BERNSTEINZIMMER „Tränen unserer Vorfahren“
Nur ein schlichtes Schild wies auf das Unternehmen mit den weißgestrichenen Lagerhallen, und auch der Standort im märkischen Bauerndörfchen Mühlenbeck, zwei Kilometer hinter der Berliner Stadtgrenze, schien auf den ersten Blick wenig beeindruckend. Die DDR-Firma Kunst und Antiquitäten GmbH (K&A) gab sich so bescheiden wie diskret.
Nach bewährtem Muster, schnell und lautlos, wurde auch jener Einzelauftrag ausgeführt, den die Zentrale in der Berliner Französischen Straße noch in den letzten Vorweihnachtstagen des Jahres 1978 hereingegeben hatte. Zu liefern waren - gegen Vorauskasse auf das Konto 9801-1555-0011 bei der Deutschen Außenhandelsbank - diverse Antiquitäten: zwei Vasen für 1620, "1 Stück Damensekretär" für 9000, "1 Stück Kommode, Holland" für 10 000 und "1 Stück Kommode, Empire" für 20 000 Valuta-Mark; ein Routinedeal.
K&A gehörte zum Stasi-kontrollierten Imperium "Kommerzielle Koordinierung" des Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski. Die Firma hatte den Auftrag, Gemälde und Geschmeide, Barockengel und Bronzebüsten aus Schlössern, Haushalten und Museen der DDR an das kapitalistische Ausland zu verschachern - eine Goldader für Erich Honeckers stets klamme Staatskasse.
Empfängerin der Schnäppchen, "unverpackt und unversichert", frei ab Lager Mühlenbeck, war die Gattin eines West-Berliner Unternehmers. Besonders angetan war die Käuferin von der "Kommode, Empire". Das klassizistische Möbel wirkt feingliedrig durch zahlreiche Intarsien, die Blumengirlanden und Vasen darstellen. Auf jeder der drei Schubladen sind zwei gestanzte Rosetten und zwei aufgehängte ringförmige Griffe angebracht.
Zweifellos ein Meisterwerk, eine russische Arbeit aus den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts.
Welche Kostbarkeit die Berlinerin vermutlich seit 18 Jahren besaß, erfuhr sie am vergangenen Mittwoch von der Staatsgewalt. Zum zweitenmal binnen Wochenfrist tauchte ein Bestandteil eines längst verloren geglaubten Kulturschatzes auf: Wie das vorvorige Woche bei dem Bremer Notar Manhard Kaiser konfiszierte Steinmosaik stammt auch die Kommode mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem legendären, 1944 verschollenen Bernsteinzimmer.
Auf die Idee, die Koko-Truhe könne Teil des "Achten Weltwunders" sein, als das Bewunderer das Bernsteinzimmer rühmen, hatte die Besitzerin der Wirbel um das beschlagnahmte Mosaik gebracht. Sie beauftragte den Anwalt Peter Danckert, der unter anderen den früheren Koko-Chef Schalck-Golodkowski vertritt, das gute Stück "zur weiteren Begutachtung und Prüfung der Rechtslage" (Danckert) ins Berliner SPIEGEL-Büro zu expedieren.
Daß das Möbel echt ist, daran hatte Alvar González-Palacios aus Rom, Gutachter der Londoner Auktionshäuser Sotheby''s und Christie''s, nach erster Inaugenscheinnahme kaum noch Zweifel. Im Inventarbuch des Bernsteinzimmers aus dem Jahr 1940 ist eine der beiden Kommoden, die seit 1932 in das Gemach integriert waren, unter dem Namen "Marketerie" aufgeführt und beschrieben.
Schon damals war die Kommode offenbar etwas derangiert. Der Lack war zerkratzt und stellenweise abgeblättert, an 14 Stellen war das Furnier zusammengeheftet.
Spätere Restaurierungsarbeiten, so González-Palacios, hätten den Marktwert weiter reduziert. Auch seien die Beschläge nachträglich angebracht worden. Ein Original sei die Kommode trotzdem.
Weiterer Beleg: Auf der Rückseite des Koko-Fundstücks finden sich in kyrillischer Schrift die Kennzeichnungen ZDU-217 und ZDP-3320. "Wir sind glücklich", faxte die Hauptkustodin des Katharinenmuseums, Larisa Bardowskaja, nach einem Blick in das russische Inventarbuch des Bernsteinzimmers nach Berlin, "die Nummern auf der Kommode stimmen überein."
Künftig lagert das wertvolle Kulturgut bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bis entschieden ist, ob und wann es an die Russen zurückgegeben wird.
Die Polizei fahndete derweil weiter nach "Mister X", dem Klienten des Notars Kaiser, von dem dieser das beschlagnahmte Mosaik bekommen haben will. Nach Angaben Kaisers soll der Vater von "Mister X" das Mosaik als private Kriegsbeute 1941 verschleppt haben, als die Nazis das im Katharinenpalais in Zarskoje Selo bei St. Petersburg aufgebaute Zimmer demontierten und in Kisten verpackt ins Königsberger Schloß verbrachten.
Am vergangenen Freitag wurden sie fündig. Nachmittags klingelten acht Beamte an der Tür des Rentners Hans Achtermann, 62, im Bremer Steintorviertel. Als niemand öffnete, frästen sie das Schloß auf. Der erschreckte Rentner telefonierte nach der Polizei. Mit Erfolg: Sekunden später traten ihm die Herren die Tür ein.
Die Polizisten durchsuchten jeden Winkel der bescheidenen Dreizimmerwohnung. Weitere Pretiosen aus dem Zarenpalast entdeckten sie nicht. Die Beamten beschlagnahmten ersatzweise alte Familienfotos und ein Exemplar des SPIEGEL: "Mister X" alias Herr Achtermann hatte fein säuberlich die wichtigsten Sätze aus der Bernsteinzimmer-Geschichte der vergangenen Woche unterstrichen und die Frage an den Rand gekritzelt, wann ihm die Polizei wohl auf die Spur kommen würde.
Ein anonymer Informant aus dem Bekanntenkreis Achtermanns half dabei. Er rief bei der Polizei an: Er habe das jetzt aufgefundene Bild auf Zeitungsfotos wiedererkannt, früher habe es bei seinem Nachbarn in Bremen gehangen.
Die Aussage des Tipgebers stützt die Version des Notars Kaiser. Auf dem elterlichen Dachboden habe sein "Mister X" das verstaubte Stück entdeckt und dann über das Sofa gehängt - ohne zu wissen, um welchen Schatz es sich handelte. Tatsächlich ist Achtermanns Vater Wilhelm 1978 in Bremen verstorben - offenbar ohne je den Wert des Mosaiks zu ahnen.
Recherchen von SPIEGEL und SPIEGEL-TV ergaben, daß Wilhelm Achtermann als Oberleutnant der Reserve in einer Kraftfahrereinheit der Reichswehr am Zweiten Weltkrieg teilnahm. Unklar ist, ob diese Truppe tatsächlich zur fraglichen Zeit 1941 mit dem Transport des Bernsteinzimmers von Zarskoje Selo nach Königsberg beauftragt war und wie dann letztlich dabei das florentinische Mosaik in den Besitz des Bremer Kaufmanns Wilhelm Achtermann, damals 41, gelangte.
"Ich habe erst 1992 entdeckt, daß das Ding aus dem Bernsteinzimmer ist", beteuerte Achtermann unmittelbar nach der
Polizeiaktion dem SPIEGEL, "mein Vater hat das bestimmt nicht geklaut, der war Geschäftsmann, der hat garantiert einem anderen Soldaten einen Hundertmarkschein dafür gegeben und es regulär gekauft."
Notar Kaiser, so Achtermann, sei ein Freund aus Kindertagen. Über den habe er sein Eigentum verkaufen wollen. Achtermann: "Das Mosaik gehört mir, damit kann ich machen, was ich will, die Staatsanwälte müssen es wieder herausrücken."
Oder auch nicht. Eins jedenfalls scheint inzwischen so gut wie sicher: die Echtheit des Beute-Mosaiks. Weitere Gutachten stehen aber noch aus.
Nur kurze Zeit brauchten vergangene Woche zwei der weltweit profiliertesten Kenner der florentinischen Mosaiktechnik, um das beschlagnahmte Bild als Original zu identifizieren.
Annamaria Giusti leitet seit 21 Jahren in der Via degli Alfani in der Florentiner Altstadt das Museum "Opificio Delle Pietre Dure" (die Werkstatt der harten Steine). Die vier nachträglich ins Bernsteinzimmer eingefügten Mosaiken waren in den weltberühmten Uffizien gefertigt worden.
Als Echtheitsbeleg nennt Museumsleiterin Giusti in ihrer Expertise die "hervorragende Schnittechnik", "die Raffinesse bei der Wahl der natürlichen Farbtöne der Edelsteine" - sizilianischer und böhmischer Jaspis für die Bäume im Hintergrund, Arno-Jaspis für die rechte Bildstruktur, Jade für einige Bodenbereiche - sowie den unverkennbar "transparenten, leicht angefärbten Alabaster" für die Himmelspartien.
Es handele sich "mit Sicherheit um das Originalmosaik", urteilt auch González-Palacios. Die "vorzügliche Wahl" der Steine "von bester Qualität", der "Gebrauch der Steine", vom böhmischen Amethystquarz bis hin zum Lapislazuli, und die einmalige Machart ließen keinen anderen Schluß zu. González-Palacios: "Durch die Qualität des untersuchten Mosaiks ist die Möglichkeit, daß es sich um eine anderswo angefertigte Kopie handeln könnte, mit Sicherheit ausgeschlossen." Der Gutachter taxiert den Wert des Mosaiks wegen der besonderen "Rarität" auf drei bis vier Millionen Dollar.
Für die Russen ist die Sache ohnehin klar: Sie drängen auf rasche Repatriierung aller Fundstücke aus dem Bernsteinzimmer. Als SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust Premier Wiktor Tschernomyrdin im Katharinenmuseum nahe St. Petersburg ein Foto des mit SPIEGEL-Hilfe beschlagnahmten Mosaiks überreichte, meldete der Regierungschef sofort Anspruch auf das Kunstwerk an. Tschernomyrdin über das Bernsteinzimmer: "Das sind Tränen, Tränen unserer Vorfahren."
Tschernomyrdin plädiert für den bilateralen Austausch jeglicher Beutekunst nach der schlichten Formel: "Das Russische den Russen, das Deutsche den Deutschen."
Auch für den Fall, daß der bisherige Mosaik-Inhaber tatsächlich ahnungslos gewesen sein sollte, mithin nach deutschem Recht das Bild "gutgläubig ersessen" hätte, wie Notar Kaiser glaubt, ist eine diplomatische Lösung denkbar: Sponsoren aus der Industrie könnten, womöglich gemeinsam mit der Bundesregierung, Achtermann das Kunstwerk abkaufen und es den Russen schenken.
Offen indes sind nach wie vor die interessantesten Fragen: Ist das Auftauchen der beiden Fragmente aus dem Bernsteinzimmer schierer Zufall, oder werden die Funde von einer geschäftstüchtigen Gruppe gesteuert - möglicherweise aus alten Stasi-Zeiten oder aus der Unterwelt des neuen Rußlands? Liegen etwa in versteckten Arsenalen noch weitere Teile des Weltwunders? Und vor allem: Gibt es von Mosaik und Kommode eine Spur zum eigentlichen Bernsteinzimmer?
Die entscheidenden Tips zur Auffindung des Mosaiks kamen vom ehemaligen K&A-Chefeinkäufer Axel Hilpert und dessen Stasi-Verbindungsmann Hans-Otto Teschner.
Den Fahndern der Berliner Justiz, die sich um die Vereinigungskriminalität kümmern, ist das Duo Hilpert/Teschner nicht geheuer. Ein Beamter bringt die Spekulation auf die griffige Formel: "Alte Kreise - neue Märkte, Chuzpe gepaart mit Herrschaftswissen."
Koko-Mann Hilpert, der den Deutschen schon das im Dezember 1996 in Potsdam gestohlene Gemälde "Ansicht eines Hafens" von Caspar David Friedrich wiederbeschaffte, nimmt das Mißtrauen gelassen: "Da muß noch mehr kommen", spottet er, "ehe mir das Bundesverdienstkreuz umgehängt wird."