startete, wurde Snooki sofort berühmt - auch weil sie den unterlegenen Präsidentschaftskandidaten John McCain "süß" fand. Der Senator twitterte ihr geschmeichelt, im Gegensatz zu Präsident Obama sei er gegen Steuern für Bräunungsstudios. Für die fünfte Staffel hat sich "Snooki" ein Hasenkostüm zugelegt: Verkleidet trinkt es sich noch enthemmter.
Außerdem dabei: Pauly D, 31, DJ, Frauenheld und Taugenichts. Michael "The Situation", 30, Ex-Fitness-Studio-Manager, ebenfalls Taugenichts. Jennifer Farley, 26, auch "JWoww" genannt, Clubpromoterin, Krawallschwester Nummer zwei.
Niemand von ihnen sieht im klassischen Sinn gut aus. Alle sind tätowiert, alle so braungebrannt, dass die Hautfarbe manchmal ins Violette spielt. Die Männer sind muskelbepackt und haben Frisuren, als hätte ihnen jemand ein flaches Tortenstück auf den Kopf gestellt. Die Frauen sehen aus wie Darstellerinnen in Amateurpornos. Die Subkultur der "Guidos" und "Guidettes" - eine despektierliche Bezeichnung für Italo-Amerikaner - darzustellen, das war ursprünglich die Idee der Serie.
Die erste Staffel spielte in einem Ferienhaus an der Küste von New Jersey, sie wurde ein überraschender Erfolg. Für die zweite Staffel verpflanzte MTV die Gruppe nach Miami. In der dritten Staffel kamen sie zurück nach New Jersey, um für die vierte Staffel ins italienische Florenz zu ziehen. Nun sind sie wieder da, wo alles anfing.
Aber der Ort macht keinen Unterschied, das Leben der acht Bewohner vollzieht sich auf einer ewig gleichen Bahn. Zu Hause sitzen, reden, streiten, saufen, ausgehen, weitermachen, irgendwann in einer Rangelei mit Fremden landen oder richtigen Streit untereinander kriegen, sich anschreien, nach Hause torkeln, das besser zu zweit als allein. Sex. Schlafen. Aufwachen. Versöhnungsgespräch. Ein neuer Tag beginnt.
Dieser erzählerische Leerlauf bildet das Grundrauschen, über dem "Jersey Shore" sein eigentliches Thema entfaltet: die stetige Verfeinerung des Lebensstils der acht. Wie sie tanzen, wie sie ihre Haare tragen, wie sie das Richtige anziehen, um es wieder auszuziehen.
All das muss immer neu beschrieben und besprochen werden. Im Internet kursieren Listen mit den Wörtern, die über die Serie ihren Weg in den Alltag gefunden haben, von "to shmove" (vögeln) bis "Sloppopotamus" (eine unattraktive Frau, die mit jedem ins Bett geht). Das Akronym DTF (es steht für "down to fuck", bevorzugter Kontext: "She's DTF, bro'") dürfte "Jersey Shore" zwar nicht erfunden, aber popularisiert haben.
Tatsächlich sind die Protagonisten von "Jersey Shore" das beste Beispiel für das, was Soziologen "immaterielle Arbeit" nennen, die Verwertung aller Lebensäußerungen. Und sie sind glücklich damit.
New Jersey wird in den USA die "Achselhöhle Amerikas" genannt. Die Popkultur kannte New Jersey bislang nur aus den Songs von Bruce Springsteen. Seit fast 40 Jahren schon erzählt er auf seinen Alben von den Eltern dieser jungen Leute aus der Fernsehserie, von Menschen, die früher einmal einen Job in einer Fabrik hatten und nun verzweifeln, weil sie keinen Sinn mehr im Leben finden, weil sie das Gefühl haben, eine riesige Abrissbirne würde ihnen ihre Vergangenheit und ihre Jugend nehmen.
Dieses Verlustgefühl gibt es in "Jersey Shore" nicht einmal mehr in Spurenelementen. Der alten körperlichen Arbeit trauern sie nicht hinterher. Wie auch. Sie haben sie nie kennengelernt. Den Kindern der alten Arbeiterschicht geht es ganz gut im neuen Dienstleistungskapitalismus. Die Protagonisten von "Jersey Shore" arbeiten nicht mehr, um zu leben, ihr Leben ist ihre Arbeit.