GEWERKSCHAFTEN „Arbeitslose kaufen keine Autos“
Eindringlich beschwor der sozialdemokratische Parteichef vor den versammelten Gewerkschaftern seine Vision einer neuen Politik: Kein seelenloser Staat der Geschäftemacher sei das Ziel, sondern eine Wirtschaft, die in Zeiten der Globalisierung Arbeitnehmerrechte und Unternehmergeist zusammenführe.
Doch auch die Gewerkschaften, da ließ der Sozialdemokrat keinen Zweifel aufkommen, hätten ihren Beitrag zu leisten: Sie müßten sich "modernisieren oder sterben". Eine Reform des Sozialstaates und flexible Arbeitsmärkte seien unverzichtbar.
Der Mann, der den Gewerkschaftern die Leviten las, heißt Tony Blair, und er hat derzeit in Großbritannien laut Umfragen 93 Prozent der Bürger hinter sich. "Auch wenn manche frösteln", machte der englische Premierminister den Gewerkschaftern auf ihrem Kongreß in Brighton im September Mut, "am Ende ist es wärmer in der realen Welt."
Die Welt, wie Oskar Lafontaine sie sieht, ist eine ganz andere. Auch er will die Gewerkschaften ermutigen - aber eben anders.
Bis teilweise in die Reihen "von Sozialdemokraten und Gewerkschaften", bekannte der SPD-Chef vergangene Woche vor den Baugewerkschaftern in Hamburg, habe sich der Irrglaube gefressen, Modernisierung sei mit dem Abbau von Sozialstaatlichkeit gleichzusetzen. Das Gegenteil sei doch wohl eher der Fall.
Auch in der Lohnpolitik sei eine Wende nötig, um die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, ließ der SPD-Chef wissen. Der Verzicht auf Lohnzuwächse wie in den vergangenen Jahren könne "kein Dauerzustand sein". Ohne wachsende Kaufkraft, das lehre schon "das Einmaleins der Volkswirtschaft", käme die Wirtschaft nicht in Schwung. Das sieht IG-Metall-Chef Klaus Zwickel ganz genauso. Zeitgleich mit dem SPD-Chef verkündete er das "Ende der Bescheidenheit". In den nächsten Tarifrunden, ließ der IG-Metall-Vorsitzende wissen, würden kräftigere Lohnforderungen gestellt.
Sind die Zeiten moderater Lohnerhöhungen nun vorbei? "Haben sich gar SPD und Gewerkschaften zu einem Kartell gegen die Erneuerung der Republik verschworen?" fragte entsetzt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Den Gewerkschaften steht jedenfalls ein neuer Richtungsstreit bevor. Mühsam haben sie sich in den vergangenen Jahren den neuen Realitäten gestellt. Sie haben sich bei den Löhnen zurückgehalten und den Betrieben weit mehr Flexibilität eingeräumt, als es in der Vergangenheit üblich war.
Daß es einen Zusammenhang zwischen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, hohen Arbeitskosten und hoher Arbeitslosigkeit gibt, wird im Gewerkschaftslager kaum mehr bestritten. Ihre moderate Tarifpolitik führte dazu, daß die Reallöhne seit 1990 sogar gesunken sind (siehe Grafik). Die Lohnquote am Volkseinkommen liegt auf dem Stand der späten sechziger Jahre.
Daß der Tarifvertrag alles - und für alle Betriebe gleich - regelt, ist längst Vergangenheit, auch hier gaben die Gewerkschaften dem Druck nach.
Eine Studie des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts zählt seitenlang auf, was inzwischen alles möglich ist: In der Chemieindustrie dürfen Unternehmen und Betriebsräte im Rahmen eines Korridors direkt über den Tariflohn verhandeln; gegen Beschäftigungsgarantien kann der Lohn bis zu zehn Prozent gesenkt werden. Textilunternehmen können in Notlagen auf Lohnerhöhungen verzichten. In der Metallindustrie gibt es kaum noch Arbeitszeitmodelle, die nicht denkbar wären.
Die neue Flexibilität zahlte sich für die Volkswirtschaft aus. Viele Betriebe und ganze Branchen, etwa die Automobil- und die Chemieindustrie, sind wieder wettbewerbsfähig, die Exporte steigen, und langsam erholt sich auch die Konjunktur.
So sehen es die Ökonomen, viele Gewerkschafter sehen es ganz anders.
Da haben sie sich nun seit Jahren verhalten, wie es das ökonomische Lehrbuch vorschreibt. Ihr Lohn stieg - wenn überhaupt - nur moderat, doch die Früchte der Bescheidenheit ernten andere. Die Gewinne explodieren, die Aktienkurse steigen - und doch erreicht die Arbeitslosenzahl Monat für Monat eine neue Rekordmarke. Neue Jobs sind Fehlanzeige, Beschäftigungssicherung in den Betrieben gilt als Erfolg.
Von der Politik fühlen sich viele Gewerkschafter betrogen. Beim Gewerkschaftstag der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in Hannover empfingen einige Bundeskanzler Helmut Kohl mit Pfiffen. Ohne Not hatte er das Bündnis für Arbeit aufgekündigt, das Versprechen einer Steuerreform mit Entlastungen für alle entpuppte sich als Seifenblase. Ihre schmalen Einkommenszuwächse werden von schneller steigenden Lohnnebenkosten aufgefressen.
An der Basis grummelt es vernehmlich. Bei seinen vielen Reisen durch die Organisation habe er festgestellt, so IG-Metall-Chef Zwickel, daß "die Mitglieder endlich mehr Lohn sehen wollen". Der Wunsch ist verständlich und problematisch zugleich. Denn die hohen Gewinne vor allem der exportorientierten Konzerne verbergen, daß viele mittelständische Betriebe ums Überleben kämpfen. Für sie sind hohe Löhne vor allem hohe Kosten, möglicherweise zu hohe.
Noch sehen Gewerkschafter wie der nordrhein-westfälische Metall-Bezirkschef Harald Schartau allerdings auch den "Wunsch nach Beschäftigungssicherung" bei den Mitgliedern. DGB-Chef Dieter Schulte fordert beschäftigungspolitische Signale von den Arbeitgebern, um eine "harte Lohnrunde vermeiden zu können".
Denn traditionelle Lohnkämpfe können sich beide Seiten nicht leisten: Zwar würden sie möglicherweise einen Teil der Basis wieder enger an die Organisation binden - aber sie würden die Basis auch weiter schmälern.
Zu einer modernen Tarifpolitik, die sich an den Bedürfnissen der Betriebe orientiert, gibt es deshalb keine Alternative. Das sehen nicht nur die Reformer in den Gewerkschaften so, darüber herrscht inzwischen auch in der öffentlichen Meinung weitgehend Konsens: Lafontaine und Zwickel erhalten kaum Unterstützung.
"Tarifpolitik leichtgemacht", spottete die gewerkschaftsfreundliche FRANKFURTER RUNDSCHAU über Zwickels Populismus. Und auch die linke TAZ kritisierte den Zwickel-Lafontaine-Vorstoß als Beispiel einer "klassischen Klientelpolitik, die nur einer Minderheit von Edelproletariern zugute käme".
In den eigenen Reihen blieb der Vorschlag seltsam echolos. Kaum ein Genosse sprang dem Chef unterstützend zur Seite. Gerhard Schröder, durchaus an einer Verbesserung seines Verhältnisses zu den Gewerkschaften interessiert, verkniff sich vorerst jeden Kommentar. Statt dessen empfahl SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping jedem und ganz im allgemeinen, sich nicht zu sehr auf eine Gewerkschaftslinie festzulegen.
IG-Metall-Chef Zwickel ging es mit den Seinen keinen Deut besser. Mit seinem Solo verprellte er seine Kollegen und sorgt für Zoff im Gewerkschaftslager.
Den anderen Gewerkschaftsführern gehen die eigenwilligen - und unabgestimmten - Vorstöße des IG-Metall-Chefs ohnehin auf die Nerven. So war es schon, als Zwickel im April mit seinem Vorschlag zur 32-Stunden-Woche vorpreschte - und dabei auch bei Lafontaine Unterstützung fand -, und so war es jetzt wieder.
Eigentlich wollte IG-Chemie-Chef Hubertus Schmoldt in der vergangenen Woche medienwirksam den Zusammenschluß der Chemie-, Bergbau- und Ledergewerkschaft zur neugegründeten IG BCE feiern. In Hamburg mußte sein IG-Bau-Kollege Klaus Wiesehügel die überfälligen Reformen der Baugewerkschaft gegen den Willen von Funktionären durchpauken. Und ÖTV-Chef Herbert Mai hatte gar den Auftakt zu den schwierigen Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst.
Doch Zwickel beherrschte die Medienbühne wie ein Schattenmann - selten zu sehen, doch allzeit präsent. Immer wieder wurden seine Kollegen mit der gleichen Frage traktiert: Was halten Sie von dem Vorstoß des IG-Metall-Vorsitzenden?
Herzlich wenig. Die IG BCE, versicherte Schmoldt seinen Delegierten, bliebe bei ihrer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik: "Wenn mehr Menschen Arbeit finden, so ist dies doch der beste Beitrag zur Steigerung der Kaufkraft." Zwar stimme, daß Autos keine Autos kaufen, konterte Schmoldt, "aber Arbeitslose kaufen auch keine Autos". Auch Bau-Chef Wiesehügel möchte angesichts des Zusammenhangs zwischen Lohnhöhe und Arbeitsplätzen Zwickel nicht folgen. "Für mich geht Arbeitsplatzsicherung vor Lohnzuwachs", gibt er unumwunden zu.
Gerade in der Baubranche zeigt sich exemplarisch, was es für die Arbeitnehmerorganisationen bedeutet, wenn mit der Tarifpolitik der Wirklichkeit der globalisierten Wirtschaft nicht mehr beizukommen ist: Im Bauhauptgewerbe schafft die IG Bau noch einen Organisationsgrad von 35 Prozent. Bei Malern, Lackierern oder Fliesenlegern sind es 2 bis 8 Prozent. Mitglieder aus den wichtiger werdenden Bereichen wie Gebäudemanagement oder Architekturbüros kann der Vorsitzende per Handschlag begrüßen.
Monat für Monat verliert die IG Bau 3000 Mitglieder. Tariflöhne gibt es in der Branche - ob Ost oder West - meist nur auf dem Papier, selbst Arbeit unter Mindestlohn ist längst keine Ausnahme mehr. "Der Tarifvertrag", räumt Wiesehügel ein, "hat in weiten Teilen seine ordnungs- und wettbewerbspolitische Funktion verloren."
Angesichts der fatalen Lage muß dem Gewerkschaftschef die Forderung nach dem Ende der Bescheidenheit wie Hohn vorkommen. "Wir waren nicht bescheiden, sondern haben das Bestmögliche unter den Bedingungen rausgeholt", erklärt Wiesehügel trotzig.
Der Riß zwischen Aufbruch zu neuen Ufern oder Rückkehr zu alten Rezepten verläuft jedoch nicht nur zwischen den Gewerkschaften, er geht auch mitten durch die Organisationen, ihre Bezirke - und die Spitze der IG Metall.
Während Zwickel vor allem die Traditionalisten bedient, steht Walter Riester für die Reformer. Als Zwickel die 32-Stunden-Woche für alle propagierte, hatte sein Vize Riester nur einen Tag vorher verkündet, er sei für Arbeitszeitverkürzung, aber wolle nicht "die dogmatische Debatte der achtziger Jahre".
Eine Abstimmung vermieden beide Seiten, jetzt wurde das strittige Thema erst mal auf Eis gelegt: Beim Tarifabschluß zur Altersteilzeit in Baden-Württemberg verlängerten die Tarifparteien den Manteltarifvertrag, der auch die Arbeitszeit regelt, bis zum Jahr 2000.
Da die Frage der Arbeitszeit nun verschoben sei, meint Zwickel, seien andere Themen dran - zum Beispiel das Ende der Bescheidenheit.
Taktische Überlegungen bei seinem neuerlichen Vorstoß weist Zwickel weit von sich. Doch es ist schon bemerkenswert, daß sich der IG-Metall-Chef ausgerechnet zu einem Zeitpunkt zu Wort meldet, da das gesamte Arbeitnehmerlager vor einer grundlegenden Neuordnung steht.
Hilflos mußten die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren zusehen, wie die Zahl ihrer Mitglieder schwand. Geldsorgen plagen alle DGB-Gewerkschaften. Doch in den neuen Wachstumsbranchen können sie nicht Fuß fassen. Zu traditionell und unbeweglich kommen sie den neuen Aufsteigern daher.
Um zu überleben, wollen sich nun immer mehr Gewerkschaften zusammenschließen - so wächst zusammen, was nicht immer zusammengehört. Am vergangenen Sonnabend änderte die IG Metall ihre Satzung, um die Textil- und die Kunststoff-Gewerkschaft unter ihrem Dach aufnehmen zu können. Doch wirkliche Konturen, die eine sinnvolle Antwort auf die fließenden Branchengrenzen und die sich wandelnden Wirtschafsstrukturen wären, sind bei den vielen Fusionen und Kooperationen nicht zu erkennen.
Für die Gewerkschaftschefs geht es nur darum, möglichst viele Mitglieder einzusammeln, um den eigenen Einfluß zu mehren. Das Machtgefüge innerhalb des DGB war schon immer fragil: Ohne die IG Metall läuft nichts. Daran soll sich nach dem Willen der Metaller auch in Zukunft nichts ändern, im Gegenteil.
"Nichts ist schädlicher für die Konstruktion des DGB als die Dominanz einer Organisation", meint dagegen IG-Chemie-Chef Schmoldt. Als Zwickel vergangene Woche wieder zuschlug, entfuhr es einem anderen Gewerkschaftsboß: "Es geht auf Dauer nicht gut, wenn eine Gewerkschaft die Richtlinien des DGB bestimmen will."
Doch genau das machte Klaus Zwickel. Denn mit seinem öffentlichen Vorpreschen setzt er vor allem die Kollegen unter Druck: Die IG Metall selbst kann erst wieder im Frühjahr 1999 über höhere Löhne verhandeln.
[Grafiktext]
Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland
[GrafiktextEnde]
[Grafiktext]
Wirtschaftsentwicklung in Westdeutschland
[GrafiktextEnde]