RUSSLAND In der erloschenen Hölle
Diese unermeßlichen Weiten warten auf unsere Hände, unser Opfer, unseren Eifer, unsere Liebe. ALEXANDER SOLSCHENIZYN 1973
Selten dringt die Sonne durch Nebel und Wolken. In der Dämmerung wirft sie die Wunderfarben des Nordens, von Türkis bis Orange, rundum an den Horizont.
Dauernde Nacht und bis zu 60 Grad Kälte herrschen im Winter, Atem gefriert, die Wollmaske vor dem Gesicht kann dabei festkleben und beim Abstreifen die Haut zerreißen.
Jetzt aber war für einige Wochen Sommer, seit Juli hatte es nicht mehr geschneit, die Tundra blühte. Ein paar Grad plus noch - die Einwohner tragen schon wieder Wintermäntel, junge Damen bevorzugen knöchellange aus Leder über ultrakurzem Minirock, dazu Blockabsätze.
Keine Straße führt durch die Sümpfe der Tundra nach Workuta, einer Stadt, gebaut für mehr als 100 000 Einwohner, 2000 Kilometer nordöstlich von Moskau, wo der Ural ans Eismeer reicht. Workuta gehört zur Komi-Republik, einem Bundesland der Russischen Föderation für die finnischugrische Minderheit der Komi, die fast ein Viertel der Einwohner stellen.
Aber es gibt einen Flugplatz für die eigene Luftfahrtgesellschaft Komi-Air, die während des Vier-Stunden-Flugs ab Moskau eine dürftige staats- und privatkapitalistische Melange serviert: eine Plastiktasse Mineralwasser und eine Tafel Hershey''s-Schokolade.
Ein Bahnhof ist da, frisch hellgrün gestrichen - 36 Stunden dauert die Zugfahrt bis Moskau -, ein siebenstöckiges, leeres Hotel und eine Kirche warten auf Besucher. Busse werden laufend aus dem Verkehr gezogen, um sie auszuschlachten. In der Republikhauptstadt Syktywkar, 900 Kilometer weiter südwestlich, 230 000 Einwohner, rollen ausgemusterte Busse aus Berlin, die noch die Werbung für "Gelbe Seiten" des deutschen Telefonbuchs tragen.
Auf dem Markt bieten Händler ihre aus Moskau herangeschafften Waren an. Der Preis von 12 000 Rubel (3,75 Mark) für ein Kilogramm Tomaten liegt unter den Produktionskosten des einzigen Gewächshaus-Sowchos im russischen Hohen Norden: Das Staatsgut züchtet das Kilo für 19 000 Rubel. Im Freien wachsen nur Radieschen, und dieses Jahr reiften nicht mal die.
Die Geschäfte zeigen sich - wie überall in Rußland - mit Importgütern aus dem Westen gut bestückt, ganze Paletten mit Früchtejoghurt aus der Bundesrepublik sind dabei, das Verfalldatum ist überstempelt. Rentierfleisch im Privatladen wird auf Wunsch sofort vakuumverpackt, an der Straßenecke handeln Dealer mit Rauschgift. In den Büros stehen Computer. Wohlhabende lassen aus Moskau Rassehunde einfliegen, Arme betteln und durchstöbern den allgegenwärtigen Müll.
Oberstleutnant Iwan Gladkich, Stellvertreter des Polizeipräsidenten, eines Rußlanddeutschen, klagt über neuartige Verbrechen als Folge der Marktwirtschaft - Autodiebstähle (40 Fälle schon in diesem Jahr), Prostitution - hier ein Straftatbestand -, Jugendkriminalität und Mafia: Die Zivilisation des Westens dringt ans Eismeer vor. Eine fetzende Disko lärmt jede Nacht, ein Leutnant gab jüngst verzückt an einem Abend einen Monatssold aus. Die Profis der Eishockeymannschaft am Ort verdienen mit ihrem Sport sogar Dollar in Kanada.
* Ralf Stettner: "Archipel Gulag", Stalins Zwangsarbeitslager - Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Verlag Ferdinand Schöningh, 1996; 448 Seiten; 68 Mark.
Doch Lenin harrt auf seinem Denkmal aus, derweil auf dem Sockel, der einst Stalin trug, nun das Leningrader Stalin-Opfer Sergej Kirow posiert - mit dessen Tod begann der große Terror in den dreißiger Jahren.
Workuta war eine der übelsten Metastasen des Archipels Gulag. Die Stadt wurde seit den dreißiger Jahren von Gefangenen erbaut und ist, wie die Professorin Anna Fjodorowa ganz sachlich feststellt, "auf Knochen gegründet". Eine Straße führt über den Gefangenenfriedhof "Berlin II", der Asphalt deckt die Massengräber einen Meter tiefer zu.
Für Russen klingt der Name Workuta beinahe wie Auschwitz in Deutschland, obwohl niemand zu seiner Vernichtung hierher geschafft wurde, sondern zur maximalen Ausbeutung seiner letzten Kräfte. Aber "solange der Nachwuchs an Häftlingen konstant blieb", schreibt Gulag-Experte Ralf Stettner, "wurde keine Rücksicht auf die Sterberate genommen"*.
Workuta liegt auf Kohle, die Flöze reichen kilometertief. Als 1941 das ukraini-
sche Kohlerevier Donbass in deutsche Hand fiel, mußten polnische Kriegsgefangene die 1100 Kilometer lange Petschora-Bahn nach Workuta fertigbauen, sehr viele starben. Ungefähr zwei Millionen Häftlinge wurden seit den dreißiger Jahren in die Kältekammer transportiert, anfangs kam jeder dritte ums Leben. Insgesamt forderte Workuta, so schätzt der Architekt Witalij Troschin von der lokalen "Memorial"-Gesellschaft, 200 000 Tote, 15 000 davon starben durch eine Kugel.
Reformer Nikita Chruschtschow, der nach Stalins Tod im Jahr 1953 Erster Sekretär der KPdSU geworden war, löste 1956 die Sklavengesellschaft auf; der letzte politische Häftling kam 1968 zurück. Manche Freigelassene mußten zwangsweise am Ort bleiben, doch üppige Lohnzuschläge zogen fortan freie Arbeiter in die Eiswelt.
Den Bergakademie-Absolventen Wladimir Schtrenzel lockte vor 20 Jahren auch ein romantisches Lied: "Ich suche den Nebel, ich suche den Schnee ..." Der Abkömmling von Rußlanddeutschen wurde Steiger und ist heute Generaldirektor des Schachts Worgaschor, der erst nach der Gulag-Zeit niedergebracht wurde und nun einer Aktiengesellschaft gehört.
Seine 2500 Kumpel haben 1991 gestreikt, um Boris Jelzin zum Präsidenten zu machen, und sich hernach den achtfachen Durchschnittslohn eines russischen Arbeiters sowie 90 Tage Urlaub erkämpft.
Doch die Worgaschor-Kohle, jeden Tag werden an die 18 000 Tonnen gefördert, ist zu teuer; sie kann mit dem sibirischen Kusbass-Revier nicht mehr konkurrieren. Eben erst konnte Schtrenzel die Dezemberlöhne des vorigen Jahres auszahlen.
Acht Schächte arbeiten noch in Workuta, zu Gulag-Zeiten waren es 34 mit jeweils ein bis zwei Lagern. Der Vortrieb einer nagelneuen Grube wurde - jetzt zählt Rentabilität - abgebrochen und der Schacht unter Wasser gesetzt.
Einst war Workuta das schiere Sinnbild der erzwungenen Arbeitsleistung. Nur bei Sollerfüllung, die selten erreicht wurde, gab es nach zwölf Arbeitsstunden hinreichend Nahrung: Brot, wäßrige Suppe und einen Löffel Brei. Es galt eben, daß nicht essen soll, wer nicht arbeitet - so stand es in der Sowjetverfassung wie in der Bibel.
An jener Stätte, wo die Arbeit zum einzigen Lebensprinzip erhoben wurde, herrscht jetzt Arbeitslosigkeit. Fast jeder zweite ist ohne Job. Ein Jahr lang gibt es mindestens 133 000 Rubel Unterstützung im Monat, etwa 40 Mark, danach nichts.
Der Leiterin des Arbeitsamts, Olga Dunajewa, gelingt es meist, wenigstens diejenigen, die nicht wegen Bummelei oder Trunksucht entlassen wurden, für sechseinhalb Monate mit gemeinnützigen Tätigkeiten zu beschäftigen, danach gibt es wieder Stütze.
Die anderen fallen der Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen anheim. Die Bewohner der eisigen Einöde, oftmals ehemalige Häftlinge oder deren Nachkommen, sind es gewohnt, einander zu helfen. Die Beziehungen zwischen den Menschen seien hier anders, offener und solidarischer, meint Sowchos-Direktorin Tatjana Fadejewa.
Workutas Bewohner haben eine Hölle hinter sich, deren Feuer erloschen ist. Hier läßt sich die Vergangenheit nicht bewältigen, sie ist in fast jeder Familiengeschichte gegenwärtig. Die Holzbretter der Baracken sind zwar längst verheizt oder zu privaten Garagen verbaut, Wachtürme und Stacheldraht verschwunden. Nur hier und da tauchen jämmerliche Hinterlassenschaften der Häftlinge auf - ein Blechnapf, Reste einer Pritsche. Die Tundra hat sich die vom Menschen mißbrauchte Erde zurückgeholt.
Doch da ragt noch der Förderturm des Schachts 29, dessen Zwangsarbeiter sich beim großen Streik der Gefangenen von Workuta bald nach Stalins Tod mit der Losung "Keine Freiheit - keine Kohle" am 1. August 1953 unterhakten und so den Maschinengewehren entgegenstellten. 64 der ausgemergelten Gestalten wurden erschossen, darunter der deutsche Häftling Hans Georg Kirche, 24, der in der ersten Reihe stand.
Kirche kam aus der Urangrube Aue im Erzgebirge. Er hatte dem Berliner Rias die dortigen Zustände berichtet, zwei seiner Kumpel wurden für dieselbe Untat hingerichtet. Er selbst war mit 25 Jahren Haft davongekommen.
Insgesamt wurden in den elf Gruben, deren Arbeiter damals die Arbeit verweigerten, 481 Häftlinge getötet. Zu jener Zeit steckten in drei Dutzend Lagern über hunderttausend Häftlinge vielerlei Nationalitäten, darunter massenhaft repatriierte "Ost-Arbeiter" und an die 20 000 Deutsche, die auf 15 oder 25 Jahre verdammt waren: deportierte Wolgadeutsche, verurteilte Kriegsgefangene, aus den Nachkriegslagern Buchenwald und Sachsenhausen überstellte Häftlinge, Oppositionelle aus der sowjetischen Besatzungszone.
Unter ihnen befanden sich der Berliner Stadtverordnete Richard Werner (KPD), der schon bei den Nazis einsaß, die Mutter des Kommunisten Wolfgang Leonhard ("Die Revolution entläßt ihre Kinder"), der Vater des Stasi-Nachlaßverwalters Joachim Gauck. Die meisten lebten in "Speziallagern" verborgen, deren vergitterte Baracken nur zur Arbeit verlassen werden durften, auch Briefe waren verboten.
Nahe der Grube 29 stecken noch einige Blechkreuze mit verschlüsselten Nummern in der Erde. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat auf diesem Friedhof ein Denkmal aufgestellt.
Der Tod kam in Workuta schnell: Hunger, Erschöpfung, Krankheit (fast alle Gefangenen hatten Skorbut, viele Ruhr, Erfrierungen, Tuberkulose, Typhus), Prügel, ein selbstmörderischer Sprung an den Lagerzaun, eine Kugel brachten das Ende. Um sicher zu sein, daß einer sich nicht nur totstellte, zertrümmerten die Wachen regelmäßig jedem Leichnam noch den Schädel oder trieben eine angespitzte Eisenstange in die Brust, dann raubten sie Kleider und Goldzähne.
1938 sollen Gefangene in Workuta auch durch Gas umgebracht worden sein - vielleicht ein Gerücht, da sich in vielen Stollen Methangas entwickelte. "Für Gaskammern hatten wir kein Gas", schrieb Gulag-Kenner Alexander Solschenizyn. Auch ein Krematorium fehlte, so konnten die Esten nach der Lostrennung von der UdSSR ihre verscharrten Landsleute wieder ausgraben und in die Heimat überführen.
Die mörderische Richtschnur, die Essensrationen an die Sollerfüllung zu koppeln, hatte der Ingenieur Naftalij Frenkel erfunden, als Häftling auf den SolowezkiInseln. Mit diesem Verbesserungsvorschlag stieg er zum Lagerfunktionär auf, empfahl Stalin die ökonomische Nutzung der Haftlager als Produktionsfaktor und wurde einer der Gulag-Chefs. Seine Losung lautete: "Aus dem Häftling müssen wir alles in den ersten drei Monaten herausholen - danach brauchen wir ihn nicht mehr."
Über das Resultat beschwerte sich bei seinem Dienstantritt 1943 der Workuta-Lagerkommandant Michail Malzew, er hielt die Sklavenarbeit für unproduktiv: "Nach drei Monaten unter Tage ist der Häftling ein Skelett."
Die Ehefrau des gnädigen Malzew, der die Überlebensbedingungen zu verbessern suchte und ein Gefangenen-Theater in Workuta einrichtete, war die Bezirksstaatsanwältin von Workuta. So hatte das Paar alle Macht vor Ort. Erfahren im Bergbau sowie im Umgang mit deutschen Leibeigenen, wurde Malzew nach dem Krieg mit einer Versetzung nach Deutschland belohnt: Er übernahm die Uranbergbau-AG Wismut mit 46 000 Arbeitskräften samt dem Techniker Kirche, der bald darauf den entgegengesetzten Weg ging.
In Aue, dessen Erz über die sowjetische Atomrüstung entschied, ließ Malzew aber auch 800 Alte, Kranke, gar Amputierte aus dem Flüchtlingslager Hoyerswerda in die Schächte schicken. Malzew: "Erz, Genossen, wir brauchen Erz und keine Moral."
Das hat sich nun gewendet, auch in der Stadt Workuta steht ein Denkmal für die Opfer der "Repression". Die Marmorplatten tragen spontane Inschriften mit Filzstift: "Ich war 1997 hier", schreibt einer, "mein Vater 1944. Ewiges Angedenken."
Darüber geht neuer Zeitgeist schon hinweg. Ein junger Mann hat seine Telefonnummer hinterlassen, er sucht die Bekanntschaft einer 17jährigen. Vier Mädchen haben festgehalten: "Hier rauchten wir am 17. Juli 1997 zum erstenmal Hasch."
Miroslaw Hentosz, 73, hatte in seiner Jugend andere Probleme. Er wohnt jetzt daheim im polnischen Wolomin, seine Straße heißt immer noch "Allee der Roten Armee". Die Sowjets hatten ihn 1945, als er 21 war, in Lemberg verhaftet, weil er Transportzüge beschädigte, die zur Deportation von Polen bereitstanden. Seine Todesstrafe wurde in 20 Jahre Zuchthaus umgewandelt, er kam in einen der 14 Waggons nach Workuta; der 15. Wagen nahm die Leichen während der Reise auf.
Meist arbeitete Hentosz in einem schrägen Stollen, der 82 Zentimeter hoch war. Er konnte erst 1969 zurück nach Polen. Nun ist er wiedergekommen, ein Denkmal für seine in Workuta ermordeten Landsleute einzuweihen - ein Kreuz aus Beton. Bronze, sagt Hentosz, würde nur gestohlen.
Die bürokratische Hinterlassenschaft des Gulag findet sich im Keller eines Mietshauses in einer Nebenstraße: Dort lagern die Karteikarten und die meisten Personalakten all jener, die unter die gefrorene Erde Workutas gezwungen wurden, zur Arbeit und auch für die Ewigkeit.
Ein Papierbündel gibt unter der Nummer 013234 Auskunft über Kirche, Jahrgang 1929. Darin befindet sich das ärztliche Zeugnis, das Häftlinge in eine von drei Kategorien einteilte: harte körperliche Arbeit, leichte körperliche Arbeit, Arbeitsunfähigkeit. Kirche war kerngesund, Klasse I, und laut Attest sogar geeignet, in besonders stark mit Methangas verseuchten Stollen zu arbeiten. Seine Akte enthält zwei Totenscheine. Nach dem ersten wurde er am 1. August 1953 "getötet", dem zweiten zufolge starb er am 5. August an "Herzversagen".
Da ist ein Vergleich mit Auschwitz zulässig, wo fast alle Totenscheine eine falsche Todesursache angaben. Vorgesetzten Revisoren der Registratur in Workuta sollte offenbar verborgen bleiben, daß Kirche erschossen worden war.
Auch der Vorgang Nummer 054763 birgt eine Urkundenfälschung. Häftling Jürgen Hettwer, Jahrgang 1922, starb laut Attest an "Meningitis". Ein Obduktionsprotokoll liegt dabei, wonach Hettwers Schädel durch Fremdeinwirkung zertrümmert worden war.
Ein Griff in das Archiv fördert die Karteikarte von Joseph Schölmerich zutage: Mitarbeiter der ostzonalen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen, wegen Spionage verurteilt am 9. Dezember 1949, zu entlassen am 9. Dezember 1974. Er kam früher frei, nach Stalins Tod, brachte den ersten Bericht aus Workuta in den Westen und heiratete die schöne Berliner Filmjournalistin Ursula Rumin, die er im Lager kennengelernt hatte*.
Es gibt noch immer drei Arbeitslager mit "besonders hartem Regime" für Schwerkriminelle; manche werden sogar aus Moskau herangeschafft: Mörder, Räuber, verurteilt zu 5 bis 15 Jahren Haft.
Mehrere hundert leben in zwei langgestreckten Betonbaracken mit Sichtblenden, zwei Quadratmeter stehen jedem Mann im Schlafsaal zu. Der jüngste ist 22, der älteste 63 Jahre alt.
Die Aufsicht führt Major Wjatscheslaw Udalow, 39, aus Workuta gebürtig; er hat als Bergarbeiter angefangen. Auch er gilt als gnädiger Lagerkommandant: Wird einer in der Stadt verurteilt, bitten die Angehörigen, ihn bei Udalow büßen zu lassen.
Briefe und Pakete sind erlaubt, Verwandte kommen von fern angereist, um Häftlinge zu besuchen, Ehefrauen werden viermal im Jahr drei Tage lang mit ihrem Mann auch nachts allein gelassen. Jedes Jahr veranstaltet Udalow für die Angehörigen einen Tag der offenen Tür. Seit drei Jah- ren, bilanziert er zufrieden, gab es keinen Fluchtversuch, keinen Totschlag unter den Gefangenen, keine Rebellion.
Alkohol, Rauschgift, Selbstverstümmelung, Vergewaltigung sind denn auch Udalows Sorgen nicht, vielmehr der Mangel an Arbeit. Der nahe Schacht 33 ist aufgelassen, die Möbeltischlerei im Lager hat Aufträge, die nur ein Viertel der Häftlinge beschäftigen. Die aber brauchen Geld, um ihre Unterhaltskosten im Lager abzudecken, wie das Gesetz es befiehlt, und sich Lebensmittel dazuzukaufen.
Die Regierung im fernen Moskau hat das Interesse an Workuta verloren und jegliche Subventionen eingestellt. Ohne Arbeit und ohne Lohnzuschläge möchten auch die freien Bürger von Workuta es nicht mehr auf sich nehmen, in Nacht und Kälte auszuharren. Sie flüchten.
Seit dem Ausklingen der Gorbatschow-Ära vor sechs Jahren sind 30 000 Einwohner fortgezogen. Ganze Häuser stehen leer und verrotten; sind sie aus Holz gebaut, fallen sie einfach um. Die Tundra greift nach der Stadt, über der die Flüche von Millionen Gefangener hängen.
Die meisten Deutschen, die am leichtesten eine andere Heimat fanden, sind weg. Von der Worgaschor-Grube wanderte Schtrenzels bester Ingenieur nach Deutsch-
land aus. Als das Bergwerk neue Ausrü-
* Joseph Scholmer: "Die Toten kehren zurück", 1954; "Arzt in Workuta", dtv-Dokumente, München 1963.
stungen in der Bundesrepublik kaufte, kam er zurück - als deutscher Firmenvertreter.
Wer Verwandte im zentralen Rußland oder in der Ukraine hat oder sich dort eine Wohnung kaufen konnte, will nicht mehr am Polarkreis bleiben. Auch am Schrumpfen der Einwohnerzahl mag es liegen, daß Polizeichef Gladkich einen Rückgang der Verbrechensrate meldet, von 3098 Straftaten 1992 auf 2655 im vorigen Jahr, darunter 68 Mordfälle. In der Komi-Republik ergehen seit Jahren keine Todesurteile mehr.
Die Abwanderung schwächt sich neuerdings freilich wieder ab, weil sich bis zum Nordmeer herumgesprochen hat, daß die Lebensweise im übrigen Rußland auch nicht immer viel besser ist.
Der noch junge Lagerkommandant Udalow aber hat genug, er geht nach seiner baldigen Pensionierung (noch zählen Dienstjahre im Norden doppelt) südwärts. Die Sowchos-Chefin Fadejewa sehnt sich nach warmen Stränden, sie war schon mal auf Zypern im Urlaub. Vizebürgermeister Jurij Masanow erzählt von einer Frau, die statt einer Rente für den tödlichen Grubenunfall ihres Mannes 290 Tonnen Kohle bekam. Er selbst kommt aus Kasachstan und will dorthin zurück.
Die resolute Marlboro-Raucherin Anna Fjodorowa, die sich nur zu gern auf ihre in Bulgarien erworbene Datscha zurückziehen möchte, strahlt dennoch Optimismus aus: Sie leitet die Akademie für Verwaltung und Wirtschaft, die auf drei Etagen eines von deutschen Kriegsgefangenen gezimmerten Holzbaus Jura sowie Management mit Marktforschung und Börsenkunde lehrt, dazu noch ein Fach, das westlicher Betriebswirtschaftslehre fremd ist: "Ethik des Geschäftslebens". Erziehungsziel ist, ein wenig rückwärts gerichtet, der ehrliche Kaufmann.
Fjodorowa will ihren 800 Studenten beweisen, daß man in Workuta leben kann und gerade im Norden qualifizierte Leute gefragt sind. Ihre Hochschule soll mit einer technischen Fakultät für Bergbau zur Universität zusammengelegt werden.
An der Bergakademie leitet Witalij Bek, Sohn des nach Workuta verbannten polnischen Diplomaten Beck (ein Verwandter des berühmten Außenministers), das Rechenzentrum. Das Studium ist für die meisten noch kostenlos, nur jeder zehnte Student entrichtet 1500 Dollar pro Semester: Die Selbstzahler kommen von außerhalb, zumeist aus St. Petersburg.
EDV-Experte Bek will bleiben, Stadtbaumeister Troschin plant eine ganz neue Stadt mit breiten Parks zwischen restaurierten Gebäuden aus sieben Jahrzehnten russischer Baugeschichte und modernsten Denkfabriken: ein Arkadien im Eis.
Auch Grubendirektor Schtrenzel investiert, er setzt auf die hohe Qualität seiner Kohle und sinkende Frachtraten. Hat Workuta doch noch eine Zukunft?
"Der Nordosten, das ist der Schlüssel zur Lösung vieler, angeblich verwickelter russischer Probleme", schrieb Solschenizyn, der Freigelassene des Gulag. Der Boden im Dauerfrost werde "unermeßliche Investitionen an Energie verlangen - aber, solange wir sie nicht verschleudern, bergen ja die Tiefen des Nordostens selbst diese Energiequellen".
Der Nobelpreisträger wußte: "Nur freie Menschen können diese Räume beleben, sie wecken, heilen und bautechnisch ausschmücken." Als Häftling hatte Solschenizyn selbst das Nordlicht gesehen - und die Sonne, die im kurzen Sommer Workutas nach der langen Polarnacht niemals untergeht.
[Grafiktext]
Kartenausriß Rußland - Lage Workuta
[GrafiktextEnde]
[Grafiktext]
Kartenausriß Rußland - Lage Workuta
[GrafiktextEnde]