SCHICKSALE Morgen seid ihr tot
Jetzt. Dumbo schläft. Alles ist gepackt, Wasser, Fladenbrot, Handgranaten, die Plüschtiere, die Tagebücher. Zwölf Minuten nach Mitternacht am 15. März 2012. Kein Strom seit Tagen, das Funkgerät der Bewacher wird nicht funktionieren. Die Drohnen kreisen, ihr Lärm schluckt verräterische Geräusche. Vollmond ist lange vorbei, die Dunkelheit wird sie schützen. 259 Tage in der Gewalt der Taliban. Sie haben die Flucht seit Wochen geplant, haben zwei Generalproben gemacht. 25 Schritte von ihrem Zimmer bis zum Haupttor. Im Hof den Reifen des Motorrads aufstechen. Eine Minute und 15 Sekunden absolute Gefahrenzone. Hinter der Mauer liegt die Freiheit, vielleicht. Oder der Tod, wenn man sie entdeckt. David öffnet die Tür, flüstert zu Daniela: "Jetzt."
Tagebucheintrag vom 10. März 2012, fünf Tage vor der Flucht
Was ich gelernt habe, ist, dass am Schluss nur noch das Leben bleibt.
Ein Monat ist vergangen seit ihrer Rückkehr. Vier dicke, engbeschriebene Tagebücher liegen vor ihnen auf dem Tisch. Jeden einzelnen Tag hat Daniela Widmer, 29, protokolliert, die ersten davon im Rückblick, nachdem sie von den Entführern nach Wochen das erste Notizbuch erbetteln konnte. Daniela klopft mit der Faust auf die Bücher. Da steht alles drin.
Ihre Idee ist ein alter Traum: auf dem Landweg nach Asien, die Seidenstraße entlang, wie einst Marco Polo. Sie wollen erleben, wie es sich anfühlt, vor der Haustür zu starten und im Himalaja auf dem Dach der Welt anzukommen, 9000 Kilometer mit dem VW-Bus. Durch Italien, Griechenland, die Türkei, Iran und Pakistan bis auf den Khardung-Pass in Indien werden sie fahren, rund 5500 Meter über dem Meer, mit wechselnden Kulturen an der Strecke, einmal Christentum, Islam, Hinduismus und wieder zurück. Früher machten die Hippies die Tour in Scharen, heute tun es vielleicht noch ein paar Dutzend Leute pro Jahr, manche auch mit dem Fahrrad. David, 32, nimmt drei Monate Auszeit von seinem Job als Revierpolizist am Hauptbahnhof Bern; Daniela, auch sie zur Polizistin ausgebildet, zuletzt als Vermögensverwalterin angestellt, hat gekündigt. Sie besorgen alle Visa, recherchieren die Route, bauen einen Kleinbus zum Wohnwagen um, am Dienstag nach Ostern 2011 fahren sie los.
Daniela hält Davids Hand am Wohnzimmertisch. Ein attraktiver Mann, eine hübsche Frau, ein schönes Paar. "Damals", sagt Daniela, als wäre alles schon so lange her wie ein früheres Leben, damals habe es für sie manchmal nur noch diese Hand gegeben, Davids Hand, die in den ersten Wochen oft in Fesseln oder an Ketten lag. Sie hielt sie den Tag durch, und sie hielt sie zum Einschlafen. "Ich habe sie fast zerdrückt. Mein Halt, mein Schutz war diese Hand."
Auf ihrem Reiseblog, den sie nach ihrem Wohnort "Langnau meets India" genannt haben, tragen Daniela und David während ihrer Tour jeden Tag ihren Aufenthaltsort auf einer digitalen Weltkarte ein, die letzte Nadel steckt in einer Stadt namens Loralai, Provinz Belutschistan, Pakistan.
Am 1. Juli 2011 sind sie nach mehr als zwei Monaten längst auf dem Rückweg, als sie hier kurz Rast machen, um Mangos zu kaufen. Beim Hinweg hatten sie noch die südliche Route über Shikarpur genommen, einen Umweg, nun wählen sie die direkte Verbindung zwischen Lahore und Quetta, eine Straße, die der Reiseführer "Lonely Planet", Bibel aller Rucksackreisenden, unter "klassische Routen" führt, allerdings nicht, ohne auf die labile Sicherheitslage hinzuweisen.
In ganz Pakistan fahren bewaffnete Sicherheitskohorten der Polizei mit, begleiten David und Daniela von einem Kontrollposten zum nächsten, Standardprozedur für die wenigen Touristenfahrzeuge pro Jahr. Belutschistan ist keine Taliban-Hochburg, aber doch Krisenregion, Separatisten liefern sich hier immer wieder Scharmützel mit der Regierungsarmee.
Daniela und David hatten sich ordnungsgemäß registrieren lassen bei den Behörden, sie hatten die benötigte Durchreisegenehmigung erhalten, haben, so glauben sie, alles richtig ge-macht. Dann verschwindet kurz hinter Loralai die Eskorte, die Männer schicken ihre Schutzbefohlenen allein weiter. "War das Zufall? Wurden sie dafür bezahlt? Wir wissen es nicht", sagt David.
Ein Jeep hält neben ihnen, fünf Männer kommen auf den VW-Bus zu, einer hält eine Kalaschnikow im Arm. Ein Bärtiger stellt seinen Fuß in die Tür, sagt: "Hello, how are you?", die Männer dringen in den Wagen ein, rufen "Dollar, Dollar", einer schlägt David ins Gesicht, laute Schreie in Paschtu, die beiden halten es für einen Raubüberfall. Sie werden in den Geländewagen gezerrt, gefesselt.
1. Juli 2011, 1. Tag der Entführung
Sie pressen uns auf den Kofferraumboden des Jeeps, eine Decke wird über uns geworfen. Ich sehe David nicht, ich höre ihn keuchen. Ich sage: "Sie erschießen uns!" David antwortet: "Sie bringen uns in die Wüste." David sagt: "Ich liebe dich, vergiss das nicht." "Ich liebe dich auch." Wir sagen, dass es schnell geht, wenn sie uns erschießen.
8. Juli 2011, 8. Tag
Wir essen fast nichts. Hunger gibt es nicht mehr. Nur Angst.
Eine Ziege wird geschlachtet. Junkie bietet David ein Stück vom Herzen an, besondere Ehre für den Gast, dazu das erste Glas vom Chai. Gastfreundschaft, auch gegenüber unfreiwilligen Gästen, ist ein zentrales Gebot im Ehrenkodex der Paschtunen, Respekt gegenüber Frauen ein weiteres, es beschützt Daniela vor einer Vergewaltigung. Nie werden sie ge-foltert, meistens ausreichend verpflegt, die Häscher wollen ihr Pfand in funktionsfähigem Zustand erhalten, tot sind sie wertlos. David nimmt das Ziegenherz an, beißt in gummiartiges Fleisch, no tension, no problem. Sie müssen mitspielen, um zu überleben. Sie lügen, sie erklären mit
Gesten, dass sie verheiratet seien, zwei Kinder hätten, sie fügen sich ins Weltbild ihrer Feinde, "denn ein unverheiratetes Paar in unserem Alter ohne Kinder wäre für diese Leute unvorstellbar", sagt David. Nett sein zu den Peinigern, fürs Essen bedanken, "es ist paradox", sagt Daniela, "aber diese Männer, unsere Entführer, beschützten uns ja gleichzeitig, unser Leben hing von ihnen ab". Durch Nadelwälder, ins Gebirge. Sie sehen Köhlerhütten, Bienenstöcke, nackte Kinder, die vor Hütten mit Papas Sturmgewehr spielen. "Mittelalter", sagt Daniela, "nur mit den Waffen von heute." Irgendwann fangen alle an zu schießen, zu schreien, der Fahrer feuert seine Salven durch das geöffnete Autodach. Es sind Freudenschüsse, Jubelgesänge. Menschen strömen zusammen. Männer mit langen Locken, schwarz geschminkten Augen, farbige Bänder an ihren Waffen. Die Entführer sind zu Hause, im wilden Waziristan, sie präsentieren ihre Beute, Allahu akbar, Gott ist groß.
14. Juli 2011, 14. Tag
Der Aufenthaltsraum ist feucht, stickig und dunkel. Die Männer haben Klumpen von Kautabak im Mund und ausgebeulte Backen. Sie haben Spuckbecher, die Buben bedienen sie, es wird ununterbrochen gespuckt. Keine Frauen. Ich schlafe an der Wand. Alle beobachten uns.
Man bringt sie schließlich nach Miran Shah, 300 Kilometer nördlich vom Ort der Entführung, einer Art Hauptstadt der Taliban. Hier werden sie bis zu ihrer Flucht acht Monate später bleiben, untergebracht in vier verschiedenen Verstecken, die meiste Zeit im Haus von Lala und seiner Familie.
19. August 2011, 50. Tag
An die Explosionen und Schüsse haben wir uns gewöhnt. Auch das Surren der Drohnen gehört dazu, 24 Stunden. Es ist Krieg hier.
David erkrankt an Malaria, er hat Fieber und Schüttelfrost, kriegt Infusionen. Er verliert während der Gefangenschaft 20 Kilogramm Körpergewicht.
3. September 2011, 65. Tag
Es macht einen halb wahnsinnig, jede kleinste Veränderung als Zeichen der Freilassung zu deuten. Man setzt sich Fristen, die man immer wieder aufschieben muss. Versucht, keine kurzen Fristen mehr zu setzen. Im gefangenen Hier & Jetzt zu leben.
Unendlich dehnt sich die Zeit, wenn nichts zu tun ist außer zu warten. 16 wache Stunden pro Tag, wochenlang, monatelang. David und Daniela versuchen, sich fit zu halten mit Gymnastik und Laufen, entwickeln darin große Disziplin.
Sie spielen Stadt-Land-Fluss, Stunde um Stunde, in den Tagebüchern finden sich endlose Wörterlisten. Tier mit C: Chinchilla, Prominenter mit I: Indiana Jones, Schweizer Dorf mit B: Bellikon, Danielas Heimatort. Sie zeichnet einen Straßenplan von Bellikon, einen Detailplan des Wohnviertels ihrer Kindheit, kartografiertes Heimweh. Wenn sie weinen, werden sie aufgefordert, damit aufzuhören, Weinen gilt als Ausdruck von Schuld, von Schande.
Zu Hause in der Schweiz hinterlässt das Publikum anonyme Kommentare im Online-Forum einer Gratiszeitung.
"absolut selber schuld. dafür habe ich null und nicht ein prozent mitleid"
"Sollten sie freigekauft werden, müssten sie bis an ihr Lebensende das Geld zurückzahlen."
"Lassen wir sie doch, wo sie sind, und vergessen sie."
Ein Mann, ungeübt im Umgang mit dem Internet, schreibt im selben Forum unter dem Echtnamen Beat Widmer einen einzigen Satz, es ist Danielas Vater. "meine gedanken sind bei meiner tochter."
5. Oktober 2011, 97. Tag
Um 9.30 Uhr bin ich wach. Wieder einmal von Süßigkeiten geträumt. Von Schokolade, Kuchen und der Freiheit. Von einer Waschmaschine und dass sie uns sagen, ihr könnt jetzt gehen.
Manchmal lassen die Männer stumme Sketche des englischen Komikers Rowan Atkinson laufen, Mr. Bean beim Friseur, Mr. Bean gibt einen Brief auf. Ein Humor, den sie allerdings nicht verstehen, erinnert sich David, "weil sie nicht wissen, was eine Briefmarke oder ein Briefkasten ist".
18. Oktober 2011, 110. Tag
Ich habe mich nie gefragt: "Warum ausgerechnet wir?" Denn niemand anderem hätte ich das je gewünscht.
David und Daniela bemerken, dass der Deutsche professioneller mit der Kamera umgeht als die Paschtunen, die das erste Video mit ihnen gedreht hatten, schwarz-weiß, verwackelt. Mounir Chouka erklärt ihnen, was sie sagen sollen und was sie nicht sagen dürfen, er legt David Ketten an, stellt bewaffnete Kämpfer in den Hintergrund, benimmt sich wie ein Regisseur. "Ihr müsst an Dramatik zulegen", an diese Worte erinnert sich David, "lass mal die Ketten rasseln." David soll die Forderungen vortragen, Daniela den emotionalen Teil übernehmen. Er lässt die Geiseln Schweizerdeutsch sprechen, das ist authentischer. "Macht euch keinen Kopf", sagt er zu ihnen, "die Schweiz bezahlt das aus der Portokasse." David fragt ihn später, ob er jemals nach Deutschland zurückkehren wolle. "Dieses Schiff ist gesunken", antwortet Mounir Chouka.
Nach dem Videodreh wird David allein zurückgebeten. Mit Todesangst bleibe ich zurück. Ich denke, dass sie David vor laufender Kamera erschießen. Im Sitzen werde ich fast ohnmächtig.
2. November 2011, 125. Tag
Manchmal weiß ich nicht mehr, wie die Stimme meiner Mama klingt. Wir reden
nicht mehr oft über zu Hause, die Gespräche schmerzen.
Es gibt nur wenige Stellen im Tal, wo das Mobiltelefon funktioniert, die Geiseln werden dafür jeweils aus dem Haus geholt und herumgefahren, ohne Augenbinde, sie können sich ein Bild machen von ihrer Umgebung. David entdeckt nur einen Kilometer von ihrem Gehöft entfernt eine Festung auf einem Hügel, darauf die Flagge Pakistans. Ein Militärposten womöglich, in unmittelbarer Nähe. Sie beginnen, Fluchtszenarien zu phantasieren.
Im Februar erfahren Daniela und David, dass Taliban 15 pakistanische Grenzwächter entführt und erschossen haben, ohne jedes Lösegeld. "Da fragst du dich natürlich schon irgendwann", sagt David, "warum können die für uns hundert Mudschahidin fordern? Warum ist mein Leben so viel mehr wert?" David versucht zu berechnen, wie viele Suizidanschläge die Gotteskrieger hätten finanzieren können, wie viele Opfer es hätte geben können, wenn die Millionen bezahlt worden wären für ihn und seine Freundin. Viele.
9. Februar 2012, 224. Tag
Unverschuldet sitzen wir im Gefängnis. Ein Krieg, mit dem unser Land nichts zu tun hat. Und wir zwei sind die Spielbälle derer, die keine andere Chance haben. Der Riese kämpft mit modernsten Waffen gegen jene, die nicht einmal die nötigsten Dinge zum Leben haben.
Sie feilen an ihrem Fluchtplan. Sie machen "Eventualplanungen", die alle möglichen Hindernisse und Fehler miteinbeziehen, so wie sie es in der Polizeiausbildung gelernt haben. Sie können sich nicht sicher sein, ob das Gebäude in der Nähe wirklich ein Armeeposten ist, also rüsten sie sich für einen langen Marsch ostwärts, in sichereres Gebiet.
Sie beginnen mit Vorbereitungen. David versucht, aus gefundenen Metallstücken und einer Batterie einen Kompass zu basteln. Sie legen Proviant zur Seite, verstecken Fladenbrot, ein Glas mit Honignüssen, Wasserflaschen. In ihrem Zimmer, das auch Rumpelkammer ist, finden sie viel Brauchbares. Braune und schwarze Schuhcreme, um sich Bart und Haare zu färben, sobald sie draußen wären. Gebetsketten, Paschtunen-Hüte, Ersatzkleider, Ersatzschuhe, alles zur Tarnung. Klebeband, Batterien, ein Seil, ein Messer. Sie finden zu ihrer Überraschung auch zwei Handgranaten - die Entführer lassen kaum noch Vorsicht walten. Damit würden sich Verfolger notfalls auf Distanz halten lassen. Im Kampf Mann gegen Mann, sollte es dazu kommen, wäre David ein überlegener Gegner, er ist nebenberuflich Ausbilder für die israelische Selbstverteidigungstechnik Krav Maga. Der große Jutesack, den sie am Ende mitnehmen, ist mehr als 20 Kilogramm schwer.
8. März 2012, 252. Tag
Davids 32. Geburtstag. Happy Birthday, lieber David, singe ich, als wir um 7.15 Uhr erwachen.
9. März 2012, 253. Tag
Danielas 29. Geburtstag. David singt für mich, als ich noch auf dem Bett liege. In seiner Hand eine Banane, darin ein brennendes Streichholz. Meine Geburtstagstorte.
Auch das Haupttor fetten sie ein, das vom Innenhof ins Freie führt, aber nicht abgeschlossen wird. Die hölzerne Tür, hinter der sie jeden Abend eingesperrt werden, wird nur mit einem Metallschieber von außen verriegelt, ohne Vorhängeschloss. Über der Tür sind zwei kleine Fenster angebracht. David hat entdeckt, dass sich ein Fenster öffnen lässt und er bis zur Hüfte durchpasst, so dass er, von oben aus dem Fenster hängend, den Schieber außen an der Tür öffnen kann.
Um durch das hoch gelegene Fenster klettern zu können, müssen sie ein Blechfass, das als Wasserspeicher dient, von innen vor die Tür schieben, als Podest. Diesen Ablauf proben sie in zwei Nächten.
15. März 2012, 259. Tag
Jetzt.
Die Tür ist offen. Daniela schultert das Gepäck, läuft die 25 Schritte über den Innenhof zum Haupttor, duckt sich dort und wartet. David schließt die Zimmertür von außen, es soll unverdächtig aussehen, wenn die Familie am nächsten Morgen erwacht. In ihre Schlafsäcke haben sie Decken gestopft, die ihre schlafenden Konturen nachstellen sollen. Das könnte, wenn es dem ersten morgendlichen Kontrollblick der Entführer in ihr Zimmer standhält, etwas Zeit verschaffen. David sticht mit einer dicken Infusionsnadel, die er erhielt, als er an Malaria litt, mehrfach in den Vorderreifen von Lalas Geländemotorrad, damit ihr Bewacher ihnen nicht folgen, keine Verbündeten alarmieren kann, sollte er ihre Flucht bald entdecken. Sie ziehen das stählerne Haupttor auf. Und entschwinden in die mondlose Nacht.
Auf allen vieren in der Dunkelheit einen Geröllhügel hoch. David schaut sich um, Daniela ist nicht da. Dann sieht er einen Lichtkegel, fürchtet einen Verfolger. Das Licht kommt näher, es ist Daniela. "Mach die Taschenlampe aus, mach verdammt noch mal die Taschenlampe aus, man sieht uns." "Aber ich kann nichts sehen!" "Mach die verdammte Lampe aus!" Sie macht die Taschenlampe aus.
Sie irren umher, eine Stunde vielleicht. Erkennen dann eine Straße, über die sie schon mehrmals gefahren wurden, gewinnen Orientierung. Laufen in die Richtung, wo sie das Militärfort vermuten. David sieht einen Scheinwerfer auf einer Mauer, es muss die Armee sein, er ist sich jetzt sicher. Sie geben SOS-Signale mit der Taschenlampe, sie werden gesehen, aber man lässt sie nicht rein, die Soldaten fürchten einen Angreifer. Wieder zielen Waffen auf die beiden. Sie schreien ihre Namen, dass sie entführt worden seien, keiner versteht sie, man schickt sie immer wieder weg: "Go Miran Shah, go."
David wirft alles Gepäck zu Boden, entblößt seinen Oberkörper, als Beweis, dass er keine Bomben an sich trägt. Zwei Stunden dauert es, zwei Stunden Schreien und Betteln, bis sie schließlich doch ins Fort gelassen werden, wieder werden sie gefesselt, es ist 4.15 Uhr in der Nacht. Sie können nicht sicher sein, ob sie nicht gleich wieder den Taliban übergeben werden, auch in der Armee gibt es Korruption. Doch dann, morgens um sieben, tauchen drei Kampfhelikopter am Himmel auf, ein vierter setzt am Boden auf.
"Das schönste Gefühl meines Lebens", sagt David.
Eine Stunde Flugzeit nach Peschawar, einer Armeebasis. Am nächsten Tag nach Islamabad, sie werden in der Schweizer Botschaft untergebracht, Daniela macht der Botschaftergattin ein Kompliment für ihre Schuhe, die Frau zieht die Schuhe aus und schenkt sie ihr. Ein Telefongespräch mit Didier Burkhalter, Außenminister der Schweiz, er sagt: "Ich bewundere Ihren Mut."
In der Botschaft läuft ein Schweizer Fernsehsender auf einem Bildschirm. Eine Minute nachdem sie den Hörer auflegen, sehen sie den Minister in Bern live vor die Kameras treten. Er spricht von einem Wunder. Am nächsten Tag fliegen sie über Katar nach Zürich.
30. Oktober 2011, 122. Tag
Wir stellen uns vor, dies ist ein Bahnhof, wir warten auf den Zug, der uns zurückbringt, nur wissen wir nicht, wann dieser Zug kommt. Aber wir wissen, am Ende kommt die Freiheit, kommt das zweite Leben!
David: Pancake mit Ahornsirup. Rotwein mit Daniela zu Hause. Orangenente kochen. Daniela: Joghurt mit Müsli. Am Hallwilersee laufen. In einer Daunendecke einschlafen.