NIGGEMEIERS MEDIENLEXIKON Iro|nie
Günter Grass (Bild) hat also noch mal ein Fass aufgemacht und ein weiteres Gedicht aus seiner Feder fließen lassen, diesmal über Griechenland. Die "Süddeutsche Zeitung" hat sich erneut für den Vertrieb zur Verfügung gestellt. Und Volker Weidermann, Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", erinnerte das Werk an eine Parodie der Satirezeitschrift "Titanic" - so schlecht sei das Gedicht.
Natürlich hätte er das genau so formulieren können: "So schlecht, dass es auch von der 'Titanic' stammen könnte", aber wo wäre da der Witz gewesen? Stattdessen schrieb er: "Dem Satiremagazin 'Titanic' ist es gelungen, ein Gedicht unter dem Namen 'Günter Grass' im Feuilleton der 'Süddeutschen Zeitung' zu platzieren." Die beabsichtigte Aussage war dieselbe, aber der Einsatz ungleich höher. Der Text war zugleich ein Test: Würden die Leser das neue Grass-Gedicht so bekloppt finden, dass sie es auch für eine Persiflage der "Titanic" halten könnten?
Nur unter dieser Voraussetzung konnte man eigentlich auf Weidermanns Ironie hereinfallen. Sein satirischer Text war ein bisschen plump, aber eine bewusste Irritation, die den aufmerksamen Leser dazu bringen sollte, sich genau diese Frage zu stellen: Sind die Wortmeldungen von Grass inzwischen so, dass man sie nicht mehr von ihren eigenen Parodien unterscheiden kann?
Auf Twitter fanden sich nun sofort etliche Journalisten und andere Menschen, die aufgeregt die bewusste Falschbehauptung als Breaking News weiterverbreiteten. Als die Satire endlich als Satire verstanden wurde, schrieb ein Online-Journalist der "Rhein-Zeitung" wütend, dass er seitdem keine Möglichkeit mehr sehe, "das Feuilleton dieser angesehenen Zeitung weiter zuverlässig ernst nehmen zu können".
Diese Menschen wollen, dass sie nicht nachdenken müssen beim Lesen. Ironie war immer schon ein riskantes Stilmittel im Journalismus. Aber im Zeitalter von Twitter heißt die verschärfte Mindestanforderung an Artikel: Sie müssen so formuliert sein, dass sie sich unverstanden weitertwittern lassen.
Oder wie Grass selbst es in seinem Gedicht "Twitters Schande" so treffend formulierte: "Was mit der Seele gesucht, als Wahrheit Dir galt / heißt Satire nun, unter Schrottwert taxiert. Pls RT."